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XXIV.
Ein schwieriger Übergang

Von den Hieben und Schlägen, Püffen und Stößen, die Yatsumas Kopf aushalten mußte, war dessen Zustand noch nicht besser geworden.

»Nur nicht träumen, gefühlsduseln und phantasieren,« sagte er, »dazu ist heute keine Zeit. Das macht schlapp und lügnerisch. Es ist freilich die unbeschwerlichste und ungefährlichste Art, zu reisen und zu leben! Sehr bequem allerdings: man braucht dabei keinen Fuß vor die Türe zu setzen, wird nicht müde und nicht naß und bleibt wohlbehütet von Gefahren, Unfällen und Anfechtungen!«

Mit diesen Worten überschritt er die weltbekannte Hängebrücke über den East-River zwischen New York und Brooklyn, nämlich eine kleine Holzbrücke über den Kanal neben der Landstraße zwischen Schleißheim und Dachau, nicht weit von Schwabing. Man geht zu Fuß nicht ganz zwei Stunden, aber der Ausflügler fährt natürlich mit Auto und Motorrad hinaus. Auf der andern Seite des Kanals liegt ein kleines verwildertes Gehölz von Birken und Buchen, Haselnußsträuchern und jungen Tannen, Schilfgras und Heideblumen, eine grünende Oase in dem flachen Moorgelände, die ein kleiner Bach durchrieselt. Als er an den Bach kam, bemerkte Yatsuma spielende Knaben, die sich unter erheblichem Geschrei damit vergnügten, einen alten, nicht mehr ganz dichten Kahn flottzumachen, den wahrscheinlich Arbeiter versteckt hatten, wenn er nicht irgendeinem verschollenen Sonntagsfischer gehörte. Er hatte die Kinder kaum erblickt, als er auch schon wußte, daß es sich um australische Wilde handelte, die einen gewaltigen Strom überschiffen wollten. Womit die Landschaft ausgezeichnet übereinstimmte: das idyllisch verwachsene Miniaturtal, welches der Bach durchgurgelte, das schlammige, von Büffeln und Moschusochsen, das heißt von den Knaben, zertretene Erdreich, die Binsenwälder und Altwasserpfützen, über denen Wolken von Stechmücken und giftigen Insekten schwebten. Zwischen dem Schilfgras sah er, denn die Buben hatten entweder ihre Badehosen oder gar nichts an, die nackten Wilden huschen, deren Rücken, ohne Zweifel mit Kokosöl eingeschmiert, schimmerten wie polierte Bronze, während die blitzenden Schilfhalme auseinanderwichen und über ihren buschigen Haarschöpfen wieder zusammenschlugen.

»Guten Nachtmorgen, ihr Eingeborenen!« sagte er. »Erlaubt, daß ich an dem Flußübergang teilnehme!« Er legte gleich mit Hand an und schob und zerrte an dem morschen Boot, bis es im Wasser war. »Ich habe den Übergang in die Wildnis, dem Eldorado der Betrachtung und Sammlung, lange verzögern müssen. Nicht zur Ruhe suche ich sie auf, sondern zur Steigerung meiner Kräfte. Ich habe riesige Strecken zurückgelegt, ungeheuerliche Erlebnisse gehabt und die Menschheit um ein erhebliches Stück vorwärtsgebracht. Sie hat große Fortschritte gemacht, seit ich ihr ins Gewissen rede. Aber darf ich deshalb rasten und ruhen? Im Gegenteil! Die Aufgabe wächst mit dem Erfolg und erfordert immer größere Anstrengungen!«

Er bestieg mit den Buben das Kanu, das, mit Ästen und Stangen vom Ufer fortgestemmt, obwohl das Wasser durch Ritzen und Löcher hereinsprudelte, unter dem Jubelgeheul der Kinder langsam auf dem Bach dahintrieb. Yatsuma gefiel die stundenlange Fahrt (sie dauerte nur wenige Minuten) ungemein. Er ließ seine Blicke über den Strom hinschweifen, der aufgewühlt, schmutzig und träge wie ein unmerklich fließender See dahinglitt, und betrachtete aufmerksam zwei schwimmende Inseln: Grasbüschel, von den Knaben ins Wasser geworfen, die zitternd zusammenstießen, mit Wurzeln und Zweigen sich verhängten, im Kreise drehten und stillhielten. Bei einem umgestülpten Wurzelstock schoß das Wasser gurgelnd in die unheimliche Tiefe. Bald blieb das Kanu hängen, dann rumpelte es wieder ein halbes Meter weiter, unter überhängenden Zweigen, schattigen Blattlauben, Schlingpflanzengirlanden, Mangobäumen und ragenden Palmen vorbei ans andere Ufer. Wenn irgendwo etwas aus dem Wasser schaute, ein Ast oder ein alter Stiefel, dann waren es selbstverständlich Korallenriffe, Riesenschlangen und Alligatoren. Yatsuma glaubte das andere Ufer schon gewonnen zu haben, das wassergefüllte Boot wurde aber von den hinauskletternden Knaben halb umgekippt, er verlor das Gleichgewicht und schlug um wie ein vom Sturm geknickter Mastbaum. Das war nun weiter kein Unglück, doch hätte noch eines daraus werden können: er war mit einem Fuß durch den brüchigen Boden getreten, und nun zog ihn der alte Kübel wie eine gesunkene Boje oder Wasserfußangel auf den Grund des Baches, wo er, jämmerlich zappelnd, bedeutend mehr Wasser schluckte, als ihm nach seinen Lebensgrundsätzen zu trinken erlaubt war. Zum Glück löste sich der Fuß von selbst aus der Schlinge, denn die Buben waren davongelaufen, kamen aber wieder zurück, als sie ihren lustigen Fahrgast wie einen getauften Pudel aus dem Wasser krabbeln sahen. Sie umringten ihn und lachten ihn aus. Keiner fragte ihn, ob er sich weh getan. Yatsuma hätte es auch verneint; er war mit einem blauen Hühnerauge sozusagen, mit Verlust eines halben Quadratmeters abgeschürfter Haut und einer Fußverstauchung glimpflich davongekommen.

Um den wilden Männern für die Überfahrt zu danken, besann er sich auf einige wohlgeprägte, höfliche Worte. Es fing zu regnen an, in weniger als einer Minute goß es aus allen Schleusen und Kübeln des bayerischen Himmels, der, vielleicht von dem starken Bierdunst, der über München lagert, allzeit feucht ist, und die Knaben, die nicht wußten, daß die Vorstellung noch nicht ganz zu Ende war, zogen sich an und liefen heim. Das genierte aber Yatsuma wenig.

»Liebe Reisegenossen, Urjäger und Argonauten Polynesiens,« sagte er, »welche man euch Wilde nennt, weil ihr eine andere Hautfarbe habt und früher andere Lebensgewohnheiten gehabt habt als die Weißen, die sehr hoch zivilisiert sind, leider allzu hoch – hier möchte ich übrigens einen Gedanken einschalten, der mir nebenbei einfällt: die Bezeichnung Wilde ist eigentlich eine Blasphemie. Man hat euch weder gefragt, ob ihr mit ihr einverstanden seid, noch sich selbst die Gewissensfrage vorgelegt, ob nicht der weißhäutige Mensch unter Umständen wilder ist als der rote, braune, schwarze und gelbe. Auch hat niemand untersucht, welche Bezeichnung die Weißen bei euch haben, und ob die nicht vielleicht noch weniger schmeichelhaft ist. Ich will euch darum lieber als den allgemeinen einen besonderen Namen geben und nenne euch Brüder! So kann man ohne Gefahr des Irrtums jeden Menschen, den man auf der Erdkugel findet, nennen, und wenn seine Haut auch alle Farben des Regenbogens hätte, weil man ja nie ganz sicher ist, ob man innerlich nicht noch buntscheckiger aussieht. Liebe Brüder also sage ich, ich danke euch, daß ihr mir euer Fahrzeug zur Verfügung gestellt und mich vom Tode des Ertrinkens gerettet habt, als das zerbrechliche Kanu in den gefährlichen Sambesistromschnellen zugrunde ging. Ich meinerseits rette die Menschheit von viel gefährlicheren Untergängen und ich sage Sambesi, um anzudeuten, daß mir die Namen der Länder unwichtig sind im Vergleich zu meiner Aufgabe. Ich könnte ebensogut Omatako oder Kubango sagen, Kongo oder Ubangi, das kommt auf eins heraus, alle Ströme bestehen aus Wasser, der Buchtarma im Altai so gut wie der Murrayfluß und wie der eisige Jenissei in Sibirien; der Magdalenenstrom in Columbia ist genau so naß wie der Mackenzie in Kanada, und der Parana in Brasilien mit dem Iguassu, der den Viktoriafall bildet, läuft so wenig bergaufwärts wie der Waikota mit seinen heißen Quellen auf Neuseeland.«

Es regnete unbarmherzig stark, wie das bei uns in Oberbayern der Brauch ist, aber nasser als er schon war, konnte Yatsuma nicht werden, also schwefelte er, sonst hatte er Gott sei Dank auch nichts zu tun, vergnügt noch ein bißchen weiter.

»Da nun die Regenzeit beginnt, rate ich, den Aufenthalt in der Nähe des Stromes abzukürzen, um den gefährlichen Fluten zu entgehen, welche sich nilartig als grenzenloser See in die Wildnis ergießen werden. Ich habe sechs oder sieben Jahre nicht geschlafen, werde die Nacht in der Flußniederung verbringen und mit Tagesanbruch meinen Weg fortsetzen. Ihr könnt derweil das Lager herrichten, Feuer machen und kochen, einen kreisrunden Platz aus dem Dickicht schlagen, in der Mitte Reisig aufwerfen, damit das Lagerfeuer die Menschenaffen und Tiger abschreckt. Ist das geschehen, dann legt euch, Bogen und Speer an der Seite, in die Hängematten oder auf den Boden, der, ein Geflecht von Moos und Zweigen, genau so federt und schwankt. Einen Wachtposten könnt ihr euch sparen, denn ich werde nicht schlafen, noch essen und trinken. Bequemlichkeiten sind nur Hindernisse. Sie füllen zwar das Leben der meisten Menschen, Droschkenkutscher und Billardspieler von unten bis oben an, können es aber nicht im geringsten ausfüllen.«

Mit diesen Worten setzte sich Yatsuma nieder, wenn man so sagen kann, denn er sank um wie ein Sterbender, und versuchte mit ungeheurer Willensanstrengung den Oberkörper aufrecht und die Augen offen zu halten. Trotzdem hinderte ihn nicht seine Willenskraft am Einschlafen (um die nächsten sechsunddreißig Stunden nicht mehr zu sich zu kommen), sondern der unaufhörliche, unverschämte oberbayrische Regen, dem mit dem besten Willen nicht beizukommen ist. Nach einer Viertelstunde stand er auf und das war nicht das Dümmste, was er tun konnte. Die Regengüsse, die unter seinen Spindelbeinen durchschossen wie ein angeschwollener Fluß unter Brückenbogen, hätten ihn in den Bach hineingeschwemmt, wenn er nicht vorher im Wolkenbruch ertrunken wäre. Und da er glaubte und fest überzeugt war, daß er die ganze Nacht geruht habe und der Tag angebrochen sei, so nahm ihm diese Meinung tatsächlich einen Teil der grauenhaften Müdigkeit weg wie nichts. Denn auf die Überzeugung kommt es an und nicht aus die dummen Tatsachen. Nur wer überzeugt ist, daß er schlafen kann, kann sich ruhig niederlegen.


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