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XLVIII.
Er fährt aus der Welt heraus

Das Zusammensein mit zwei seltsamen Männern, über die er sich nicht klar wurde, was sie eigentlich für Geschöpfe waren, in einem fremdartigen Raum, und dann, daß wieder eines dieser Lebewesen manchmal bei ihm war, löste in Yatsuma zuletzt ein bedrückendes Gefühl aus. Es erinnerte ihn daran, daß er irgendeinmal in einem großen weißen Saal gefangen gelegen habe.

Welch furchtbarer Kerker, sagte er sich, welche schauerliche Gefangenschaft in den weichlichen Kissen, in denen ich mich, wund vom Liegen, träge wälzte wie einer, dem beim Aufwachen einfällt, daß er nicht ins Bureau muß, weil Sonntag ist. Alles durfte hinaus, die Krüppel und Lahmen ergriffen ihre Krücken, schnallten ihre künstlichen Glieder an und gingen davon. Nur ich lag, zur Reparatur eingeliefert, im staubigen Kerker, der nach Karbol stank, ohnmächtig der Gewalt mildtätiger Menschen ausgeliefert, die mich durch Krankenbehandlung krank machten und mit scherzhaften Reden beleidigten: Was macht denn unser Stehaufmännchen? oder: Wie geht's denn unserem Lazarus, der von den Toten auferstanden ist? Da überwand ich den beschämenden Schwächeanfall und gewann die Freiheit. Der Winter war vergangen; von den Reisstrohdächern tropfte der Schnee, es roch nach feuchter Erde, Moschusblüten und Kalatulpen, nach dem würzigen blauen Rauch, der aus den Zelten der Beduinen in die sonnige Luft stieg. Durch die menschenleeren, morgenkühlen Gassen von Mogador, an roten und blauen Gärten vorbei, ging ich zum Meeresstrand. Die unbarmherzige afrikanische Sonne verbrannte die grauen Felsen und zerfallenen Mauern zu Staub. Die Segel standen wie farbige Schmetterlinge reglos auf der silberweißen Flut – – –

Während er dieser Erinnerung an die Erde, von der er sich nach seiner Meinung inzwischen ohne besondere Schwierigkeit schon ziemlich weit entfernt hatte, nachging, dieser Erinnerung mit lyrischen Verzierungen im Schwabinger Stil, und zwar auf einem wackligen Stuhl in Gluths Atelier sitzend, war es Gluth gelungen, eine flüchtige Bleistiftskizze von seinem sonderbaren Gast zu machen. Im allgemeinen, außer wenn er aß oder schlief, war Yatsuma recht unruhig, ging fortwährend hin und her und rannte alle Augenblicke zur Tür, die immer abgeschlossen sein mußte. Auch all seinen absurden Ideen und Einfällen zu folgen, war auf die Dauer nicht leicht. Gluth schlug sich redlich mit ihm herum und gab sich alle Mühe. Zu essen gab es nicht viel, zumal Yatsuma mehr vertragen konnte als drei Schwerarbeiter. Nur einmal am Tage eine Maggibrühe und etwas in Wasser gekochten Reis, manchmal mit Tomaten, manchmal ohne, oder Brot mit Käse und manchmal nur trockenes Brot und ungezuckerten Tee. Bis eine Postanweisung von Mendone eine etwas üppigere Lebensweise hervorrief. Von da an legte sich Yatsuma ins Zeug, als gälte es nicht, Lebensmittel zu vertilgen, sondern Todfeinde auszurotten. Die Speisen hatten auf seinem Gaumen einen unsagbaren, gewissermaßen himmlischen, universell außerirdischen Geschmack.

Die ersten dreißig Stunden kam er überhaupt nicht zu sich, und als er aufwachte, wollte er mitten in der Nacht davonlaufen. Gluth unterhielt sich mit ihm und lenkte ihn ab. Diese nächtlichen Gespräche wiederholten sich in der Folge noch öfter. Der Maler fand sie immer sehr merkwürdig und anregend.

Auf der Straße rannte er einfach dahin, lief und lief, und Gluth hinter ihm drein wie ein Kriminaler. Abends, wenn beide totmüde waren, hieß es, ihn unter irgendeinem märchenhaften Vorwand nach Hause zu schleppen, meist aus dem entgegengesetzten Ende der Stadt. Einige Male war es Gluth sogar gelungen, ihn in die Trambahn zu bringen. Er hielt das für einen sehr bemerkenswerten Fortschritt. Yatsuma aber staunte in dieser Zeit nur wie ein neugeborenes Kind, und beaugapfelte auch diese Einrichtung, wie alles, was ihm in den Weg kam, als wäre alles, was es gibt, eine außerweltliche Erscheinung.

In Schwabing war er am bekanntesten und besonders der Schuljugend ein Ereignis, wert, ihn johlend zu begrüßen. Auch andere Neugierige blieben stehen und sahen ihm nach. Nur Yatsuma, da er der Erdkugel den Rücken gewandt hatte, war es nicht verwunderlich, wenn Geschöpfe fremder Gestirne sich für seine Erscheinung interessierten.

Gluth hatte versucht, ihm einen anderen Rock unterzuschieben, vorläufig erfolglos. Von seinem Gehrockfragment wollte er sich nun einmal nicht trennen, es war ihm teuer wie eine Reliquie. Dagegen war es Gluth ohne weiteres geglückt, sein Hemd, das nur mehr aus einigen lose zusammenhängenden Teilen bestand, wie der Bismarckarchipel oder die Neuen Hebriden, gegen eines von den seinen auszutauschen, das doch noch ein wenig kompakter erhalten war.

Schon am ersten Tag gab es einen merkwürdigen Auftritt auf der Straße. Gluth sah, daß ein junger, sehr tipp-topp gekleideter Mann mit einem Gesicht, so glatt rosig, so wunderschön wie die Wachsköpfe in den Schaufenstern der Herrenmodegeschäfte, Yatsuma am Ärmel faßte und auf ihn einredete. »Los, kommen Sie!« hörte er. Er ging näher hin, denn schon waren es eine ganze Menge Menschen, die ihn umringten und begafften wie ein wildes Tier.

Er stand unbeweglich, abwesend und uninteressiert, blickte über die Köpfe der Leute weg auf einen entfernten Punkt.

»Hören Sie!« sagte der elegante junge Mann und rüttelte ihn, um ihn zu sich zu bringen. »Sie sollen mit uns kommen, verstehen Sie! Sie können einen Happen Geld verdienen und brauchen nichts zu tun dabei. Den Antrag könne man annehmen, meine ich!«

Auf Yatsumas Gesicht malte sich ein erstaunt betrübter Ausdruck.

Also hier gibt es auch schon Geld? sagte er sich, ungläubig, enttäuscht und niedergeschlagen.

Er drehte den Kopf nach dem jungen Mann und betrachtete sein Gesicht forschend, wollte gern herausbringen, was für eine Art von Geschöpf er da vor sich habe, ob einen Menschen nach irdischen Begriffen und Gesetzen, oder was sonst. Was der junge Mann währenddem sagte, hörte er nicht. Dann blickte er wieder geradeaus.

Alles lachte.

Die Wachsfigur wandte sich nach rückwärts zu mehreren Herren und forderte sie auf, ihm behilflich zu sein. Der Mann sei etwas langsam von Begriff oder schwerhörig.

Gluth betrachtete die Leute, zu denen der schöne, junge Herr gehörte. Es war eine Gesellschaft von Kinomenschen, die eine Aufnahme kurbelten. Ein Auto stand da, von Neugierigen umlagert. Er begriff: sie waren Yatsumas ansichtig geworden und hatten sogleich beschlossen, ihn seines unglaublichen Aufzuges wegen aufzunehmen. Vielleicht passte er in ihren Film, vielleicht wollte der findige Regisseur den Fall für eine andere Gelegenheit nützen. Denn es war klar, daß die Echtheit solchen Aussehens mit noch soviel Geschick und Schminke einem Schauspieler oder Komparsen schlechterdings nicht erreichbar. Das Leben ist doch noch etwas reichhaltiger als die Filmbörse.

Zwei Herren drängten sich durch die Menge auf Yatsuma zu, der in die Ferne schaute und seinem Ausdruck nach sehr wichtigen und anstrengenden Gedanken nachhing. Auch dem Auto entstiegen mehrere Damen und Herren, bunt kostümiert, und alles kam näher, zu sehen was es gäbe. Es war da eine grellgeschminkte Dame mit furchtbar großem Mund und rotgefärbten Augenhöhlen, die am Arm eines Herrn in Frack und Zylinder hing, zwei Toreros, ein spanischer Offizier in altmodisch prunkvoller Uniform, eine Tänzerin mit Blumen im schwarzen Haar und eine alte, künstlich zerlumpte Zigeunerin. Die ganze gelbsüchtige Gesellschaft mit ihren schreiend farbigen Flittern und grüngetünchten Gesichtern, die im Licht der tausendkerzigen Jupiterlampen zweifellos recht wirkungsvoll ausgesehen hätte oder haben mag, hatte tatsächlich etwas Uranusbewohnerhaftes. Denn wenn man auch nicht weiß, ob auf dem Uranus menschenähnliche Wesen wohnen und wohl eher annehmen muß, das es nicht der Fall ist, so könnte man sich aber die allenfallsigen Bewohner eines anderen Gestirnes recht gut so vorstellen wie diese Gespensterversammlung mitten auf der Straße, dieses ausgebrochene Panoptikum, das im besten Fall an eine übernächtige Maskengesellschaft erinnerte, die, statt in der Morgendämmerung nach Hause zu gehen, in betrunkener Willenlosigkeit sich vergessen und in den unbarmherzig hellen Tag hinein verirrt hat.

Mehrere der Herren redeten zu gleicher Zeit auf Yatsuma ein. Jeder versuchte ihm klarzumachen, daß er keinerlei Mühe und Umstände habe, wenn er sich aufnehmen lasse und daß er dabei ein schönes Stück Geld verdienen könne. Yatsuma betrachtete die Masken, eine nach der anderen, mit Interesse. Dann sagte er zu dem ihm Nächststehenden, lächelnd, mit bescheiden ruhiger Stimme:

»Sie werden gütigst erlauben, daß ich meinen Weg gehe und nicht den Ihren!«

Alles brach in ein furchtbares Gelächter aus. Es schien, daß Yatsuma jetzt am liebsten weggegangen wäre, aber er war von allen Seiten umstellt und eingekreist.

»Haben Sie's gehört!« rief der Offizier, »er will seinen Weg gehen! Ein Original, ein Typ! Famos! Kommen Sie, alter Knabe, Sie können gleich in unsern Wagen steigen. Soviel Geld hast du in deinem Leben nicht gesehen, mein Lieber!« Er zupfte ihn am Arm, um ihn mitzuziehen. Das schien aber Yatsuma nicht angenehm zu sein.

Er schaute auf die Hand des Herrn herab, die genau einer Menschenhand glich, als wollte er sagen: Nimm sie weg! Und was er sagte, klang, obwohl sehr freundlich und gutwillig vorgebracht, doch wie heimlich verzweifelte Notwehr: »Sie haben vergessen, mich zu fragen, ob ich Geld verdienen will. So muß ich es, ohne gefragt zu sein, sagen: nein. Wenn ich das wollte, dann hätte ich doch auf meinem Geburtsstern bleiben können!«

Alles war sprachlos.

»Dann mach 's halt umsonst!« rief ein Spaßvogel.

»Sie haben doch gar nichts zu tun!« erklärte der Herr mit dem Wachsgesicht. »Keinen Finger brauchen Sie zu rühren. Wir geben Ihnen fünfzig Mark pro Aufnahme!«

»Danke schön!« Yatsuma verbeugte sich steifgraziös und wandte sich zum Gehen.

»Der Mensch ist nicht gescheit!« sagte die Spanierin mit dem weiten Mund zu ihrem Kavalier.

»Fällt ihm gar nicht ein!« erwiderte ein entsetzlich dicker, glattrasierter Herr, dessen Keulenwaden und elegante Sportstrümpfe unwillkürlich aller Augen auf sich zogen. Auch sein giftgrüner Jumper, seine lederne Weste, seine mächtige karierte Mütze, aus der eine schwungvolle Künstlerlocke quoll, alles an dem Herrn war ebenso neu als teuer und sehenswert. Er schien der Regisseur oder Direktor zu sein. »Fällt ihm gar nicht ein! Der will bloß mehr haben!« Mit diesen Worten eilte der Dicke mit auffallend rascher Beweglichkeit Yatsuma nach und hielt ihn an.

»Ich gebe Ihnen hundert!« hörte er hinzukommend den Dicken, »Sie sollen sie haben, meinetwegen! Hundert für die Aufnahme, Menschenskind, das ist mehr als die erste Darstellerin bezieht! Das sind schon Stargagen! Dann aber genug, mein Liebchen!«

Yatsuma lächelte wehmütig.

»Wir können uns nicht verständigen«, sagte er. »Ich stamme von einem anderen Gestirn. Man nennt es Erde, obwohl es keine mehr ist, nur mehr aus Eisenschienen, Drähten, Zeitungen und Kabeln besteht. Ich habe mich darum auf ihr nicht sehr zu Hause gefühlt. Aber – gestatten Sie, daß ich mich empfehle! Bona sera! Alles Gute! Schlafen Sie wohl!«

Er verbeugte sich wie ein Friseur. Viele lachten, einer, es war der Schullehrer Kroll, rief sogar bravo!

Der Direktor ging weg. »Laßt ihn laufen, der Kerl ist meschugge!«

Wie es aber so geht: wo ein Menschenauflauf ist, da ist manchmal sogar ein Schutzmann in der Nähe, vorausgesetzt, daß keiner gebraucht wird. Ein solcher war richtig mit einem Male da. Daß nur Yatsuma die Ursache der störenden Ansammlung sein konnte, war dem findigen Mann sofort klar. Er mußte aber noch nicht lange in Schwabing sein, denn er kannte Yatsuma nicht und fühlte sich verpflichtet, ihn nach Name und Art zu fragen und ob er Papiere besäße.

Dasselbe Lächeln und Kopfschütteln wie vorher.

Dann müsse er mitgehen.

Die Menschenmenge folgte den beiden, und plötzlich hörte man den Mann mit dem Wachsgesicht wieder. »Fix, fix!« rief er, »drehen Sie, drehen Sie! Nun haben wir ja die ganze Szene gratis und franko!«

Der Mensch mit dem Kurbelkasten drängte sich durch und nahm den Schutzmann mit Yatsuma und dem mitlaufenden Publikum, eine Gruppe, wie man sie wahrer und echter unmöglich hätte stellen können, eifrig drehend von allen Seiten auf. Dann blieb die Filmgesellschaft zurück, die Leute verliefen sich langsam.

Jetzt, da er kein unnötiges Aufsehen mehr erregte, ging Gluth zu dem Polizisten hin, sprach einige Worte mit ihm und zog ein Schriftstück aus der Tasche, eine Begutachtung von Dr. Mendone, das er ihm lesen ließ. Sie unterhielten sich noch eine Weile miteinander. Dann grüßte der Schutzmann und Gluth zog mit seinem wiedergewonnenen Schützling von dannen.


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