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XVI.
Arm und reich

Mehrere Wochen waren vergangen. Yatsuma erlebte mancherlei Abenteuer, die alle zu beschreiben nicht der Mühe wert wäre, und hat natürlich bei passender und unpassender Gelegenheit manchmal einen Weisheitsspruch, der einfach nicht mehr zu halten war, von sich gegeben. Im großen und ganzen befand er sich aber unleugbar auf dem Wege der Besserung. Während der ganzen Zeit hatte er auch nicht ein einziges Mal seiner unseligen Redewut gefröhnt. Wenn auch die lange Zurückstauung schließlich einmal zur Explosion führen mußte. Ganz ohne Rückfälle geht keine Genesung ab, und die Rückfälle pflegen bekanntlich sogar besonders gefährlich zu sein. Wenn er schon anfängt: »Um die Sache kurz zu machen«, dann weiß man schon, wieviel es geschlagen hat.

Er stand auf der Straße vor einer breiten Pforte, aus der ein dicker schwarzer, endloser Strom von Menschen, Männern, Frauen und Kindern quoll. Es war, wie wenn ein umgeworfener Ballon Tinte oder ein Kessel heißer Teer ausrinnt. Oder als ob ein tausendfüßiger Wurm aus einer qualmenden Erdspalte kröche. Über den Dächern, Türmen, Gerüsten lag ein leuchtender Feuerschein. Der Wind fuhr aus dem Abgrund herauf, schwarze Rußwolken wirbelten über die kahlen Baumwipfel, die Sonne strahlte herein wie durch ein Fenster, wenn der Staub in der Luft tanzt. Noch immer quollen die endlosen Menschenmassen aus dem Rachen des Fabriktores. Yatsuma wunderte sich nicht über die Erscheinung. Er wußte, das gab es in der ganzen Welt, auf der fernsten Insel. Er betrachtete jeden, aber sie waren alle gleich. Ob dick oder dünn, alt oder jung, hohläugig oder vollwangig, aufrecht oder krumm, stumpf oder froh, sie waren alle schrecklich. Ein sonderbarer Geruch verbreitete sich.

Yatsuma schwankte zwischen Trauer, Mitleid, Grauen und Ohnmacht. Er muß kein sehr geniales Gesicht gemacht haben, denn einige der Arbeiter machten Bemerkungen und lachten über ihn.

Er starrte noch immer geradeaus. Es war still geworden, die Erscheinungen verflogen. Der Pförtner schob das Tor zu und ging in sein rotes Häuschen. Yatsuma war allein. Er betrachtete seinen Schatten, der auf dem Pflaster lag.

»Sie wollen wissen, was ich über arm und reich denke?« fragte er ihn. »Um die Sache kurz zu machen, denn ich werde mir das Reden abgewöhnen, so wahr ich Yatsuma heiße, aber: arm sein ist die beste Bürgschaft, daß es einem nie zu gut gehen wird. Doch nur für den Schwächling ein Mittel, anständig zu bleiben. Die meisten Menschen sind Schwächlinge, ob arm oder reich.

Man muß nicht glauben, die Besitzlosen seien besser als die Besitzenden. Aber manchmal sind sie nicht einmal ärmer.

Es gibt solche, denen es genügt und genügen würde, einen guten und großen Bissen zu essen, einen guten und großen Schluck zu trinken, gut zu sitzen und weich zu liegen. Bei arm und reich.

Bedenkt aber, daß der Arme nur die Not kennt und nicht den Überfluß.

Man möchte glauben, wer alle Kräfte darauf verwendet, es einmal so weit zu bringen, daß er sich jeden Tag sattessen kann, der müßte es auch so weit bringen. Nein. Viele leben so lange in der Sorge, nicht hungern zu müssen, bis sie verhungert sind.

Warum? Es ist die Schuld der Überreichen und der Überarmen.

Nur der Reiche hat immer Sorgen. Unter den Armen sind einzelne, die sich keine machen. Sie haben nichts, aber sie haben auch keine Sorgen über das Nichts.

Wenige gelangen vom Nichts zu Etwas. Noch weniger zum Viel.

Der Arme ist ein Loch ohne Boden. Was du oben hineinwirfst, fällt unten heraus.

Der Reiche ist ein Meer. Alle Flüsse strömen in ihm zusammen, nie kann es leer werden.

Schön ist das Almosengeben, für den Geber. Der Empfänger wird noch ärmer, wenn er empfängt, der Geber noch reicher, indem er gibt.

Der Reiche muß geizen, um reich zu bleiben. Der Verschwender bleibt immer arm.

Der Arme kann sich reich machen und der Reiche sich arm. Kein Reicher macht einen Armen reich. Aber die Allzuarmen sind der Tod der Allzureichen!

Der Arme ist nachlässig, müde und abgestumpft. Der Reiche kämpft ununterbrochen: sein Reichtum ist der unsichtbare Kampf. Er mehrt ihn und bleibt doch der Wohltäter. Er ist etwas, weil er etwas hat – und ihr seid nichts, weil ihr nichts habt. Wenn der Arme um Brot schreit, wird er zum Verbrecher.

Arme muß es immer geben, aber ärmer als arm? Reiche werden immer sein, aber reicher als reich? Den Bemittelten stehen die Mittel näher, als sie sich selbst – Nehmt euch in acht! Hier zittert der Boden, die Welt wankt!

Euch Armen sage ich: ihr habt nicht die Pflicht, reich zu werden, aber die, eure Menschenwürde zu erkämpfen! Hütet euch vor der Profitjagd der Geldriesen, der Händler mit Erz und Blut, und hütet euch ebenso vor der Erniedrigung des hündischen Elends! Der hungernde Mensch steht unter dem Hund. Seid wachsam und tapfer! Weicht keinen Schritt zurück, nehmt euch, was ihr braucht!

Stillstand ist Tod, der Besitz muß wechseln!

Euch Reichen sage ich: was ihr nicht willig hergebt, wird euch genommen werden! Der Gedanke verdienen ist der einzige, der euch regiert. Ihm habt ihr alle Macht über euch erlaubt, alles geopfert: Tag und Nacht, Zeit und Kraft, Herz und Nerven. Euer Hirn ist der demütige Sklave dieser einzigen tyrannischen Idee, eure Handlungsfreiheit habt ihr dem Handel geopfert, euer Denken den Ziffern, euern Charakter dem Geld verschrieben. Seid nicht kleinlich! Rettet eure Seelen! Was kümmert euch, ob der Bettler ein Lump ist oder ehrlich – darin, daß er verlangt, was er braucht, lügt er nicht. Mit einem armen Kerl kann man kein Geschäft machen. Profit aus ihm zu schlagen, Geliehenes mit Zinsen von ihm zurückverlangen ist menschenunwürdig.

Reichtum soll Größe sein? Ach Gott, ich lache. Nicht, daß ihr etwas habt, ist euer Fehler, sondern daß ihr nichts seid! Wo ist einer, der mehr ist als er hat? Da ihr in eurem Wesen nichts habt, paßt es schlecht dazu, daß ihr außerhalb des Wesens etwas habt. Schwerer als nichts zu haben und doch etwas zu sein, ist etwas zu haben und doch etwas zu sein. Ihr seid wie die Leiche im Sarg: festlich gekleidet und mit Schmuck behängt –«

Während sich Yatsuma so mit seinem Schatten unterhielt, fuhr ein Automobil an, dem ein stattlich und direktorartig aussehender Herr entstieg. Er beachtete Yatsuma, wie er mit den Händen fuchtelte, hin und her ging und horchte eine ganze Weile zu. Dann ging er zu ihm hin.

»Mit wem sprechen Sie eigentlich?« fragte er, während er von einer dicken Zigarre, die er aus dem Etui gezogen, mit einer kleinen vergoldeten Schere die Spitze abschnitt.

Yatsuma starrt ihn an, wie aus der Narkose erwacht. Sein Schatten verblich, die Sonne war erloschen wie ein schadhaftes Gasglühlicht.

»Mit wem? – Es ist wahr, die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Ich muß gestehen, je länger ich darüber nachdenke, um so weniger – Übrigens haben Sie mich darauf aufmerksam gemacht, daß ich keine Reden mehr halten will. Es ist die letzte gewesen!«

»Das wird auch Ihr Glück sein!« sagte der Herr.

»Mein Glück? Aber woher wissen Sie das –?« fragte er.

Aber der Herr war schon im Direktionsgebäude verschwunden.

In Wirklichkeit ist die Rede über arm und reich natürlich viel länger gewesen. Sie hat mit allen Verzierungen und Abschweifen, die ich weggelassen habe, annähernd zwei Stunden gedauert, ist also ungemein kurz gewesen, noch dazu, da sie seine letzte war. Die Parlamentsdebatten, bei denen auch nichts herauskommt, gehen das ganze Jahr so fort, und dabei gibt es Menschen, die sie sogar noch lesen.

Aber Yatsuma war noch lange nicht fertig. Als der Herr in dem Hause verschwunden war, fing er wieder von vorne an. Jetzt fielen ihm nämlich erst die wichtigsten Gedanken ein.

Es wurde Nacht, die Menschen aßen zu Abend, lasen ihre Zeitung und gingen schlafen.

Am anderen Morgen stand Yatsuma noch da und redete. Er hätte auch ein ganzes Jahr lang so reden können, zehn Jahre, hundert Jahre lang, was hätte es wohl geändert? Nichts, gar nichts.

Er aber glaubte, er habe nun, und besonders nach dieser seiner letzten Rede, die Menschheit mindestens um die Entwicklung von fünfhundert Jahren vorwärtsgebracht.

Gewiß, es ging ihm manchmal schlecht. Aber er war doch ein beneidenswert glücklicher Mensch.


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