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XXVI.
Antilopen, Gazellen und Riesenameisen

Hätte der Doktor eine Ahnung gehabt, daß sich Yatsuma, wenn auch nicht am gleichen, wohl aber bereits am nächsten Tag in seiner unmittelbarsten Nähe befand, er wäre wahrscheinlich in dieser Zeit nicht mit seiner gewöhnlichen Gemütsruhe schlafen gegangen.

Etwa hundert Meter nördlich von seiner Wohnung erklimmt die schmale Straße an der spitzturmigen Altschwabinger Kirche vorbei, eine kleine Anhöhe, das Baronbergl. So genannt, weil oben, an der Ecke der Marschallstraße hinter einer abgebröckelten Gartenmauer ein altes Häuschen oder, wenn man will, Schlößchen steht, das einmal einem Oberhofmarschall gehört hat. Es hat den Besitzer neuerdings wieder gewechselt und ist ein wenig umfrisiert worden, damit es neben den neueren Bauten nicht allzuwindig abschneidet. Den Rand der ansteigenden Straße und die Ufer des Forellenbachls unten in der Wiese, das nur so heißt und außerdem ausgetrocknet ist, verzierten vor noch nicht vielen Jahren in altmodischer Weise eine Reihe krumm ausgehöhlter Weiden, in denen die Kinder Schildwache spielten. Auch Yatsuma war als Schuljunge auf ihnen herumgeturnt. Aber die Neuzeit kann die dämlichen alten Bäume nicht ausstehen. Damals war die Gegend recht hübsch und weltverloren. Mir wenigstens hat sie besser gefallen, als das Schlößchen noch ungepflegt und verfallen und die alten Weiden noch da waren. Für Yatsuma freilich, der etwas mehr Phantasie hat als unsereiner, waren solche Kleinigkeiten sehr unerheblich. Er hielt die Gohrenwiese auch ohne die Weiden für das Hochtal des Indus.

Es war trübes Wetter. In der dunstigen Luft hing ein sonderbar schwefelgelber Schimmer, der ihm, als er das ausgetrocknete Bachbett durchschritt, von einem Regenwassertümpel zurückgestrahlt, schmerzend in die Augen stach. Und die tibetanische Hitze, die nach seinem Eindruck herrschte, denn es war in Wirklichkeit recht unfreundlich frisch, war aber so unbarmherzig, daß ihm der Boden unter den Füßen brannte. Er ging ja auch seit dem März schon ohne Schuhe. Desungeachtet erhellte sein Blick ein ekstatisch zufriedenes Leuchten. Er fühlte sich glücklich, wie ein Mann, der, auf der Höhe des Lebens stehend, seine jahrelang angestrebten Wünsche und Pläne verwirklicht und sich durch die errungenen Resultate für alle Ausdauer und manche Verzweiflung reich entschädigt sieht. Dieses Glücksgefühl (das ich mir auch wünschen möchte) war so mächtig und erhaben, daß sehr zu bezweifeln ist, ob er auch nur halb so zufrieden gewesen wäre, hätte er sich wirklich auf einer Reise in Kaschmir, Tibet oder Nepal befunden.

Als er die Skrubsteppe, will sagen die Wiese, durchschritt, die von den Kindern zertreten und von der vergangenen Hundstagshitze etwas ausgedörrt war, drängte es ihn, seinem inneren Hochgefühl einen ebenbürtigen Standpunkt zu bieten und sich auch äußerlich auf einen erhöhten Ort zu begeben. Er sah sich um, wo er, auf der erreichten Lebensstufe, ein wenig ruhen und die fremde Landschaft zugleich mit Genuß überblicken könnte, und krabbelte den krummen Weg auf das Baronbergl hinauf, nicht ohne Mühe und Mattigkeit und stellenweise auf allen vieren. Seine Knochen taten ihm so weh, als wäre er zweimal durch die Sandsteppen von Tienschan gelaufen.

Das Baronbergl ist nicht ganz so hoch wie der höchste Berg der Erde, der Gaurisankar, aber für den hielt er es auch nicht, sondern nur für den zweithöchsten, den Godwin Austen im Karakorumgebirge. Auf dem Gipfel angelangt, blickte er funkelnden Auges hinab, Befriedigung, Erstaunen und Entzücken zu einem brennenden Blick gemischt, was seinem Gesicht einen etwas blöden Ausdruck verlieh. Aber schon fesselte ihn eine neue Erscheinung. Aus dem kleinen Laubholz am Ende der Wiese, dem Ausläufer des ehemaligen Biedersteiner Parkes, kam langsamen Schrittes ein Schäfer mit seiner Herde. Es war das zwar nicht der erste Mensch, den Yatsuma an diesem Tage sah, es waren ihm schon mehrere begegnet. Nur hatte er sie und alles, was er sah, noch vor einer Viertelstunde aus der Vogelschau gesehen, so daß er annahm, die Schwabinger seien entweder Schulkinder oder ein arjanisches Zwergvolk, Wüstenhunde oder Riesenameisen, wie sie auf der rauhen, unwirtlichen Hochfläche des Pamirs vielleicht vorkommen mögen. Augenblicklich aber, er liebte nun einmal die Abwechselung, sah er alles aus der Froschperspektive. Der Schäfer, zwar eine lange, hagere Gestalt, erschien ihm als ein fürchterlich gigantischer Riese. Seine Beine hatten ungefähr die Länge von drei schlagbaren Tannen, während sein Kopf in den Himmel ragte und von Wolken umflogen war. Allerdings, denn er schmauchte ganz gemütlich seine Pfeife.

Als der Schäfer den Berg heraufkam, um seine Herde durch die Marschallstraße nach Hause zu führen, wahrscheinlich hatte er da hinten bei der Kunigundenstraße irgendwo seinen Pferch, ging ihm Yatsuma ehrfürchtig entgegen, verbeugte sich zwei- dreimal und bat ihn, da er stehenblieb und seine Pfeife an der Steinschaufel ausklopfte, der große Hirt, Squatter und Nomade möge ihm sagen, was das für wunderbare Tiere seien. Er habe, sagte er, denn für Elefanten und Dromedare hielt er die Schafe nicht, so viele Lamas, Gazellen, Antilopen, Babirussas, Vicunas oder was sie seien, auf einem Fleck beisammen noch nicht gesehen.

»Ja, ja!« sagte der Schäfer und musterte die fragwürdige Gestalt Yatsumas mit einigem Mißtrauen. Es gab damals mehr Schafdiebe als Schafhirten. Manches wertvolle Tier war ihm durch solche Vagabunden und Spitzbuben schon gestohlen worden.

Yatsuma betrachtete die friedliche Herde, wie sie an ihm vorbeizog, während der geschäftig verständige Hund sie umkreiste und zusammentrieb. Auf einmal kam es ihm vor, als ob die Schafe Menschen wären, die in einer großen Schar, einer Pilgerschar wahrscheinlich, nach einem berühmten Wallfahrtsort gingen, zur Kaaba in Mekka zum Beispiel. Und er bedauerte eigentlich, daß er sich gelobt hatte, nie mehr eine Rede zu halten, denn hier hätte es sich gelohnt, meinte er.

Aus den trüben Abendwolken brach ein verspäteter Sonnenstrahl, der allen Dingen goldene Konturen gab, einige Mücken aufweckte und lange, kühle Schatten malte.

Und wieder gab es Yatsuma einen Ruck in seinem Bewußtsein: »Ach so,« sagte er, »es sind ja keine Menschen, sondern Tiere! Da ist zu sehen, welches Glück mich erfüllt: sonst für äußerliche Eindrücke wenig empfänglich, erscheint mir heute eine gewöhnliche Tierherde schon als ein Ereignis! Es gibt nichts Größeres, als einer Aufgabe leben zu dürfen! Denn wenn auf den Menschen das Allergeringste den allergrößten Eindruck macht, ja als Wunder wirkt, dann ist er von Beglückung aufgewühlt. Daß ich dieses Maß von Glück erreicht habe, es übersteigt beinahe meine kühnsten Träume!«

Und er stellte das linke Bein nach hinten, legte seine Hand vor die Stirne und weinte.


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