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L.
Diesseits und Jenseits

Er hatte sein Äußeres wieder einigermaßen verändert und sich anders angezogen, eine unnötige Vorsicht. Yatsuma erkannte ihn weder, noch bemerkte er ihn überhaupt.

»Sie müssen unsere Unpünktlichkeit entschuldigen, Herr Doktor,« sagte Gluth, »es ist uns ein kleines Unglück zugestoßen.«

»Nanu?«

»Mir ist darüber ein neuer Gedanke gekommen. Aber bringen wir ihn erst hinauf und ins Bett. Er ist außerordentlich erholungsbedürftig!«

»Den Eindruck habe ich allerdings auch!«

Mendone half, unseren verunglückten Helden über die vier Treppen hinauftransportieren und Yatsuma ließ sich in der Kammer neben dem Atelier, die seine Wohnung war, ohne Widerspruch zu Bett bringen, denn er schlief schon im Stehen. Leise schloß Gluth die Tür und stellte die Wasserkanne für den Tee auf den Spirituskocher. Er hatte den ganzen Tag noch keinen Bissen zu sich genommen.

»Also, was war denn? Und was haben Sie für neue Ideen?« fragte Mendone gespannt.

»Keine Ideen. Aber was meinen Sie: wie wäre es, wenn er uns eines schönen Tages erklären würde: ich bin durchaus nicht närrisch, ich habe mir nur einen Jux gemacht und euch ordentlich an der Nase herumgeführt, meine verehrten Herren!«

»Finden Sie ihn denn so furchtbar närrisch? Schauen Sie sich doch die sogenannten Normalmenschen mal etwas genauer an! Die sind doch so verrückt, daß es gar nichts Schöneres geben kann! In allem Ernst! Bitte, betrachten Sie doch unser Leben wie Sie wollen, auf welchem Gebiet Sie immer Lust haben, lesen Sie die Zeitung, gehen Sie ins Theater oder ins Parlament, schauen Sie in die Ehen, in die Familien, in Köpfe und Menschen hinein, verfolgen Sie was immer Sie wollen, Sie werden entdecken, das alles gar nicht wahnsinniger sein könnte. Nur daß eben nicht jeder Narr den Vorzug hat, so unterhaltende Sachen zu sagen wie zuweilen dieser Yatsuma!«

»Einige Defektchen hat er trotzdem. Sie sollten nur einmal hören, was er von seinen Reisen auf dem nördlichen Sternhimmel erzählt!«

»Du lieber Gott, geben Sie ihn mir drei Wochen in Behandlung, dann werden Sie sehen, was für einen gesunden, ordentlichen, korrekten Staatsbürger ich aus ihm gemacht habe!«

»Nur daß er dann furchtbar langweilig und uninteressant sein wird!«

»Da können Sie recht haben. Der Normalbürger erhält zwar die Welt, aber der Wert dieser Leistung ist sehr fragwürdiger Natur. Und darum habe ich vorläufig noch eine andere Idee. Wie lange ist er jetzt bei Ihnen?

»Heute ist, glaube ich, der vierte oder fünfte Tag. Ich bin selbst ganz durcheinander.«

»Na gut. Daß er sich so lange gefangenhalten läßt, hätte ich gar nicht erwartet. Aber es beweist, daß man es durchführen kann.«

»Sehr zufrieden scheint er sich allerdings nicht zu fühlen!« Gluth erzählte zuerst die Geschichte mit der Filmgesellschaft und dann die Schlacht auf der Heuwiese. »Es ist mir zwar immer noch lieber,« schloß er, »er zerschlägt die Heubündel als mich und meine Bude, meinen Rasierspiegel und meine letzte Teetasse. Meine Stühle haben ja grundsätzlich nur drei Beine, aber drei sind besser als gar keine. Tatsächlich, wenn er mal nachts so einen Koller bekommt und mir vielleicht meine Leinwanden entzweihaut – es ist nicht wegen der Kunst, für die ist es nicht schade, aber die Leinwand ist so teuer.«

»Kein Gedanke! Das halte ich für ausgeschlossen. Seine Sanftmut ist ja seine eigentliche Krankheit. Dieser Wutanfall ist nach allem, was ich beobachtete, bei ihm eine so einzig dastehende Ausnahme wie bei den meisten Menschen die alltägliche Regel. Daß niemand Herr seiner Affekte ist, sehen wir ja überall. Es war eine Art innerer Bedrängnis, die sich einmal Luft machen mußte. Er hat es teuer genug büßen müssen. Hoffentlich hat ihm der Bauer keine Knochen abgeschlagen.«

»Ich habe ihn abgetastet, fand aber bis jetzt nichts als faustgroße Beulen und blutunterlaufene grüne und blaue Flecke, einer neben dem anderen.«

»Die Dünnen halten immer mehr aus als die Dicken. Lassen Sie ihn vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden im Bett liegen, so lang er will. Sie können ihm ja feuchte Umschläge machen. Diese Bauerlümmel sind doch von einer unglaublichen Roheit. Übrigens sehe ich nicht ein, warum wir uns nicht eine Zigarre anstecken sollen.«

Gluth goß den Tee auf und strich sich einige Buttersemmeln. Mendone erhob sich aus dem ramponierten Sofa, dessen unregelmäßige Sprungfedern ihm auf die Dauer unbequem wurden, und setzte den Kneifer auf.

»Und ich will mir Ihre Bude einmal näher betrachten. Sie haben da eine ganze Menge Bilder herumhängen, darf man die Sachen ansehen?«

»Wenn es Ihnen Spaß macht! Es ist nichts Besonderes da.«

»Warum stellen Sie denn alles mit dem Gesicht an die Wand? Da kann man ja nichts sehen.«

»Soll man auch nicht. Das ist alles nicht fertig, Studien, Skizzen, Etappen, zurückgelegte Wege, aber eigentlich keine Bilder zum Herzeigen.«

»Studien sind aber gerade oft wertvoller als fertige Gemälde. Was ich noch sagen will, ich habe mich inzwischen auch um seine Familienverhältnisse gekümmert. Auch sein Haus habe ich besichtigt. Unter anderem besuchte ich ein Fräulein Obermeier, das zwei Kinder von ihm hat, und noch zwei Familien. Im ganzen sind vier Kinder da, alle in recht elenden Verhältnissen. Das Fräulein wird demnächst heiraten und zwar einen Bruder des Deschl, den John, der sie holt. Er ist in Amerika. Ich habe einen Brief von ihm gelesen. Scheint ebensowenig ein gewöhnlicher Mensch zu sein wie sein Bruder, nur steht der John mit beiden Füßen auf der Erde.«

»Was man von Yatsuma, besonders im augenblicklichen Stadium, nicht gerade behaupten kann!«

Mendone wandte sich einem der Bilder zu. »Ist das etwas Neues?«

»Ja, eine Komposition; noch nicht ganz fertig. Bei Licht sieht man leider nichts.«

Gluth nahm das Bild von der Wand, stellte es auf die Staffelei und rückte sie zurecht. Es war eine Figurenkomposition, eine Weinlese.

»Wollen Sie noch viel daran machen?« fragte Mendone, nachdem er es zurücktretend einige Minuten lang betrachtet hatte.

»Nicht viel.« Er nahm einen Lappen, der über der Kohlenkiste hing, goß etwas Tee darauf und fuhr über die Leinwand. »Es ist stellenweise eingetrocknet. Ich will nur die linke Partie noch etwas aufhellen und die rechte mehr ins Dunkel rücken. Farbig natürlich. Es macht einem schon zu schaffen. Mit der alten Braunsoße ist es natürlich eine Kleinigkeit, aber das wollen wir ja nicht. Wir wollen Licht, Luft und Farben wenigstens malen, wenn wir's auch nicht haben!«

»Das Bild ist sehr schön!« Mendone war ganz in die Betrachtung des Bildes versunken.

»Gefällt es Ihnen?«

»Ich möchte es haben. Ich würde aber an Ihrer Stelle nicht mehr viel daran machen. Ich verstehe ja nichts davon, aber ich finde es gerade in diesem Stadium schön. Ich fürchte, wenn Sie es noch weitertreiben, bekommt es etwas Starres. Gerade das Verwischte, Unausgesprochene, das dem Auge Deutungen und Möglichkeiten übrig läßt, ist das Schöne daran. Das Bild kaufe ich. Wie es ist.«

»Meinen Sie?« Gluth betrachtete sein Werk kritisch und unzufrieden von allen Seiten. »Sie können recht haben. Gut.«

»Hm?«

»Ja, Sie haben recht. Einige Hauptwerte noch hinein –«

Mendone legte dem Maler die Hand auf die Schulter. »Machen Sie es fertig, ohne es im wesentlichen zu verändern, und bringen Sie es mir recht bald!«

»Ich will es morgen fertigmachen. Es ist höchstens noch eine Stunde lang daran zu tun.«

»Was ist denn das?« rief der Doktor, der im Zurücktreten über ein Gipsmodell gestolpert war. »Hauen Sie auch Bild?«

»Früher habe ich viel gemacht. Aber ich habe keinen Platz, und auch das Material ist zu teuer. Und wer will heute schließlich eine anständige Plastik haben? Die Geld haben, verstehen nichts davon, und die etwas verstehen, haben kein Geld.«

»Das ist mit allem so heute. Was liegt denn da für Zeug?«

Mendone hob einige Blätter, Pastelle und Kohlezeichnungen, offen, zusammengerollt, zum Teil verknittert und zerrissen, vom Boden auf. Darunter kam eine riesengroße Mappe zum Vorschein. Gluth nahm den Lappen und wischte den fingerdicken Staub von der Mappe ab. Dann räumte er Pinseltöpfe, Gipsmodelle, Paletten, Näpfe, Farben und einige Vasen mit vertrockneten Blumen vom Arbeitstisch, aber die dickbauchige Mappe war zu groß. Er legte sie auf den Boden, kniete hin und schlug Blatt für Blatt um.

»Lauter altes Zeug. Entwürfe, Einfälle –«

»Halt!« rief der Doktor. »Nicht so schnell! – Und wie Sie mit den Sachen umgehen, ewig schade! Sie sollten die Blätter doch wenigstens in Passepartouts stecken! Warum illustrieren Sie nicht?«

Gluth zuckte mit den Achseln. »Habe ich alles schon gemacht –«

»Ich will die Mappe dann noch durchsehen und mir einiges aussuchen.« Mendone wandte sich wieder dem Bild auf der Staffelei zu, betrachtete es lange und bemerkte nicht, daß die Tür der kleinen Kammer aufging, aus der Yatsuma heraushinkte, barfuß, nur mit Hemd und Hose bekleidet. Er sah ihn erst, als er sich zwischen ihn und die Staffelei schob. Auch Gluth hatte nichts gehört. Er kramte in einem Stoß Bilder, die an der Wand lehnten und erschrak fast, als er sich umdrehte und ihn plötzlich stehen sah. Yatsuma starrte das Gemälde an. Es war das erstemal, daß er ein Bild betrachtete. Bisher hatte er, soviele auch herumhingen, überhaupt noch keines gesehen.

»Wie gefällt Ihnen das Bild?« fragte Mendone.

Yatsuma hob langsam den Arm, zuckte schmerzhaft zusammen und fuhr sich mit der Hand vorsichtig über die Stirne. Sein gräßlich verschwollenes Gesicht spiegelte in allen Farben.

»Es macht schwermütig,« sagte er dann langsam, »weil es an die Erde erinnert, ich meine an den der Sonne drittnächsten Planeten. Erde – Erde! Der Name ist nicht sehr glücklich gewählt! Dieser Stern mit seinen bureaukratischen Landschaften, Telegraphenwäldern, Schornsteinheiden, Betonbrücken, Wellblechbaracken, Drahtlüften und Schienenwegen, sollte Pflaster heißen, Asphalt, Gußstahl oder Scheckkonto! Wie könnte man ihn wohl am besten nennen? Nennen wir ihn, da er am Delirium (er meint wohl Tellurium) von der Sonne aus der dritte Planet ist, einfach Delirius!«

Gluth goß eine neue Ladung Tee auf, stellte eine dritte Tasse auf den kleinen, wackligen Tisch und stopfte eine leere Tube unter den Tischfuß. Mendone verfügte sich auf das holperige Sofa und schob sich ein zerschlissenes Seidenkissen unter.

»Vorsicht!« rief Gluth, »der Stuhl ist nicht ganz koscher!« und schob einen Rohrstuhl her. Yatsuma stützte sich mit beiden Händen auf die Lehne, verzog das Gesicht wie eine gichtische Großmutter und ließ sich vorsichtig in den Sessel nieder.

»Haben Sie denn keine angenehmen Erinnerungen an Ihren früheren Aufenthalt?« fragte Mendone.

Es schien fast, als würde seine Stimme Yatsuma an ganz bestimmte irdische Verhältnisse erinnern –

»Ich hatte Sie eigentlich vergessen, Herr Tiger«, antwortete er etwas unbeholfen. Die Bewegung der Lippen und der Gesichtsmuskeln bereitete ihm sichtlich Schmerzen. »Das Leben auf dem Delirius hatte den Vorzug, daß man allein sein konnte. Ich liebe die Einsamkeit, ich möchte mich aus der Gesellschaft der Tiere, die mich hier umgeben und begleiten, fortbegeben. Das Gemälde erinnert mich an eine besondere Gegend, die man die europäische nennt. Wenn Sie, verehrter Herr Orang-Utan, den Planeten betrachten, so erkennen sie diesen Ort daran, daß über ihm wie drohendes Unheil ständig ein wasserschwangerer, finsterer Nebelballen lastet. In dieser Gegend ist ein langes, eisernes Gitter. Daneben stehen hohe Masten, an denen Bogenlampen hängen, milchweiß schimmernd wie die acht Monde des Saturn. Aus dem Dach des roten Hauses brüllen wütende Feuerflammen. Die Eingeweide der delirischen Erde sind verwundet und in Fetzen zerrissen, aus Schächten und Türmen heult sie ihren feurigen Schmerz in die erbarmungslose Luft. Die regenfeuchten Sträucher neben dem Gitter sind von Kohlenstaub überzogen, über den sandigen Hof laufen Gleise, auf denen fahrbare Krane, große Kessel, Rädergestelle und halbfertige Lokomotiven stehen. Rechts ist das Bureaugebäude. ›Ich habe Ihre Papiere durchgesehen‹ sagte der graue Mensch mit dem Kneifer, Sie können morgen anfangen.‹ ›Jawohl!‹ sagte ich hündisch devot, und wollte doch eigentlich etwas ganz anderes sagen! Ich war mit diesem Jawohl von ihm gekauft worden. Er war selbst nur ein Diener, der selbst gekauft war, und der mich kaufte für seinen Herrn, den großen Menschenhändler. Für billiges Geld war ich an den unsichtbaren Sklavenhalter verkauft, den geheimnisvollen, ungreifbaren Besitzer der drohenden Gebäude mit den schnaubenden Schloten, der feuerspeienden Eisengießerei, dem dröhnenden Dampfhammer. Ich war verloren, gehörte mir nicht mehr. Aus dem langen, niedrigen Haus mit den blinden Fenstern hallen die eisern klingenden Schläge; es klingt, als schmiedeten sie ihre eigenen Ketten, aber es ist nur die Montagehalle. Dann geht es durch einen langen Gang, der Bretterboden dröhnt, wenn man durchgeht, oben ist ein Wellblechdach, aus dem die Hitze drückend herabrinnt wie flüssiges Blei. Der Gang ist eine Brücke, untendurch schießt der Eisbach, der die Turbinen treibt. Dann geht es in die Werkstatt hinunter. Es ist die Dreherei; lang und dunkel, der Boden festgetretener Kohlenstaub, Stahlspäne glitzern unter den Maschinen. Die finsteren Mauern zittern in dem surrenden schwingenden Lärm der Riemen und Räder, zerbrochene Fenster klirren, schwarze Spinngewebe wehen aus staubigen Ecken. Ich bin davongelaufen. Sie können sich denken, werte Polarfüchse, daß die Bewohner des Delirius, als sie es erfuhren, nicht das Beste von mir sagten; die Sklaven halten zu den Sklavenbesitzern, sind von ihnen unterjocht und können nicht ohne sie leben, bis sie selbständig denken lernen und sich von ihnen befreien.«

Der Doktor war recht nachdenklich.

»Sie möchten also nicht wieder auf den Delirius zurückkehren?« fragte er dann. »Sie finden es in irgendeinem Jenseits schöner, oder mindestens erträglicher?«

»Ach – Jenseits …« seufzte Yatsuma. »Wissen Sie, liebe Känguruhs, in dem Augenblick, da man von diesem unglückseligsten aller Gestirne fortgeht, über das wir alle klagen, weiß man, daß kein Jenseits schöner sein kann!«

Wieder hing Mendone schweigsam seinen Gedanken nach.

Yatsuma erhob sich langsam und vorsichtig. »Ich darf den Genuß nicht über das Maß in die Länge ziehen,« sagte er, »versäumte Tat macht unfroh. Seit ich ganz neue und fremde Welten erlebe, richtet sich meine Aufgabe erst in ungeahnter Größe und unheimlicher Schwierigkeit vor mir auf! Die kleinste Zeitspanne wird kostbar wie nie. Darum nichts für ungut, werte Schakale, und tausend Dank für Ihre herzliche Gastfreundschaft! Morning! A rivederci!«

Er verbog sich nicht ohne Anstrengung und tappte in seine Kammer.

»Immer in Bewegung, immer in Bewegung!« sagte Mendone. »Die Energie dieses Menschen hat etwas Unheimliches. Ich glaube bald selbst daran, daß er, während ich in die Biedersteinerstraße gehe, ein halbes Dutzend Sternenwelten durchsegelt. Die Titulaturen, mit denen er uns beehrt, werden übrigens immer netter! Haben wir denn so große Ähnlichkeit mit den Bestien?

»Wahrscheinlich. Es kommt auf den Standpunkt an –«

»Kommen Sie,« sagte Mendone, »stecken wir uns noch eine Brasil an, Ihre Pfeife riecht auch nicht gerade nach Arabien. Tee ist auch noch da, dösen wir noch ein halbes Stündchen vor uns hin. Es hat etwas ungemein Erregendes und zugleich Erlösendes, sich in die Welt dieses Phantasten zu versetzen. Die Schilderung des Industrieplaneten zum Beispiel war doch fabelhaft! Bei ihm ist alles zur Reflektion und Kopfarbeit geworden. Sein Bruder hat es anders verarbeitet. Er hat sich in die Welt hineingestürzt, aus der der andere herausgeht. Dieser John also, habe ich mir erzählen lassen, soll immer in ein und demselben ungebügelten schwarzen Anzug, in dem alle Nähte ausgesprengt waren, in Schwabing herumgelaufen sein, die Pfeife zwischen den Zähnen, einen steifen Hut auf, unrasiert, eine halbe Bibliothek unterm Arm. Er hat das Gymnasium besucht und trat dann in eine Bank ein. Auf einen Vorwurf des Chefs, dem gemeldet worden war, daß er während der Arbeitszeit Schopenhauer las, gab es einen Wortwechsel, der damit endete – auch er soll nämlich wie sein Bruder außerordentlich gutmütiger Natur sein. Aber Anmaßung, Überheblichkeit, Demütigung scheinen die Deschls, wenigstens in jungen Jahren, nicht vertragen zu können. Der Chef also läßt sich zu einem etwas zu scharfen Wort hinreißen und der gute John, der aber, glaube ich, Josef heißt, gibt dem würdigen Mann eine Ohrfeige, nimmt den Hut vom Haken und geht nach Hause. Er schwört, niemals mehr in seinem Leben sich der Unverschämtheit eines Vorgesetzten auszuliefern, sitzt im Kaffeehaus herum, schreibt einige Novellen und philosophische Abhandlungen, lernt Sprachen und unterhält sich mit Ausländern. Der Vater, ein eiserner Wille, hat es noch einige Male versucht, ihn irgendwo hineinzustecken, aber es dauerte nie länger als drei Tage. Zu Hause natürlich Zerwürfnisse und schreckliche Auftritte. Er ist sozusagen der vollkommene, der absolute Taugenichts. Hört er irgendwo Ausländer, Franzosen, Engländer, Russen, Italiener, spricht er sie in ihrer Sprache an und unterhält sich mit ihnen. Ein Russe soll ihn damals schon das Kompliment gemacht haben, daß er ihn seiner Aussprache nach niemals für einen Deutschen gehalten hätte. Seine Antwort: »Ich bin auch kein Deutscher!« »Sondern?« »Sondern Schwabinger!« Eines Tages ist er verschwunden. Sein Bruder erhält einige Tage später eine Postkarte aus Paris, auf der er ihm schreibt, daß er nach Amerika geht. Von da an hat er nichts mehr von sich hören lassen, nicht ein Wort, bis vor ganz kurzer Zeit. Das ist jetzt zwanzig Jahre her, und nun scheint er sich auf einmal für seine Familie zu interessieren, soweit sie noch existiert.«

»Ich glaube, ich kann mich gut an diesen Mann erinnern –« sagte Gluth.

»Was den Yatsuma betrifft,« fuhr Mendone fort, »glaube ich die Lösung gefunden zu haben. Außerdem aber reizen mich die vielen Bilder, die hier herumstehen! Ich muß einmal bei Tag kommen und alles durchschnüffeln. Sie haben ja ungeheuer viel gearbeitet und sagen einem kein Wort davon! Ich wünsche noch sehr viele von Ihren Sachen zu erwerben!«

Gluth verzog schmerzlich das Gesicht, als hätte man ihm eine Beleidigung zugefügt.

»Muß das sein?« fragte er.

»Sie werden hoffentlich erlauben, daß ich Bilder, die mir gefallen, käuflich erwerbe, sofern sie verkäuflich sind!«

»Doch, doch, verkäuflich sind sie schon!« beeilte sich Gluth zu versichern.

»Mich beunruhigt im übrigen, daß Sie nicht vorwärtskommen. Haben Sie denn tatsächlich nicht die Absicht, auf einen sogenannten grünen Zweig zu kommen?«

Gluth zuckte mit den Schultern. »Wozu eigentlich? Von den zehn Bildern, die ich damals in die Ausstellung geschickt habe, ist nicht eins angenommen worden. Es war das letzte Mal, daß ich so etwas gemacht habe.«

»Gar nichts? Nicht ein einziges Bild? Das verstehe ich nicht. Und darum, wenn ich zum Beispiel dieses Atelier mit seiner, oder besser ohne seine Einrichtung, mit den am Boden herumfahrenden Lithographien und so weiter betrachte, so meine ich, daß geordnete Verhältnisse, keine Familiensorgen, eine gewisse Ordnung und Bequemlichkeit, verschiedene Anschaffungen und so weiter, mit einem Wort ein besseres Einkommen, Ihrer Kunst nicht gerade schaden, sondern wahrscheinlich nützen würde.«

»Ach, wissen Sie, mehr als malen kann man nicht. Mir gehen manchmal ein paar Farben aus, dann male ich eben mit einer anderen. Wenn ich keine Tusche habe, nehme ich Kaffeesatz, der gibt sogar viel weichere Töne als dieses Fabrikzeug.«

»Und wenn Sie auch keinen Kaffeesatz haben?«

»Dann ist das Unglück auch nicht groß. Dann denke ich an den spiegelglatten Parkettfußboden meiner Mutter, auf den man nicht spucken durfte und bei jedem Schritt lang hinschlug, wobei man noch, wenn man besonderes Glück hatte, eine ebenso teure als häßliche Vase herunterwarf. Und dann finde ich mein Leben sehr schön und bin recht zufrieden!«

»Was verständlich ist. Aber trotzdem …«

Es war schon sehr spät, aber Mendone konnte sich nicht aufraffen. Über seinem Häuschen lag, wie ein Rauch über einer Alchimistenküche, noch immer der böse Schatten der Mißstimmung und Disharmonie – er fürchtete sich vor dem Heimgehen. Die Yatsuma-Angelegenheit hatte ihm alle möglichen Gänge und Besorgungen verursacht, darüber hatte er in der letzten Zeit die Idylle seiner Häuslichkeit im Eifer manchmal etwas links liegen lassen, war oft spät, unpünktlich oder gar nicht heimgekommen, oder, wenn er da war, schweigsam und gedankenvoll abwesend gewesen, und was so Sünden mehr von Männern sind, die ihr Leben nicht ausschließlich dem Küchenzettel und dem Problem eines aufpolsterungsbedürftigen Sofas hingeben. Eli war verzweifelt.

Um drei Uhr ging Mendone.

In Gottes Namen, dachte er, noch ein halbes Jahr, dann wird sie schon wieder einiges begriffen haben. Sie ist noch sehr jung. Ich muß ihr morgen ein kleines Geschenk mitbringen!


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