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LIV.
Der Überfall

Als sich der dämmernde Morgen hinter melancholischen Wolken, dunstigen Dächern und rotgrauen Schornsteinen mißmutig verschlafen erhob, um nachzusehen, ob denn Yatsuma immer noch lebt, befand er sich mit seinem treuen hündischen Begleiter schon längst auf dem Marsch. Den ganzen Tag schleppte er sein wandelndes Elend über holperige Feldstraßen, gefrorene Wiesen und Äcker hin, rastlos seiner energischen Torheit nach, gespannt von übermenschlichen Erwartungen, getrieben von unbegrenztem Tatendrang, erhitzt von den seltsamsten Vorstellungen und Einfällen. Man sagt zwar »er erhitzte sich an diesem Gedanken«, indes hat noch niemand gehört, daß einer mit Gedanken einen Ofen geheizt, seinen Magen gefüllt oder fehlende Schuhsohlen ersetzt hätte. Es fehlt aber tatsächlich nicht viel, daß Yatsuma diese Kunst im letzten Abschnitt seines Lebens noch erfindet, und wenn es nur der Steigerung zuliebe wäre, die man vom Charakter einer Romanfigur verlangt, während sich im wirklichen Leben gewöhnlich nichts zu steigern pflegt als Wohnungsmieten und Lebensmittelpreise. So durchglüht von seiner Idee und in sie eingehüllt wie in eine lodernde Flamme walzte er dahin und kam auf diese Weise in die Gegend außerhalb Pasings, wo es im Sommer recht schön sein mag, im Winter aber die Bäume ebensowenig blühen wie in Grönland. Ihm freilich tanzten seltsame Figuren und bizarre Landschaftsbilder vor den Augen, geheimnisvolle Gegenden, unberührte Wildnisse, überirdische Gärten und dergleichen. Es gibt ja viele Menschen, denen die schönste Luftspiegelung lieber ist als die wirklichste Wirklichkeit, aber Yatsuma, der nun einmal nichts Halbes leiden kann, sah das alles und noch viel mehr nicht nur, sondern hörte, roch, schmeckte und fühlte es auch unweigerlich.

Der Tag war sehr kurz und überhaupt kein Tag gewesen, nur so eine Art verschwommenes Nordlicht zwischen Vormittag und Nachmittag wie in Hammerfest oder Reykjavik, und doch war Yatsuma ziemlich weit gekommen. Er muß die Strecke wie im somnambulen Schlafzustand zurückgelegt haben.

Der Regen hatte aufgehört, es tröpfelte von den nackten, frierenden Ästen wie von einer abgedrehten Dusche, als Yatsuma Schritte hörte und aufblickend ein rätselhaftes Wesen vor sich gehen sah. Er hielt es anfänglich für einen australisches Kiwi, einen Vogel, von dem er gelesen hatte, daß er auf Neuseeland vorkommt, und erschrak ein wenig, denn er hatte geglaubt, ganz allein zu sein. Im allgemeinen hatte er sich inzwischen an die neue unirdische Welt gewöhnt, wenigstens lag sein erstes Staunen hinter ihm und Furcht stand nicht auf seinem Programm. Mag von den Geschöpfen eines anderen Gestirnes alles mögliche zu erwarten sein, dachte er, schlimmer, gefährlicher, schwieriger als auf Erden kann nichts und niemand sein. Und da er keinen Ausdruck für die rätselhaften Geschöpfe, die ihm immer wieder begegneten, wußte, beschloß er sie der Einfachheit halber fortan alle samt und sonders, vom Eulenpapagei bis zum Riesenkänguruh, einfach Menschen zu nennen, mochten sie sein was sie wollten.

Entweder ging er schneller oder die Figur vor ihm langsamer, er kam ihr näher und schließlich blieb sie stehen und wartete, bis er nachkam. In der Nähe sah sie tatsächlich nicht viel anders aus als ein irdischer Mann. Mittelgroß, graue Wickelgamaschen um die Beine, ein kurzer dunkler Überzieher, um den Hals einen wollenen Schal geschlungen. Eine Hand hielt eine abgeschabte lederne Aktenmappe.

Das Wesen sagte irgendeinen Gruß. »Wohin geht die Reise?«

»Wenn man das so genau wüßte!« meinte Yatsuma. »Es ist ja auch belanglos.« Unsicher lächelnd starrte er in die nächtlich unkenntliche Gegend, auf die schmutzige Straße und das düstere Feld, das zwei, drei Meter weit sichtbar war, aber er sah wohl ganz etwas anderes.

Sie gingen nebeneinander her. Yatsuma hatte ihn flüchtig betrachtet und, soviel in der Dunkelheit zu sehen war, ein eigentümliches Gesicht erblickt. Es war gut genährt, etwas zu vollwangig nach seinen Begriffen, aber bleich und verbissen, als ob er nicht gerne lachte oder es nicht könnte. Auch der Klang der Stimme war unlustig, gepreßt.

Der Mann sprach über das Wetter, die Preise und die schlechten Zeiten, fragte Yatsuma, wovon er lebe und welcher Partei er angehöre. Yatsuma überlegte, wie er diese eigentümlichen, unverständlichen Fragen beantworten könnte.

Der Hund schnupperte an den Beinen des Fremden und knurrte verhalten. Der Mann schien dem Köter und der Köter dem Mann nicht angenehm zu sein.

»Was hast denn da für ein altes Mistvieh?« fragte er.

Yatsuma blieb stehen. Schon wieder eine Frage, und er war doch mit den anderen noch längst nicht fertig.

Plötzlich, er hatte eben den Mund aufmachen und etwas sagen wollen, geschah etwas Unbegreifliches. Ein kurzer, dumpfschwerer Druck auf den Kopf, dann wurde es ganz schwarz. Der Boden wankte ein wenig. Er wußte nichts mehr.

Der Hund fuhr auf den Mann zu, aber ein geschickter Fußtritt schleuderte ihn zur Seite. Gleichzeitig traf ihn ein schwerer Stein ins Kreuz. Er heulte und kläffte und wagte sich schließlich in todesverachtender Wut wieder näher. Ein Stein sauste ihm entgegen, er duckte sich und schnellte vorwärts wie ein giftiger Pfeil. Aber der Mann sprang von der Straße ins Dunkel und verschwand.

Er hatte den am Boden Liegenden in aller Geschwindigkeit gründlich untersucht und abgegriffen und ihm alle Taschen umgekehrt. Dabei brachte er in der Hast aus einer der Taschen beinahe seine Hand nicht mehr heraus, so zerrissen und chaotisch verwickelt sah es da drinnen aus. Viel hatte er sich ja wahrlich nicht erhofft, aber doch auch nicht erwartet, gar nichts, aber auch nicht das Mindeste und Minderwertigste, zu finden. Alle Taschen waren so leer, als wäre der Mensch soeben schon ausgeraubt worden, und die Lumpen, die ihm am Leib hingen, waren keinen Schuß Pulver wert. Enttäuscht hatte der Räuber das Weite gesucht.

Es muß ein unerfahrener Anfänger gewesen sein; denn es genügt noch nicht, einen Menschen umzubringen, er muß auch etwas haben.

Der Hund umstrich seinen Herrn, beschnupperte ihn, bellte ihn an, leckte ihm das Gesicht ab, sprang auf und kläffte in die Finsternis, in der der Mann verschwunden war, kehrte wieder winselnd zurück und betastete Yatsuma. Als er es lange genug getrieben und müde geworden war, legte er sich ihm mit den Vorderpfoten auf die Brust. Davon, von dem Atem und Dellen und der Wärme des Tierkörpers muß Yatsuma zuletzt zu sich gekommen sein.

*

Mendone überflog die Abendzeitung. Er konnte das Blatt nicht ausstehen. Für ihn war die Zeitung, mit Ausnahme ganz weniger, ein notwendiges Übel, das man mit viel Geduld und Humor auf sich nehmen mußte, um Stadtnachrichten, Wetterberichte, Hutpreise, Kinoprogramme und Todesfälle, und was sich sonst Unangenehmes in der Welt begibt, zu erfahren, und was man alles, wenn es eben keine Zeitung gäbe, zu erfahren gar nicht wünschen würde. Und darum, sagte er, ist das Übelste an diesem notwendigen Übel, daß es gar nicht notwendig ist.

»Was?« rief er plötzlich. »Nein, da hört sich aber schon alles auf!«

Er nahm den Kneifer ab, wischte ihn blank, als wollte er sich selbst noch die Möglichkeit vorbehalten, daß er vielleicht doch falsch gelesen haben könnte, setzte ihn wieder auf, fixierte die Stelle, die seinen Ingrimm so erregte, mit düster gerunzelten Stirnfalten und biß auf die Zigarre, daß sie senkrecht in die Höhe stand. Dann warf er das Blatt auf den Tisch und stand auf.

Eli waren diese Ausbrüche von übermäßigem Staunen und grimmigem Zorn, ärgerlichen, spöttischen und sarkastischen Bemerkungen, nichts Neues. Sie ereigneten sich mit vorausberechenbarer Regelmäßigkeit Abend für Abend, von jeher und immer wieder, in demselben Augenblick, da er die Zeitung in die Hand nahm und nur eine einzige Zeile las.

»Was ist es denn heute?« fragte sie nicht ohne Neugierde. Seine Kommentare zur Zeitungslektüre waren oft sehr lustig. »Du solltest sie jetzt aber doch wirklich einmal abbestellen, Gilbert, statt dich jeden Tag zu ärgern. Das ist es doch schließlich nicht wert. Die Theateranzeigen stehen auch in anderen Zeitungen; warum muß es denn gerade die sein, wenn du sie nicht magst!«

Mendone schritt schweigsam auf und ab. So aufgeregt hatte sie ihn noch nie gesehen.

»Auch in anderen Zeitungen?« fauchte er. »Schon möglich! Aber jedenfalls nicht so oft! In der steht alles dreimal, in anderen aber nur einmal! Was du im Morgenblatt gelesen hast, steht im Mittags- und Abendblatt wieder. Und für diejenigen Abonnenten, die es auch nach dem dritten Male noch nicht begriffen haben, und das sind die meisten, steht es im nächsten Morgenblatt ausführlich und deutlich noch einmal! Welche andere Zeitung kann sich solche Gründlichkeit leisten? Keine einzige. In vierundzwanzig Stunden wäre jede pleite!«

Eli lachte.

»Nein, nein,« sagte er, »alles, was recht ist! Sieh mal her!« Er nahm die Zeitung, wurstelte sie durcheinander, ein Blatt fiel herunter, er wippte es mit der Stiefelspitze in die Ecke. »Bitte, da – wo ist es denn – hier, hier, hier! Bitte lies das einmal!«

»Das da? Raubmord?«

»Ja, Raubmord!«

Eli las: »Raubmord. Am Abend des 19. November wurde auf der Straße von Pasing nach Puchheim der Kanzleivorsteher Josef Häberl ermordet und beraubt aufgefunden. Die Leiche wurde von einem des Weges kommenden Kraftwagen nach München gebracht. Durch den Lenker des Wagens wurde am gleichen Abend die Festnahme des mutmaßlichen Täters veranlaßt. Derselbe ist ein heruntergekommenes Subjekt, nennt sich – was? rief sie – nennt sich Yatsuma von Landen und kann über seinen Verbleib zur Zeit der Tat keinerlei Auskunft geben. Es wird gebeten. Sachdienliches der Polizeidirektion, Zimmer 147/II bekanntzugeben.«

»Was? Yatsuma?«

Mendone hatte sich, die Hände in die Hosentaschen vergraben, auf die Ottomane hingeworfen.

»Was sagst du dazu? Ist das nicht schändlich? Das weiß doch jeder Mensch, daß der Mann nicht einmal fähig ist, eine Mücke von seiner Nase wegzujagen, geschweige einen Mord zu begehen!«

»Aber die Zeitung kann das doch nicht wissen!«

»Dann darf sie es auch nicht behaupten und veröffentlichen. Sie kann ja ebensogut schreiben: als der mutmaßliche Täter wurde Dr. Mendone, oder als die mutmaßliche Täterin wurde Fräulein Eli Trondal festgenommen und in das Untersuchungsgefängnis eingeliefert. Überhaupt werde ich sowieso und ohnehin, weil ich ihn kenne, die größten Unannehmlichkeiten haben, aber das ist mir in diesem Fall gleichgültig, ich werde es den Herren schon sagen!«

»Mache dir nur nicht unnütz Feinde, dagegen kannst du doch nichts ausrichten. Und gegen ungerechte Beschuldigungen kann man sich ja zur Wehr setzen!«

»Was würde denn das nützen? Gesetzt den Fall, sie würden schreiben: Dr. Mendone, ein heruntergekommenes Individuum, angeblich Arzt und Spezialist für Geisteskrankheiten, konnte sein Alibi nicht nachweisen. Gut, ich werde es in einer Viertelstunde nachweisen, werde beweisen, daß ich Arzt bin – aber wer entfernt denn die Zeitungsnotiz, daß ich möglicherweise der Mörder bin, aus dem Hirn der zweihundertfünfzigtausend Leser, die sie zum Abendbrot verschlungen haben? Die Zeitung bringt eine Berichtigung und dann ist alles wieder gut. Weil nämlich niemand, der die erste Nachricht gelesen hat, gezwungen werden kann, auch die zweite zu lesen. Ein Teil der Leser weigert sich einfach – oder kommt gar nicht auf die Idee, daß ich der Mörder nicht sein könnte. Von den übrigen, die auch nicht leer ausgehen wollen – wofür zahlt man denn schließlich seine Abonnementsgebühr – sagt sich die Hälfte: du lieber Gott, was da wieder hinter steckt! Alles Vertuschung! Natürlich, weil der Mann besseren Kreisen angehört, das sind gerade die schlimmsten! Und die andere Hälfte der Abonnenten, weil sie für ihr sogenanntes gutes Geld auch etwas haben wollen, würden sagen: na ja, wenn er es vielleicht auch nicht gewesen ist, aber zuzutrauen ist diesem Kerl jedenfalls alles. – Etwas bleibt hängen, und das ist der Zweck oder wenigstens die Folge der Übung. Ich wäre glatt erledigt. Das bißchen Ansehen, das ich mir im Schweiße meines Angesichtes erworben habe, viel ist es sowieso nicht, wäre futsch, meine Praxis ruiniert. Wer kann mich dafür entschädigen, selbst wenn er wollte? Vielleicht würde ich einen Wutanfall kriegen und den Redakteur totschlagen, was doch schließlich begreiflich wäre, nachdem er vorher mich umgebracht hat, und auf diese Weise also tatsächlich in meinen alten Tagen einen Mord begehen. Dann wäre aber erst recht alles in schönster Ordnung, denn dann hinderte die Zeitung doch nichts und niemand, triumphierend zu berichten: seht ihr, er ist doch ein Mörder! Wir haben es euch doch gleich gesagt!«

»Jetzt versteh' ich auch meinen Traum!« sagte Eli.

»Was soll denn das mit deinem Traum zu tun haben? Dein Traum kann ebensogut bedeuten, daß mir mein Hühnerauge seit gestern wieder weh tut!«

»Tut es wieder weh? Du solltest dir aber doch endlich ein Mittel dagegen kaufen!«

»Ach was, das Zeug taugt doch alles nichts – sprechen wir von etwas anderem! Vor allem davon, daß du nicht so abergläubisch sein sollst, Eli!«

»Doch, das lasse ich mir nicht nehmen! Ich habe von so vielen Spinnen geträumt, es war einfach ganz entsetzlich! Ich habe gleich gesagt, das hat nichts Gutes zu bedeuten!«

»Eine schöne Geschichte! Wundervoll! Jetzt kann ich zur Polizei laufen, zum Kommissar, zur Redaktion, zum Rechtsanwalt, zum Gericht, zu sechsundzwanzigtausend Behörden, Schreibstuben und Ämtern! Das gibt Scherereien, na, ich danke! Ich will gleich mal die Polizei anrufen!«

»Da ist doch jetzt niemand da!«

»Gewiß ist jemand da, die haben doch Nachtdienst!«

Der Doktor hing sich an's Telephon. Fräulein Trondal sann resigniert vor sich hin. Jetzt wird er ein halbes Jahr lang überhaupt nicht mehr nach Hause kommen, dachte sie.


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