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V.
Die kleinen Antillen

Auf dem Weg durch die Feilitzschstraße, den er wieder eingeschlagen, blieb Yatsuma da und dort stehen und betrachtete, der doch in diesem Viertel geboren und aufgewachsen war, dieses oder jenes ihm gutbekannte Haus mit solcher Aufmerksamkeit, als gälte es ein nie erblicktes Weltwunder zu bestaunen. Die schreienden Kinder, die ihn begleiteten und deren Schar sich unterwegs ständig vergrößerte, irritierten ihn nicht im mindesten. Er fand es im Gegenteil selbstverständlich, daß sein Erscheinen Aufmerksamkeit erregte. Wie ein Fürst die Huldigungen der Scharen, die seinen Wagen umdrängen, gelassen geschmeichelt einsteckt, so wandte er sich manchmal gerührt an die Kinder und richtete, als ob sie erwachsene Menschen, Apotheker und Angestellte, Handwerker und Hausierer, Beamte, Buchhalter, Professoren und Kegelschieber wären, freundliche Worte des Dankes und dergleichen an sie, die jedesmal mit einem barbarischen Jubelgeheul quittiert wurden.

Dr. Mendone, da er denselben Weg hatte, sah und hörte die Schar von weitem. Er war auf der Post gewesen, einige Briefe, die Quartalsrechnungen für seine Patienten enthaltend, aufzugeben. Seinen Morgenspaziergang hatte er bereits hinter sich, und das Wetter war eigentlich nicht dazu angetan, ihn zu einer Wiederholung zu animieren. Er hatte aber trotzdem nicht übel Lust, dem Sonderling noch ein wenig nachzugehen.

An der Gunezrainerstraße, beim alten Viereckhof, verschwand Yatsuma, die Kinder schienen sich zerstreut zu haben. Anscheinend war er in den Englischen Garten abgebogen.

Unschlüssig stand Mendone an der Straßenecke, fünfzig Schritte von seiner Wohnung entfernt. »Ich will noch einen kleinen Umweg machen!« sagte er. Und richtig, bei der Brücke über den Schwabinger Bach erblickte er seinen Mann wieder. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, schritt er in ruhig wiegendem Rhythmus fast gemächlich zwischen den kahlen Gesträuchen dahin. Als er an eine der Bänke kam, die am Rande des Kleinhesseloher Sees stehen, setzte er sich hin.

Wer einmal in München war, kennt auch den Englischen Garten. Der Kleinhesseloher See ist ein sehr hübsch angelegter Weiher von vielleicht zwei Kilometer Umfang. Zwei oder drei mit alten Bäumen und Ziersträuchern gefällig bepflanzte Inseln und ebenso viele Halbinseln schneiden ihre Trauerweiden und malerischen Baumkulissen schattig spiegelnd in die glitzernde Wasserfläche. An schönen Nachmittagen schallen von dem kleinen Seerestaurant her, das biedermeierlich freundlich aus dem üppigen Grün lugt, die weithinschmetternden Klänge des Militärkonzerts in die besonders Sonntags mächtig bevölkerte Gegend. Burschen, Mädchen und Pärchen vergnügen sich mit einer kleinen Kahnpartie, oder eine ganze Familie, einschließlich des brüllenden Jüngsten, hat sich in ein großes Boot verstaut, das der Familienvater, die Hemdärmel aufgekrempelt, mit wuchtigen Ruderschlägen vorwärts schnellt, von den ängstlichen Zurufen der Gattin gesteuert, damit kein Zusammenstoß erfolgt. Denn es wimmelt von den vollbesetzten, schaukelnden Gondeln, die abenteuerliche Namen tragen, wie Iltis, Seeadler, Walfisch, Möve und Torpedo, soweit sie nicht Emma, Olga und Betty heißen. Harmlosere Gemüter, denen der Rudersport zu mutwillig und gefährlich oder zu kostspielig ist, begnügen sich mit einem oder mehreren Rundgängen auf dem schön gepflegten Uferweg, füttern die Enten und stolzen Schwäne mit mitgebrachten Brotkrumen und sehen dem Treiben zu, behaglich in die Ruhebänke gelehnt, die mit einbrechender Dunkelheit von Liebespaaren beschlagnahmt werden. Aber auch im Winter knallt die Blechmusik von der Seewirtschaft womöglich noch frischer über die spiegelblanke, von Schlittschuhläufern schwarz übersäte Eisfläche. Dort erlebt auch der Schwabinger und mancher brave Münchner Jüngling seine ersten Liebesabenteuer, aufregend genug, wenn er den angebeteten Backfisch zwei Stunden lang umkreist und verfolgt, bis er sich eines Tages herzklopfend ermannt, die Verehrte zu einer gemeinsamen Fahrt zu engagieren und dabei, wenn er seinen kühnsten Bogen vor ihr ausführt, niederstürzt, daß die Eisdecke kracht. Wenn er nicht vorzieht, an einer dünnen Stelle einzubrechen und im abkühlenden Wasser bis zum Hals zu versinken, um auf diese Weise außer dem schadenfrohen Gelächter wenigstens noch einiges Mitleid einzuernten.

An diesem Vormittag aber war die Gegend menschenleer und der See war zugefroren, aber nicht gangbar. Große traurige Regenpfützen beschwerten und zerweichten die eingesunkene Eisfläche, in der sich das schwarze Geäst der Ufer- und Inselgesträuche trübselig spiegelte.

Schon in einiger Entfernung hörte Mendone lautes Sprechen, als ob sich mehrere Personen in lebhafter Unterhaltung befänden. Näher kommend sah er, daß der Mann auf der Bank sich mit sich selbst unterhielt. Und nun waren auch seine Worte genauer zu verstehen.

»Entdecker? Forscher?« hörte Mendone, »welchen bombastischen Ballast von Hilfsmitteln brauchen sie! Schiffe, Maschinen, Dampf, Elektrizität, Schlitten, Flugzeug, Hunde, Pferde, Kamele, Lasttiere, Tragtiere, Karawanen, Zelte, Feldbetten, Proviant, Waffen, Geschirr, Werkzeug, Telegraph, Photograph, Grammophon, Kompaß, Landkarten, Menschen, Tiere und Dinge haben sie sich dienstbar gemacht; Geld und Paß und Regierungsschreiben ebnen ihnen den Weg bis zu den Grenzen der bewohnten Welt! – Weil es anders nicht möglich ist! Und deswegen, weil stets nur das mögliche euer Weg und das unmögliche immer nur euer Hindernis ist, darum ist der Apparat, mit dem diese Kolumbus-Imitatoren und Pseudo-Robinsone in die Wildnis gehen, um der Zivilisation zu entfliehen, so umfangreich, daß von der Wildnis nichts mehr übrigbleibt. Wie aber, wenn ich euch sage, daß ihr weder Flugzeug noch Rasierklingen, daß ihr auch nicht einen Schritt zu gehen, zu fahren und zu fliegen braucht, wenn Wildnis und Unberührtheit in euch liegen, statt außer euch?«

Der Doktor war vor der Bank stehengeblieben, starrte zu Boden und verbiß das Lachen. Manchmal warf er unauffällig einen interessierten Blick auf den sonderbaren Sprecher. Auch Yatsumas Blick lag auf ihm, aber ohne ihn zu sehen. Wie ein in seinem Vortrag unterbrochener Redner einen Gegenstand anblickt, nicht um ihn zu betrachten, sondern um wieder auf seinen Faden zu kommen.

»Hochgeschätzter Herr Minister,« fuhr er fort, »wie man vorwärtskommen kann, ohne sich vom Fleck zu rühren, so muß ein Mensch, dem es mit seiner Aufgabe Ernst ist, auf jedes Hilfsmittel verzichten können. Je mehr er sich seinem erhabenen Zweck hingibt, um so mehr wird er allen menschlichen Bedürfnissen und Gewohnheiten den Rücken kehren. Er wird nicht fahren, nicht reiten, nicht essen, nicht trinken, ruhen, schlafen, sich putzen oder kleiden, mit einem Wort, das alles sagt: er wird ohne Geld leben. Wird alle Vorteile ausschlagen und dafür Unbequemlichkeit und Schwierigkeit eintauschen. In sattem Zustand ist leicht fasten. Wenn man nicht müde ist, ist es kein Kunststück, auf ein Nachtlager zu verzichten. Er wird sich den Weg erschweren, durch Entbehrung sich kräftigen, in Gefahr sich ermutigen, statt eines Weges zwei Umwege machen, mit Frieren sich vor Kälte schützen, mit Schwitzen vor Hitze und mit Mühsal und Plage vor Ermüdung. Er wird keinem Hindernis ausweichen, sondern, wo es zu glatt geht, sich eines aufrichten. So kann ihm nichts mehr geschehen. Nur dem, der über den Unzulänglichkeiten des Daseins schwebt, ist Heiterkeit beschicken!«

Mendone schaute den Mann an, der da, von der Kälte grün und blau gebeizt, alles Ungemach, das ein menschliches Hirn erdenken kann, auf sich herabbeschwor, obwohl er wahrlich aussah, als wäre das, was ihm von Geburt an in die Wiege gelegt worden war, eigentlich reichlich genug. Er fand, daß er das melancholisch langnasige Gesicht eines humoristischen Heiligen habe. Seine Augen waren naiv offen und rührend, trotz oder vielleicht gerade wegen des ekstatischen Feuers, das in ihnen brannte.

»Ich bin mit meinen bisherigen Leistungen und Erfolgen ganz zufrieden«, sagte Yatsuma. »Jenseits des großen Teiches haben meine Reden morgen abend in New York eine starke Wirkung hervorgerufen. Ich wandte mich nach Cuba, war aber im Zweifel, ob ich die Azoren oder die Kapverdischen Inseln vor mir habe. Die Bermuda und Falklandinseln liegen im Norden, der Golf von Mexiko und das Karibische Meer in unserem Rücken, vor uns die Bahamainseln und die kleinen Antillen. Da wir auf Haiti sind, ist die erste Insel im Osten Puerto Rico. Ich möchte gestern nach Guatemala gehen. Der wochenlange Fußmarsch hat mich ein wenig ermüdet; ich pflege die Nächte nicht zu rasten noch zu schlafen und habe die letzten fünf Monate kein Auge zugetan. Darum mag mir eine Minute der Rast erlaubt sein. Oder würden Sie strenger urteilen?«

Der Doktor, der sah, daß es in diesem Kopf einigermaßen chaotisch zuging, antwortete, getreu seinem Prinzip, auf den Kranken zunächst einzugehen, um ihn gesprächig zu machen, daß bei einer so großen Reise eine Ruhepause von einigen Minuten auch gegen die strengsten moralischen Prinzipien nicht verstoße. Er setzte sich auf die Bank neben sein Studienobjekt und bot ihm eine Zigarette an, die unter höflicher Dankesbezeugung abgelehnt wurde. Yatsuma erzählte von merkwürdigen Landschaften, die er passiert habe und nannte so viele Namen und Gegenden, als hätte er ein geographisches Lexikon auswendig gelernt. Dann kam er auf Vegetation und Jahreszeit zu sprechen und meinte, daß das Reisen jetzt im Frühjahr unter dem Gluthimmel der Antillen besonders angenehm und leicht sei, weil die wiedererwachende Natur auch im Menschen alle Säfte erneuere und Körper und Geist mit unerschöpflicher Energie versorge.

Der Doktor dachte, es könne ja möglich sein, daß in Florida oder Yukatan augenblicklich der schönste Frühling sei; er war darüber so genau nicht im Bilde. In München war davon jedenfalls herzlich wenig zu spüren. Der Nebel wurde immer dichter und unheimlicher, eine unangenehm stechende Zugluft blies durch die dünnen, zitternden Sträucher und über die gekräuselten Pfützen auf dem schmutzigen Eis. Es war einer der finsteren, rauhen Tage, die sich mit der ganzen Schwere der niedersackenden Wolkenmassen bedrückend auf Herz und Hirn legen.

Im übrigen bemerkte er, daß die Geistesverwirrung seines unfreiwilligen Patienten, wie das bei derartigen Krankheiten häufig der Fall ist, sich auf deutlich umgrenzte Gebiete beschränkte. Er verwechselte Zeit und Ort und seine Sinne unterlagen merkwürdigen Täuschungen. Eine dürre Winterwiese erschien ihm als Dschungel oder Urwald, eine Pfütze war ein See, Zweige hielt er für Bäume, ein Baum dagegen, wenn es ihm einfiel, für einen Grashalm. Einmal vergrößerten seine Augen, ähnlich wie die der Fliegen, alles hundertfach, ein andermal hielt er Menschen, wie ein Flieger, für Ameisen oder Käfer. Da er im übrigen, wenn man diese Gebiete vermied oder unbeachtet ließ, ein ganz amüsanter Mensch zu sein schien, lenkte der Doktor die Unterhaltung von Zeit zu Zeit auf einen anderen Gegenstand. Yatsuma sprach unter anderem über die unzerstörbare menschliche Seele, die sich immer wieder verjüngt aus dem Schutt aller Zeitwandlung erhebt, über Gewissen und Wahrheit, die unerschöpfliche Kraft des Lebens und noch einige ähnliche Ideen.

Abgesehen hiervon und obgleich Mendone wahrlich nicht mit allem einverstanden war, setzte ihn die ganze Unterhaltung doch einigermaßen in Erstaunen. Er gestand sich, daß er schon manches Unikum unter seinen mildtätigen Händen gehabt, eines von solcher Beschaffenheit aber noch nicht. Wiederholt stand er auf, stapfte hin und her, um sich warm zu machen, und schlug mit den Armen wie ein Hahn mit den Flügeln. Aber jedesmal vergaß er die Kälte, setzte sich, fasziniert von der Zungenfertigkeit seines Partners, wieder hin und steckte eine Zigarette an der anderen an. Stand er dann wieder vor ihm, so war ihm der Anblick des imaginären Weltreisenden auf der Anlagenbank, der in seinem abgeschabten Gehrock, ohne Mantel und Hut inzwischen wahrscheinlich angefroren war, geradezu schrecklich. Wie konnte er dem armen Teufel helfen, wie ihm einen Gefallen tun, eine Erleichterung verschaffen? Der Verachtung, die dieser Mensch dem Geld und allem was aus ihm entspringt (und was entspränge nicht aus ihm?) entgegensetzte, war schwer zu begegnen. Dieser Abscheu, so spaßhaft er war, ihm war es Ernst damit. Diese Verrücktheit, hier war sie Überzeugung. Und so närrisch sie war, wußte er sie auf eine Art vorzutragen, die schon nahezu vernünftig klang.

Von dem Einfall, ihm unauffällig einen Zehnmarkschein in die abstehende obere Gehrocktasche zu schieben, war der Doktor gleich wieder abgekommen.

Wie? dachte er, wie …?

Auf dem Turm der alten Schwabinger Kirche schlug die Uhr. Mendone zog seinen Taschenchronometer, einigermaßen erschrocken: es war zwei Uhr. Eine etwas lange Minute der Rast, welcher sein Cubaner oder Haitianer da gepflogen hatte! Aber auch für ihn, da half alles nichts, war es Zeit, daß er nach Hause kam!

Yatsuma zu fragen, wohin er sich begeben werde, war nutzlos. Er hätte wahrscheinlich geantwortet, nach Patagonien oder Honolulu.

Der Doktor gab ihm die Hand und drückte die seine kräftig.

» Good evening!« sagte Yatsuma, sich steif und förmlich verbeugend.

»Auf Wiedersehen!« sagte Mendone mit Betonung.

Und ging nachdenklich, mit langsamen, später dann allerdings beschleunigten Schritten davon.


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