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XXVII.
Wie kann man weniger als nichts haben?

Weil wir gerade vom Glück reden: an einem kalten Februartag im August suchte Yatsuma auf einem Schuttabladeplatz nach alten Lappen, die er sich um die Füße wickeln konnte, da er das Barfußgehen nicht mehr aushielt. Nach langem Umherstochern fand er einige nasse Lumpen, befreite sie von dem gröbsten Schmutz, wand sie aus, band die kleineren Stücke zu großen zusammen und schlang das ganze kunstvoll um seine armen Füße. Als er die Schuttgrube mit dieser fremdartigen Fußbekleidung verlassen wollte, sah er ein Paar Schuhe aus dem Sand ragen. Es waren zwei linke, doch ungefähr von gleicher Größe. Das verkrümmte, sonnengedörrte und zerwaschene Leder war ganz rot und hart wie Glas. Die Sohlen hatten auf der Innenseite mehr Nägel als außen und hingen mit wenigen Fasern noch am durchlöcherten Oberleder, waren aber mit einer Schnur oder Stoffstreifen schließlich ganz leicht an den Fuß zu binden. Es dauerte etwas lange, bis Yatsuma diese Folterwerkzeuge an sich befestigt hatte. Er versuchte sich einzureden, daß man mit diesen Wallfahrts- und Büßerschuhen prachtvoll gehen könne, denn in gewöhnlichen europäischen Schuhen, sagte er, kann jeder gehen, in ungewöhnlichen aber nur ein ungewöhnlicher Mensch. So weit wäre alles in Ordnung gewesen, hätten ihn die Fakirschuhe nicht so gepreßt und mit den vorstehenden Nägeln in die Sohlen gestochen, daß er nicht wußte, wie er den Fuß aufsetzen soll und wie ein tanzender Derwisch mit seltsamen Sprüngen und Verrenkungen nur forthüpfen konnte. Es blieb nichts anderes übrig, er mußte sehen, wie er die Fußdaumenschrauben wieder herunterbekam, was noch langwieriger war, als wie das Anziehen. Endlich war das harte Werk gelungen, die Füße zerschunden, blutend und verschwollen und die halbe Haut in den grausamen Stiefeln verblieben, als wollte sie sich damit ausfüttern. Er versuchte es wieder mit dem Barfußgehen und da dies auch recht schmerzhaft war, wieder mit den Fußlappen. Die Schraubstöcke trug er derweil in der Hand, wo sie ihm weniger wehtaten. Endlich schien es, daß er auch nicht einen Schritt mehr vom Fleck käme, denn die Lappen waren sofort naß und glitschig, er rutschte immer aus wie auf einem trottoir roulant.

Auf einem mit dünnem Gras bewachsenen Sandhügel ließ er sich endlich erschöpft niederfallen. Die Sonne stach aus einem Berg von düsteren Wolken hervor. So wenig sie auch wärmte, warf sie doch über die grauen Vorstadtmauern, Höfe und Steinkästen einen purpurn bengalischen Schimmer, der die Landschaft phantastisch veränderte, als wäre sie eine Bühnendekoration aus beleuchteter Pappe, wenn man sie deswegen auch nicht unbedingt für Lhassa, die Stadt der Klöster, Lamas und Buddhatempel zu halten brauchte wie Yatsuma. Zumal er sich eine Minute vorher noch in einer mongolischen Schamo zu befinden glaubte, wahrscheinlich wegen der Erd- und Schutthaufen in der Grube. Alles was recht ist, aber manchmal trieb er es schon toll. Aber das kommt davon, wenn man Ossendowski, Gerstäcker, Sven Hedin, Karl May, Frobenius und andere ernsthafte Autoren nicht ohne Schaden verdauen kann.

Über der Beschäftigung mit seinen Hufeisen war fast der ganze Tag vergangen. Zur Nacht wollte er, weil es im Freien doch zu kalt war, in die Stadt gehen, um vielleicht irgendwo gastfreundlichen oder anderen Unterschlupf zu finden. Er nahm die mörderischen Sandalen wieder her, schlug die rostigen Nägel mit einem Stein nieder und dehnte und weitete sie, wobei er sie noch ganz auseinanderbrach, um sie seinen mit Tüchern umwundenen Füßen abermals aufzuzwingen.

»Ach ja,« seufzte er, »das Leben ist ein Zugeständnis –«

Während dieses ganzen Tages schon beschäftigte ihn ein absonderlicher Gedanke: er empfand während der Schuhanprobe so richtig, wie zuwider und verhaßt es ihm war, sich immer wieder im Denken und Tun mit Sachen beschäftigen zu müssen, die ihm mehr als gleichgültig waren, wie eben zum Beispiel Schuhe tragen und essen und schlafen und ähnliches sinn- und zwecklose Zeug mehr.

Wäre es denn nicht möglich, fragte er sich, noch weniger als nichts zu besitzen? Wenn es sich verwirklichen ließe, damit hätte ich mehr, als wenn ich nur nichts habe! Es würde eine ungeahnte Steigerung meiner Kräfte bedeuten!

Ohne dem schwierigen Problem nähergekommen zu sein, hinkte er in die Stadt und glaubte schon, daß er die Lösung nie werde finden können.

So sehr er München sonst bestaunte, weil er es jedesmal für eine andere Stadt hielt, so wenig hatte er diesmal für sie übrig. Er war zu sehr mit seinem neuen Einfall beschäftigt, um für irgend etwas sonst Sinn und Zeit zu haben. So fiel ihm entweder nicht auf, daß ihm weder Mönche noch Nonnen begegneten noch buddhistische Pilger, die doch aus China, Siam, Ceylon, aus der Mongolei und ganz Asien nach der heiligen Stadt ziehen, um den Segen des Dalai Lama zu empfangen, oder was noch wahrscheinlicher ist, er hielt die Münchner für Priester und ihre Brauereien, Bierkeller, Banken, Kaffee- und Warenhäuser für die Tempel, Zinnen und Türme, die sich um die vergoldete Residenz des gelben Papstes gruppieren. Am Nockherberg ist er nicht vorbeigekommen, also weiß ich nicht, ob er das heilige Kloster Botala dort oder im Café Stefanie gesucht hat. Vorläufig beachtete er, in seine Grübelei versunken, überhaupt nichts. Wäre er dem lebenden Buddha selbst begegnet, er hätte ihn nicht eines Blickes gewürdigt.

In eine der taghell erleuchteten Geschäftsstraßen gekommen, blieb er geblendet, nachdenklich vor einem prunkvollen Schaufenster stehen. Obwohl er hineinsah, sah er nichts, denn er blickte dem Gedanken nach, von dem er sich nicht mehr trennen konnte. Allmählich aber blieben seine Augen doch an den Gegenständen haften. Es war ein großes Herren- und Damengarderobe- und Ausstattungsgeschäft. Alles, was der weibliche und männliche Mensch zur Bekleidung und Schmückung seines Körpers braucht, und noch vielmehr, war da in kunstvollem Arrangement aufgebaut, elegante Anzüge und Stoffdraperien, Schuhe, noch etwas besser erhalten als die an seinen Flossen, vom leichten Salonlackschuh bis zum festen, formschönen und wasserdichten Touristenstiefel, hundert Arten von Hüten, für jede Jahreszeit eine andere, während er zu allen gar keinen besaß, Käppis, Mützen, Straßen-, Reise- und Sporthüte, spiegelblanke Zylinder und zusammengelegte Chapeaux claques, seidene Hemden und Unterkleider, aparte Kragen und Krawatten in allen Farben, Spazierstöcke, bunte Taschentücher, hauchdünne Strümpfe, die allerdings nicht viel aushielten, Nachtanzüge, Paletots, Handschuhe, Smokings, Pelzjacken und englische Regenmäntel und vieles, was er weder kannte noch verstand. Die Damenabteilung war noch farbenprächtiger und kostbarer. Hier waren die winzigen Schuhe aus Brokatstoffen, vergoldetem Leder und Schlangenhäuten, neben Toiletten aus Crêpe, Samt und Seide hingen Pelze aus allen Ländern der Erde, bestickte, bedruckte und bemalte Stoffe, Schals und Vorhänge in bezaubernden Farben und Mustern und seltsam unverständlichen Bezeichnungen auf kleinen Schrifttäfelchen, federleichte Schleier und Spitzen, lustig bunte Jacken, durchsichtige Blusen und streng elegante Kostüme, Wäsche, perlgestickte Handtäschchen, phantastische Pariser und Wiener Hüte und farbige Schirme mit silbernen, goldenen und elfenbeinernen Griffen und tausend andere unerklärliche Dinge, die Yatsuma nicht kannte, ein überwältigender Luxus, den er in dieser frommen Stadt nicht vermutet hätte.

Gleich daneben, er hatte sich von dem einen Schaufenster kaum losgerissen, war ein Juwelierladen, dessen Lichtmeer noch blendender und verwirrender war. Da lagen auf übereinander gebauten Spiegelglasplatten und Samtkissen funkelnde Steine vom farbig matten und weichen Halbedelstein bis zum feuerblitzenden Brillant, Hunderte von Ringen, Uhren, Broschen, Perlketten, Nadeln, Armreifen, die alle anzusehen man einen ganzen Tag gebraucht hätte, Kassetten, Schalen und Vasen aus Silber, Gold und Email, Agraffen, Zierdosen, Zigarrenspitzen, Etuis, Goldschmiedearbeiten und viele schimmernde, zierliche, feinsinnige Gegenstände, deren Bedeutung ihm vollkommen rätselhaft war.

Er schlich zum nächsten Laden. Der war wenigstens fünfmal so groß als die beiden vorherigen zusammen. Die untere Hausmauer war vollständig entfernt und auf rätselhafte Weise durch eine riesige Glasscheibe ersetzt worden, durch die man so ungehindert in die fürstlichen Gemächer eines Palastes blicken konnte, als befände man sich inmitten all dieser kostbaren Möbel, auf orientalischen Teppichen, vor flämischen und französischen Gobelins und Marmorkaminen, in vergoldeten Sesseln und seidenen Betten, unter Spiegeln, Kristallüstern, chinesischen Vasen, Porzellanfiguren –

Yatsuma wandte sich ab, er hatte vom Schauen genug. Obwohl er von vielen hundert Geschäften nur drei betrachtet hatte, war es ihm plötzlich, als hätte er viele Jahre in müßig leerem Nichtstun zugebracht.

Wohl oder übel mußte er noch an vielen ähnlichen Geschäften vorüber, und als er an die Straßenecke kam, zog sich in der neuen Straße auf beiden Seiten die gleiche unabsehbare Flucht lichtstrahlender Auslagen und Etablissements hin. Die Ecke, an der er stand, war eine Delikatessenhandlung. Er warf einen Blick hinein: amerikanische Konserven, Schinken, Torten, Konditoreien, russischer Kaviar, chinesischer und Ceylontee, Bananenbündel, gedörrte Trauben, Feigen, Datteln, griechische, spanische, dalmatinische Weine, Käse, Fische und Sardinen, ungarischer Paprikaspeck, indischer Reis, Mastgänse, Rebhühner, Fasanen, gespickte Hasenrücken, Schokolade, Kakaopulver, Ananas, Melonen, Kokosnüsse, Limonaden, Granaten, Oliven, gezuckerte Früchte …

Yatsumas Augen leuchteten plötzlich auf: er fand, nachdem er nur diese eine Straße durchgegangen war, daß er weniger als nichts besaß, und war sehr froh, daß er die Lösung des Gedankens gefunden hatte.


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