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XL.
Ein Wiedersehen

Da Yatsuma dahinlief wie ein blindes Huhn, immer seiner Idee nach, war es für Benson leicht, ihn zu lenken wie er wollte. Sie kamen nach Schwabing über halbverbaute Wiesen, zwischen Schneehaufen und Regenpfützen, in denen die aufgeweichten Wege untertauchten, an Kiesgruben und verschneiten Vorstadtgärten vorbei. Benson, neugierig, wofür er München diesmal halten werde, staunte: Yatsuma wußte an jeder Straßenecke einen anderen Namen und verfertigte aus der guten Münchnerstadt im Handumdrehen an die drei Dutzend ansehnliche außereuropäische Großstädte. Von Korea ging es nach Timbuktu, von Mossamedes nach Candahar, von Kolorado nach Sumatra, von Nebraska nach Timbuktu.

»Halt, da waren wir schon!« sagte Benson. Aber er wunderte sich doch über die ungeheure, unerschöpfliche Phantasie seines Freundes.

Ein dürftiger Sonnenstrahl sickerte in den grauen Vormittag, ein erster schwacher Lichtblick an dem unfreundlichen Tag. Auf einmal brach die Sonne durch. Sie kann ja nichts dafür, daß sie hier nicht scheinen darf, und unverwüstlich lebenskräftig, wie sie anscheinend noch immer ist, probiert sie es immer wieder einmal. Die mit schmutzigem Schnee überkleisterten Straßen bekamen etwas Traurigfreundliches, die Fensterscheiben der kalt-düsteren Häuser, die Pfützen auf den Wegen und die Drähte in der Luft glänzten gelbrot, die nassen Firmenschilder sprühten und tropften Lichtfunken, aus der Glaswand der herandonnernden Trambahn schoß ein feuriger Blitz, sprang übermütig aus einem Schaufenster ins andere und steckte die ganze Häuserflucht in Brand.

»Wir dürfen nicht vergessen, daß wir eine Rede halten wollen!« mahnte Benson. »Wir sind jetzt in der vierunddreißigsten Stadt!«

Die Luft verfinsterte sich in diesem Augenblick, die Sonne gab es auf und verzog sich, alles war wieder schmutziges Grau, was eine Minute lang Gold gewesen war. Ein kalter Luftzug fuhr daher, es regnete wieder.

»Wenn es sich ergibt, Benson, wenn es sich ergibt!« sagte Yatsuma.

»Von allein ergibt es sich nicht! Wir müssen schon selber dazu tun!«

Die Kinder schrieen: »Yatsuma! Yatsuma! Der spinnete Yatsuma kommt!«, liefen mit und voraus und die Erwachsenen schauten ihm nach. Er war eine längst bekannte Figur, manche kannten ihn persönlich.

Yatsuma blieb vor einem Schaufenster stehen. Es war der Haushaltungsbazar, das Kaufhaus, wie es sich nannte, an der Ecke der Feilitzsch- und Occamstraße. Denn immer wieder, wenn er in Schwabing war, zog es ihn, wie den Mörder an den Tatort, unbewußt in die Nähe seiner verlassenen Wohnung. Weiße Tücher mit Aufschriften: Ausverkauf! Billige Tage! und ähnlichen waren ausgespannt, Menschen umdrängten den Laden. In dem Auslagefenster war von allen erdenklichen Gegenständen ein kunstvoller Aufbau arrangiert, auf dem eine riesige, überlebensgroße Kaffeemühle thronte.

»Hier wäre es vielleicht nicht übel,« meinte Benson, weil eine Menge Menschen dastand, »legen wir gleich los! Obacht!« rief er, »Achtung, meine Herrschaften, der berühmte Redner und Weltreisende Alexander von Hitzschlag ist angekommen! Soeben aus Australien zurückgekehrt, zu Fuß um die Erde in achtzig Tagen! Hierher, wer sehen und hören und nicht fühlen will, alles zu mir her, ich kenne keine Parteien mehr! Hier sind zu sehen die Menschen ohne Köpfe, nämlich die Zuschauer! Wer zuerst lacht, lacht am besten! Heute freier Tag ohne Eintritt! Unsere Erlebnisse in Bengalien oder der Kampf mit den indischen Seeräubern, hochinteressant und sensationell und alles gratis und umsonst! Beehren Sie unser Unternehmen, meine Herrschaften, treten Sie näher, Sie werden es nicht bereuen, kommen Sie heran!«

Das Publikum, durch Ausrufung einer neuen Schuhcreme schon anzulocken, scharte sich erwartungsvoll um den Ausrufer. Benson trat zur Seite und schob Yatsuma vor. Dessen Frackschöße waren so kotig, als wäre er auf allen vieren um die Erde gekrochen. Benson fuhr mit der Hand ein wenig drüber hin und entfernte einen Strohhalm von seinem Rücken.

»Liebe Kaffeekannen und Zuckerbüchsen!« begann Yatsuma, und schon die Anrede löste, wie auch früher schon, ein ziemliches Gelächter aus. »Hochverehrte Gurkenhobel und Petroleumkannen!« (Yatsuma war offensichtlich von dem Anblick der vielen Haushaltsgegenstände inspiriert.) »Ich kann euch gar nicht sagen, welche Gefühle mich bewegen, wenn ich ein Schaufenster sehe! Wir leben in ungeheuren Zeiten, aber viele wissen es noch nicht. Und selbst der es weiß, der weiß es noch nicht: auch er steckt in der Zeit wie in einer Krankheit und ist von ihr angesteckt. War nicht, ihr Stiefelknechte von Nagasaki, in unserer Jugendzeit vor hundert Jahren noch einiges anders als heute? Das Menschentum unserer Eltern war noch rein, der Geldgeist hatte die Welt noch nicht zerfressen! Die Sorgen der kleinen Leute waren noch ein berechtigter Bestandteil ihrer Not, und die Begüterten, die diese Entschuldigung nicht haben, waren noch nicht unersättlich. Als die Welt noch in den Kinderschuhen stak, ist es möglich gewesen, daß einer Geschirrhändler und doch kein luftleerer Hohlraum oder ein absoluter Schuft war, was dasselbe ist. Und warum sollte das nicht wieder möglich sein, fragt ihr? Meine lieben Kleiderständer und Garderobenhaken von Manila: weil eine Lawine, die den halben Berg heruntergerast ist, nicht wieder auf den Gipfel hinaufspazieren kann, sondern zu Tal muß! Das Geschäft wurde ein Mechanismus und der Mensch ein Geschäftsmann, ein Motorrad mit Benzinatmung! Schraubenschlüssel und Treibriemen, Schwungräder und Telephondrähte haben bekanntlich keine menschliche Empfindung. Erst waren die Kaufleute Menschen, dann waren die Menschen Kaufleute! Die wertvollste Tätigkeit war die unnützeste geworden, die geistvollste die dümmste. Der Zifferngeist nahm selbst der Ziffer ihren Geist. Aber die Erde dreht sich niemals rückwärts und auf die Zeit der Warenhäuser kam die Zeit, in der Häuser gewesen waren. Um die Sache kurz zu machen …«

Benson, als Yatsuma in Schwung gekommen war, stellte sich etwas entfernt von ihm an die Hausmauer, hielt seinen verbeulten Hut vor sich hin und paßte trotz seines scheinbar recht gleichmütigen und betrübten Blickes gut auf, ob kein Schutzmann auftauche.

Eine gutgekleidete ältere Frau, während sie eine Münze in seinen Hut legte, fragte ihn: »Wer ist denn der Mann da? Was hält er denn da für Reden?«

»Mein Kollege, gnädige Frau, ein guter Redner! Ein sehr gebildeter Mann! Wir haben eine Weltreise unternommen, man muß sehen, wie man sich durchbringt. Ein gelernter Ingenieur.«

»Ingenieur? Mein Gott –« Sie seufzte und horchte hinüber.

»Er ist im November noch barfuß gelaufen,« sagte Benson, »bis ich ihm ein Paar Schuhe besorgte. Ich war Aufseher in einer staatlichen Anstalt. Entlassen worden. Abgebaut!«

»Und haben Sie nicht einmal einen Mantel? Ich habe einen. Wenn Sie mitgehen, kommen Sie!«

»Wenn es nicht zu weit ist –« er fürchtete, die Einnahmen zu versäumen, »ich darf meinen Kameraden nicht im Stich lassen!«

»Ich wohne hier, nebenan. Er ist nicht mehr ganz gut –« Benson hatte seinen Hut aufgesetzt und folgte der Alten, »von meinem verstorbenen Mann nämlich!«

»Er ist eine Idee zu lang!« sagte sie, als Benson in den Mantel schlüpfte. Er reichte ihm bis an die Knöchel. »Die Ärmel müssen Sie halt umschlagen.«

Benson strahlte vor Vergnügen. »Man ist doch gleich ein anderer Mensch«, sagte er und sah an sich hinunter. »Die Ärmel? Nein, nein, der ist schon recht so, da kann der Wind nicht durchblasen!«

»Es ist noch ein Teller Suppe da und ein Stückchen Fleisch, ich glaube, es ist noch warm. Kommen Sie nur herein, ich fürchte mich nicht vor einem armen Mann!«

Auf dem Korridor stand ein kleiner Tisch, sie schob einen Stuhl hin, verschwand in der Küche und brachte das Essen.

»So, lassen Sie sich's tüchtig schmecken!«

Sie verzog sich wieder, kam aber gleich wieder zum Vorschein: »So, Sie sind schon fertig, ihr Kamerad ist schon noch da, ich habe aus dem Fenster geschaut. Er spricht noch immer zu den Leuten. Hat's geschmeckt?«

»Ausgezeichnet, hervorragend!« Er gab ihr die Hand. »Herzlichen Dank!« Sie schaute ihn ungemein freundlich an. Es ist wahr, Benson besaß, wenn er auch etwas unrasiert war, ein gutes, rundes, einnehmendes Gesicht, vor dem man sich nicht zu ängstigen brauchte. Aber er zuckte so komisch mit den Armen und Schultergelenken.

»Sind Sie krank?« fragte sie.

»Nichts Besonderes, gnä' Frau, ein kleiner Rheumatismus vom Feld, die Folgen des Patriotismus!«

Er wollte schon gehen.

»Haben Sie auch zu unseren tapferen Soldaten gehört?«

»Ja, ich habe auch gemeint, ich muß den Helden markieren, aber das Geschäft ist mir schlecht bekommen. Ich hab den Schnupfen gekriegt dabei –«

»Ja, ja, das glaube ich! Da hat sich mancher was geholt. Sicher haben Sie keine Unterhosen an! Warten Sie, da habe ich noch etwas von meinem lieben Mann.«

Sie kramte in der Kommode. Schließlich gab sie ihm ein mit Zeitungspapier umwickeltes Paket.

»Man hilft ja gerne ein bißchen, wenn man kann. Viel haben wir selbst nicht, wir sind zwei Schwestern, was halt noch von meinem Mann selig da ist. So, jetzt müssen Sie aber gehen, Ihr Kollege wird schon warten! Und wenn Sie mal recht Hunger haben, dann kommen Sie halt in Gottes Namen zum Essen. Wir sind nur zwei Frauen, meine Schwester ist gerad nicht da, man tut, was man kann. Gott befohlen! Nichts zu danken! Hausnummer 2 a, damit Sie's nicht vergessen! – Also adieu!«

Eine freundliche Frau, dachte Benson, als er die Treppe hinunterschob, aber nicht mehr ganz jung. Schad', daß die Leut immer alle so alt werden müssen, bis sie einmal zur Vernunft kommen. Die hat ihre Sechzig auf dem Buckel, daß alles kracht!

Er dachte an seine Frau, die frische Vierzigerin, die den schweren Korb Wäsche allein über drei Treppen hinauftrug. Die Unterhosen und ein Hemd und was sich in dem Zeitungspapier befand, zog er, um Yatsumas Augen nicht mit einem Paket zu beleidigen, gleich im Hausflur hinter der Treppe an.

Unterdes haben wir mit dieser albernen Mantelgeschichte einen beträchtlichen Teil von Yatsumas Rede versäumt. Was bedauerlich ist, denn er gab sich, so ungern er anfangs hatte reden wollen, nun, nachdem er einmal drin war, ganz besondere Mühe.

»Noch nicht fertig?« sagte Benson und stellte sich rasch mit dem Hut an die Mauer.

Zu gleicher Zeit trat aus dem Kaufhaus ein Herr im Halbzylinder mit einer Dame am Arm, in der Hand ein Päckchen tragend. Der Ladeninhaber, er sah aus wie ein rassereiner Nubier mit Stehkragen und Seidenkrawatte, komplimentierte ihn aus der Tür: »'n Tach, gnä' Frau! Tach, Herr Doktor! Besten Dank, auf Wiedersehn!« Dann sah er sich einen Augenblick um, was der Menschenauflauf bedeute, bezog ihn auf seinen Ausverkauf und verschwand im Ladendunkel. Es gab viel zu tun.

Dr. Mendone war etwas kurzsichtig. »Nanu, was ist denn da los?« Er putzte seinen Kneifer, »Donnerwetter! Wenn das nicht eine Nachahmung von Yatsuma ist, dann ist er's selbst! Natürlich, das ist ja mein Freund, der Yatsuma! Na weißt du, Eli, da stehen wir nun über eine halbe Stunde im Laden! Wenn ich das gewußt hätte, die Salatschüssel hätten wir wahrhaftig auch ein andermal kaufen können!«

»Aber doch nicht so billig! Dasselbe Geschirr kostet überall –«

»Bscht, sei nur still, Kind, wir wollen doch hören, was er sagt!«

»Der Begüterte bildet sich ein, über den Armen erhaben zu sein,« hörten sie, »der Besitzverächter war dem Geldmenschen aber schon deswegen überlegen, weil er bescheiden und unerfahren war und jahrhundertelang geschwiegen hatte. Nur der ganz Dumme, ganz Gedankenlose, ganz Unerfahrene und vom Unglück ganz Gedemütigte schämte sich vor dem Geldbesitzer, denn wie man zu Geld kam, war weder ein Geheimnis, noch eine Kunst. Die Fähigkeit war allzusehr verbreitet und was alle treiben, kann nichts Besonderes sein. Durch Frömmigkeit, Edelsinn, anständige Denkart, Bescheidenheit, Uneigennutz und Mitgefühl ist noch niemand reich geworden. Sondern dazu mußte man kaufmännisch denken und mit Zehntelpfennigen so gut rechnen können wie mit Milliarden, mußte sparsam sein bis zum Geiz, erfinderisch, energisch, unternehmend und welttüchtig, wie man damals sagte, eigennützig, gierig, ausbeuterisch und seelenlos, gerissen und gewaschen. Wer nur eine von diesen unentbehrlichen Eigenschaften nicht besaß, konnte nicht Geschäftsmann werden. Außerdem aber, ihr vernickelten Eßbestecke aus Neukamerun, lehrte es schon damals die Geschichte, daß, wer zu Besitz kommen will, ein Räuber sein muß. Im Altertum standen die Wegelagerer an unwegsamen Ecken und finsteren Hohlwegen und holten sich ihre Beute mit Pistole und Schwert. Wie ich vor fünfzig Jahren noch im Kaukasus von solchen überfallen worden bin. Später aber wurden die Straßen der Welt asphaltiert und elektrisch beleuchtet und die krummen Ecken und finsteren Hohlwege in das Innere der Menschen verlegt. Wie die Spinnen im Netz lauerten sie in luxuriös ausgestatteten Läden, Banken, Kauf- und Geschäftshäusern in den belebtesten Straßen der Städte und beraubten einander auf die höflichste und umgänglichste Manier, unter Verbeugungen, Komplimenten und Artigkeiten …«

»Wenn ich nur schon daheim wäre«, sagte eine Frau hinter Mendone. »Der Kerl ist ja gelungen, aber ich habe schon ganz kalte Beine. Das erste ist, die nassen Schuhe weg, in die Pantoffel hinein, an den Ofen hin und dann mache ich mir eine Kanne heißen Tee. Da weiß man doch wenigstens was man hat!«

»Die Strauchdiebe und Raubritter«, sagte Yatsuma, »verübten ihr Unrecht auf kühne und ehrliche Art, denn sie leugneten es nicht. Es waren Burschen, die ihr Leben jeden Augenblick für ihre Tat einsetzten. Auch raubten sie nicht wahllos, sondern nur von den Reichsten und Sattesten. Die Kaufleute, Händler, Bankiers und Industriellen aber waren schlau und feige, scheinheilig und betrügerisch, zuvorkommend und hinterhältig, boshaft und brutal. Sie bestahlen die Hungernden, Frierenden und Elenden, schonten die Besitzenden und Mächtigen und verstanden ihren Vorteil im Einklang mit dem Gesetz in Sicherheit zu bringen. Nicht in Nacht und Unwetter, nicht im geheimen auf gefahrvollen Umwegen schafften sie ihre Beute fort, sondern beförderten Güter, Waren und Gelder öffentlich mit Bahnen, Posten und Flugzeugen und veröffentlichten ihre zusammengestohlenen Kapitalien in der Zeitung, so ausgezeichnet war ihr Einvernehmen mit denen, die von ihrem Profit profitierten, mit Behörden und Ämtern, Gesetz und Gericht und mit dem Volk, das ihnen tatenlos zuschaute.«

»Unerhört! Der Kerl ist komplett irrsinnig!« hörte Mendone einen Herrn sagen.

»Der gehört irgendeiner verrückten Partei an!« erwiderte ihm ein anderer.

»Sie, tun's fein Ihre Kautschukzähne beisammen behalten,« sagte ein junger breitbrüstiger Bursche drohend, »sonst kann sein, daß ich mit Ihrem Vollbart die Straße aufkehre!«

Die Herren schwiegen.

» Das waren die Diebe, Räuber, Betrüger und Plünderer,« fuhr Yatsuma fort, »die die Ehre gepachtet hatten, ihr Gewerbe ausgezeichnet verstanden, auf das geschickteste betrieben, das meiste damit erreichten und sich am wenigsten einer Gefahr aussetzten. Die Taschendiebe, die Einbrecher, Straßenräuber, Unterschlager und Defraudanten, die den Diebstahl, den sie täglich vor Augen sahen, nur ungeschickt kopierten und dafür ins Gefängnis flogen, mißhandelt und ausgestoßen wurden, zwischen Aufregung und Verzweiflung unbedenklich dahinlebten und verhungerten, das waren noch Menschen, bedauernswert wegen ihrer Ungeschicklichkeit, die ihr bester Vorzug war. Jene aber waren Unwesen, raffinierte Ungeheuer, ohne es zu wissen, wenn sie es wußten, ohne es sich zu gestehen, wenn sie es einsahen, ohne sich zu schämen. Merkt euch das, ihr Einweckgläser von Bolivia: ich sage nichts dagegen, daß der Mensch Besitz hat, ich sage aber wohl etwas dagegen, daß der Besitz ihn hat! Als die Sucht, reich zu werden, allgemein geworden war, ist die Welt samt Sparkassenbüchern und Invalidenmarken, Buchhaltern und Kontoauszügen zugrundegegangen und eine neue Menschheit marschierte herauf wie ein Erdbeben! In dieser Zeit leben wir! Freut euch, ihr Schirmständer und Gasstrümpfe, ihr Grammophonplatten, Patentschlösser und Zahnbürsten, das neue Zeitalter ist da! Das Geld liegt nicht mehr auf der Straße und auf dem Boden, der teuer verkauft wurde, nicht in den Bergwerken und Erdölgruben, die dem gehörten, der das meiste schon besaß, nicht mehr in der Luft noch im Blut und Hirn, denn wer einst existieren wollte, der mußte sich sogar seine Gedanken bezahlen lassen. Da verdarb die Menschheit und löste sich in Materie auf, ein neues siegreiches Geschlecht entstand aus dem Unrat seiner Asche! Seid lustig und übermütig, ihr Firmenschilder und Federhalter! Jubelt und weint ihr Salz- und Pfefferständer, Abreißkalender und Botanisierbüchsen! Das kommende Leben, der Tag des Glückes ist nahe, freut euch, seid heiter und übermütig! Und nun adieu und bleibt fröhlich, so lange die Sonne scheint!«

Alles lachte und schrie bravo, einige schalten brummend über den Narren.

»Mein lieber Freund,« sagte ein Arbeiter im Weggehen, »der sagt's einem richtig! So was steht nicht in der Zeitung! Nur der Schluß gefällt mir nicht recht, der scheint mir die Sache etwas zu rosig aufzufassen!«

Die Leute verliefen sich, Yatsuma sah sich nach Benson um.

» All right! Bin schon da, Freund, bin schon da!« Benson legte ihm die Hand auf die Schulter. »Fein hast du's ihnen hingerieben – (er hatte zwar keine zehn Worte verstanden) alle Hochachtung – wunderbar – ah so, entschuldigen –«

Mendone, der manchmal herzlich hatte lachen müssen und manchmal wieder recht nachdenklich geworden war, lüftete seinen Halbzylinder:

»Gestatten, daß ich Ihnen gratuliere! Sie haben hervorragend gesprochen! Haben Sie Lust mich zu besuchen? Es würde mir ein Vergnügen sein! Kommen Sie mit!«

Yatsuma betrachtete den Herrn. Vielleicht erkennt er mich, dachte Mendone.

»Danke höflichst, Herr Studienrat,« sagte er, sich steifbeinig verbeugend, »ich nehme nichts an.«

»Natürlich, selbstverständlich!« erwiderte der Doktor. »Ferne liegt es mir, Euer Gnaden durch ein Geschenk beleidigen zu wollen. Vielmehr würde ich es mir zur Ehre anrechnen, das Geschenk Ihres Besuches entgegennehmen zu dürfen!«

»Sehr liebenswürdig, Herr Kanonikus,« sagte Yatsuma in seiner aufgestelzten Höflichkeit, »aber ich möchte mich nicht länger an einem Orte aufhalten, als es die Umstände unbedingt verlangen. Ich sehe die Versuchung wohl, die hinter der Anerkennung lauert. Die Anfeindung aber ist das Barometer meiner Rechtschaffenheit. Ich würde an mir irre werden, wenn die Ablehnung sich in Beifall wandelte, ich wäre gewiß, auf dem falschen Wege zu sein, wenn mir Ermunterung zuteil würde. Finsternis, Sturm und Unwegsamkeit sind meine Bahn –«

Es regnete. Eli wurde schon ungeduldig.

»Wie, bei diesem Wetter wollen Sie weiterreisen?« heuchelte Mendone. »Das ist natürlich nur bildlich gemeint!«

»Nicht bildlich, Herr Generaldirektor! Überlassen wir das den Poeten! Gerade jetzt im Sommer ist die Zeit günstig. Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Minister, verabschiede ich mich. Viel Glück! Meine herzlichsten Wünsche! Grüßen Sie Ihre Frau Gemahlin!«

Yatsuma verbeugte sich, der Doktor drückte ihm die Hand. Und ärgerte sich: wieder nichts! Wäre er nur allein gewesen, dann hätte er die Sache anders angepackt. Nein, ich hätte ihn einfach nicht loslassen sollen, sagte er sich, wenn es auch Eli nicht recht gewesen wäre. Zu spät, vorbei – –

»Wer war denn das?« fragte Benson, als sie fort waren.

»Entweder ein indischer Gelehrter oder ein vornehmer Perser. Jedenfalls, wie aus den wenigen Worten schon, die wir wechselten, hervorging, ein hochgesinnter Mann von vornehmer Kultur. Die Menschheit wird jeden Tag vollkommener. Er hat mich eingeladen, ihn in seiner Residenz –«

Yatsuma starrte Benson entgeistert an.

»Wann gehen wir hin?« fragte Benson. »Ach so, du schaust wegen meines Mantels? Den hat mir eine chinesische Fürstin aufgedrängt. Ich konnte nicht nein sagen, es wäre direkt undankbar gewesen. Die Dame hat mich auch eingeladen, es geht vorwärts mit uns beiden! Der Schah von Persien hat mir einiges Geld zukommen lassen, ich muß jetzt eine Halbe Bier trinken, sonst fall' ich tot um! Von dem Reden hab' ich mächtig Durst gekriegt. Aber es ist nur für meinen Gram! Vom Durst will ich überhaupt nicht reden.«

»Ich habe mich noch nicht bei dir bedankt«, sagte Yatsuma, »für deine Anteilnahme an meiner Rede.«

»Bitte, bitte, gern geschehen!«

»Wie durch deine Nähe und Verbundenheit, so fühle ich mich überhaupt im ganzen nicht mehr so einsam wie einst, nicht mehr mit meinen Ideen und Gedanken allein und isoliert, was ein fatales, entsetzlich trauriges Gefühl ist, sondern verbunden mit und getragen von der Welt. Die Einsamkeit ist der Gemeinsamkeit gewichen! Ein neuer Erfolg und Beweis der Fortbewegung der Menschheit!«

*

»Yatsuma läßt dich grüßen!« sagte Mendone, als er Eli den Arm bot. »Er sieht einigermaßen schwindsüchtig aus. Eine kleine Erholung würde ihm guttun. Ich habe ihn eingeladen, aber er hat dankend abgelehnt.«

»Zu uns? Aber Gilbert, das sollst du nicht tun!«

»Wieso?«

»Nein! Ich hätte direkt Angst vor ihm.«

»Der tut doch keiner Fliege was! Ich habe ihn wieder beobachtet: er ist eigentlich und überhaupt ein geographischer Narr.«

»Ist das so etwas Besonderes? Solche gibt es doch genug!«

»Gewiß. Aber wo jeder Mensch im Himmel ist, fühlt der sich in der Hölle. Nun habe ich ja auch schon manchmal die Ansicht vertreten, daß die Hölle nicht Hölle heißt, sondern Erde. Eine Geschmacksfrage. Er notiert seine Gedanken nicht anders als im Kopf. Eine Art und Weise der Schriftstellerei, vor der man Respekt haben muß, wenn man sieht, daß die leersten Köpfe jederzeit die vollsten Bücher anfertigen. Außerdem ist er zum Totlachen. Zum Beispiel finde ich großartig, daß für ihn die Jahreszeiten einfach nicht existieren!«

»Da ist doch nichts Großartiges dabei, die existieren ja für uns auch nicht! Bei uns zu Hause ist um diese Zeit der herrlichste Frühling und hier ist es immer noch Winter!«

»Du hast recht wie immer. Gestern noch so schön, heute schon wieder dieses Sauwetter – ein sadistisches Klima! So lange kein Bruchband für die Münchner Wolken erfunden ist, wird sich daran wohl wenig ändern. – Also dem Mann will ich helfen, darf es ihm aber nicht merken lassen. Wie macht man das?«

»Wenn es ihm wirklich schlecht geht, dann wird er sich auch helfen lassen. Und wenn er nicht will, dann wird es wohl besser sein, ihm nicht zu helfen.«

»Ganz so einfach scheint es mir doch nicht zu sein. Darüber zerbreche ich mir den Kopf schon länger –«

»Du hast immer mit allen möglichen Menschen zu tun. Ich sage nichts dagegen, aber ich weiß nicht, warum du dich gerade mit diesem Mann so viel beschäftigst. Eigentlich ist er doch nur ein ganz gewöhnlicher Narr!«

»Und waren nicht die Hofnarren die einzigen Menschen, die die Wahrheit sagen konnten? Das wäre für mich zum Beispiel der einzige Grund, warum es mich reizen könnte, König zu werden: daß ich mir einen Hofnarren halten könnte. Narren gibt es genug, aber nicht jeder ist begabt.«

»Ich weiß nicht – daß du dich so furchtbar für den Menschen begeisterst! Er ist ja auch kein Hofnarr, er ist überhaupt gar nichts!«

»Gar nichts?« Mendone blieb stehen. Was bedeutete diese Opposition?

»So komm nur, ich will hier nicht im Regen stehenbleiben!«

»Gut, wenn er gar nichts ist, dann ist er schon etwas! Denn heute ist doch das Nichts in jeder Beziehung und auf allen Gebieten schon mehr als das Etwas. Außer im Geldverdienen gibt es keinen Helden mehr. Weil er ein armer Kerl ist? Weil sein Anzug einige Löcher hat? Darum wäre er nichts? Meinst du so? Wo habt ihr Frauen eigentlich eure Augen? Auch die gescheiteste von euch sieht nicht weiter als von der Halsbinde bis zu den Lackschuhen. Gut, aber ihr sollt dann auch ehrlich sein und nicht sagen: dieser Mensch gefällt mir nicht, sondern: er hat schlechte Schuhe an! Und nicht: das ist ein entzückender junger Mann, sondern: er hat gut manikürte Umgangsformen! Ich meinerseits vertrete die dämliche Ansicht, daß ein großer Mensch in der niedrigsten Umgebung am erhabensten ist, daß er sich vor dem schmutzigsten Grund am strahlendsten abhebt!«

»Du bist heute wieder furchtbar streitsüchtig, ich merke es schon!«

»Streitsüchtig bin ich nicht, aber ich habe mir eben überlegt, daß ich mir den Bart werde abnehmen lassen!«

»Möchtest wohl auch auf die Wanderschaft gehen!«

»Wenn der Kerl andauernd in der Gegend rumgondelt, muß ich ihm doch etwas eifriger nachgehen. Mit dem Gluth, dem langweiligen Bruder, ist nichts anzufangen, also werde ich mich selbst auf die Beine machen. Mit meinem Bart würde er mich möglicherweise wiedererkennen.«

»Ich sehe schon, wie es kommen wird. Du wirft immer diesem Menschen nachlaufen, wirst dich und mich immer mehr vernachlässigen und unser ruhiger Haushalt wird darüber ganz in Unordnung geraten. Mit der Heirat, das sehe ich schon, wird es überhaupt nichts werden!«

»Das wäre schrecklich! Furchtbar: zu denken, daß ich nicht aufs Standesamt muß!« –

Man war zu Hause angelangt, der Abend drohte einsilbig und bedrückt zu werden. Da klingelte es, sie zuckten zusammen – Gluth!«

Auch das noch! dachte Eli.

Gott sei Dank! dachte Mendone.

»Gluth, Sie kommen mir gerade recht!« rief er ihm entgegen. »Kommen Sie herein! Fräulein Trondal hat heute Migräne, sie wird uns aber einen Tee brauen, bevor sie zu Bett geht!«

Nach Mitternacht verließ Gluth das Haus. Der Doktor hatte ihn energisch ins Gebet genommen und ihn genau informiert, was er zu tun habe, um die Verbindung mit Yatsuma herzustellen und aufrechtzuerhalten.

»Also, rufen Sie mich an! Die Nummer haben Sie! Wenn Sie das Notizbuch verlieren, schlagen Sie im Telephonadreßbuch nach! Ich hoffe, daß ich mich auf Sie verlassen kann! Wie gesagt, ich habe jetzt selbst mehr Zeit, nachdem ich das Krankenhaus an den Nagel gehängt habe. Es trug nicht viel ein, aber davon abgesehen, fiel es mir nicht einmal leicht, mich von diesem Gebiet meines Berufes loszumachen, aber ich habe ja meine Privatpraxis und gewisse philanthropische Liebhabereien. In dieser besonderen Angelegenheit brauche ich einen Mithelfer. Wenn Sie nicht wollen, dann sagen Sie mir's einfach!«

»Seien Sie ganz beruhigt, Herr Doktor. Sie können auf mich zählen. Sie werden sehen: ich werde ungeahnte detektivische Fähigkeiten entwickeln!« – – – –

Mendone konnte nicht gleich einschlafen. Vielleicht war der viele Tee schuld. »Du hast mit allen möglichen Menschen zu tun!« – »Im Grunde ist er doch überhaupt nichts!« – diese Worte, die ihm einen gelinden Stich versetzt hatten, rumorten in ihm. Das war doch ein unzweifelhafter und schlecht verhehlter Mangel an Verständnis und Instinkt für seinen eigentlichen, befriedigendsten Lebensinhalt! Gewiß, sie war nervös, die Heirat zog sich hinaus. Aber war es nicht eine gewisse Beschränktheit, ein Mangel an Großzügigkeit, den Haushalt zur Lebensgrundlage zu sanktifizieren, die wirtschaftliche Versorgung als das A und O des Daseins zu betrachten! Mit Yatsumas Beispiel vor Augen! Und noch dazu zu glauben, er, Mendone, könne seine Frau benachteiligen! Schwunglos? Klein, eng und feige? Wie oft hatte er ihr schon gesagt, daß sie seine Frau sei! Und daß maßgebend sei, was er ihr sage und nicht was andere Leute quatschen! Also war es, wenn sie einmal sein Wort hatte, doch erst recht unwesentlich, ob es nun noch vier Wochen oder fünf dauerte. – Die Verzögerung der Heirat war allerdings nicht allein auf die Beschaffung der Papiere zurückzuführen. Die konnte er schon längst haben, wenn er wollte. Aber sollte er es denn wirklich tun? War es nicht besser, es so lange als möglich zu bedenken? Denn was hat man eigentlich davon? Welche Hilfe, welche Erleichterung des Daseins, welche innere Bereicherung und Verschönerung des Lebens: wenn die Anteilnahme an den Lebensinhalten versagt? Ein anderes Verbundensein aber ist wertlos. Man ladet sich nur eine Sorge mehr auf den Hals. Vielleicht ist das eben überhaupt so? Und am Ende noch Vorschriften, Kritisieren, Dreinreden oder gar, wie leicht, wie rasch ist das geschehen, wenn der Mensch nicht reif ist: Feindlichkeit! Ich danke! Das könnte mir die gute Laune und meine bis heute noch gesunden Nerven ordentlich verkorksen! Ich werde es mir überlegen!

Aber vielleicht wird alles anders, wenn sie ihren Willen hat? dachte er noch. Weiberköpfe, wer kann da hineinsehen?

Und mit diesem etwas tröstlicheren Gedanken schlief er endlich ein.


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