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XLIII.
Haltet den Dieb

Das erinnert mich an den Asphaltsee von Trinidad«, sagte er träumerisch, als sie wieder am Kleinhesseloher See vorbeistapften. »Da drüben lag der Hafen von La Brea! Es könnte aber, trotz des polynesischen Charakters der Landschaft, auch der Gold- und Silbersee auf Kamtschatka sein!«

Benson hatte von der ewigen Geographie genug. Er betrachtete den See ohne jedes Interesse. »Gold und Silber wär' mir lieber,« brummte er, »komm, gehen wir links hinunter!«

Trotz der an diesem Tage erzielten Einnahme war er in gedrückter Stimmung. Der Gedanke, die Vortragstätigkeit seines Freundes besser auszubauen und organisatorisch immer mehr zu vervollkommnen, ließ ihm keine Ruhe; dabei verheimlichte er sich aber auch die Schwierigkeiten des Unternehmens nicht: der starre Widerstand Yatsumas, die Scherereien und Aufsässigkeiten der Polizei, der sie wieder mit knapper Not nur entgangen waren, und daß es auch beim besten Gelingen zuletzt doch immer ein elendes Dasein bleiben würde. Schon das Übernachten war ewig schwierig. Es kostete Geld, wie alles, und hatten sie keines, dann waren sie auf die Gutmütigkeit der sogenannten Mitmenschen angewiesen. Die aber waren in der Stadt und auf dem Land, heutzutage, wo es mehr Diebe gibt als Liebe, mehr Einbrecher als Wohltäter und mehr Mörder als Ärzte, gegen Gestalten mit Brüsseler Spitzen an den Hosen einigermaßen mißtrauisch und unzugänglich. Wie oft wurden sie abgewiesen, wenn sie verhungert und verschmachtet, halberfroren und zum Umfallen müde irgendwo anklopften. Sie sahen freilich verwildert und zum Fürchten aus; es gab zu viele gefährliche Subjekte, die einem die ganze Fahrt verdarben. Jedenfalls gefiel ihm Schwabing und München nicht mehr. Er fand, daß es vorläufig nicht schaden könne, wenn sie sich einmal außerhalb hielten, eine Zeitlang nicht mehr blicken ließen und dafür andere Gegenden unsicher machten.

Sie zogen durch die Hirschau nach Norden und waren nach einiger Zeit bis Garching gegondelt. Es wurde eben ein Jahrmarkt abgehalten. Sie gingen durch die langen Reihen der Verkaufsstände, an Schießbuden, Zauberkabinetts und Karussells vorbei, die melancholisch mißstimmige Weisen schmetterten, drängten sich durch die Menschenmenge und mußten achtgeben, nicht über die Stelzbeine und Prothesen der Krüppel und Bettler zu stolpern, die an allen Ecken und Enden mit und ohne Drehorgel auf dem kalten Boden saßen.

Yatsumas Blick fiel auf einen Stand, wo Ketten von kleinen Würsten wie Rosenkränze an den Holzschragen hingen. Je länger er sie betrachtete, desto mehr wurde ihm zur Gewißheit, daß es Regensburger waren.

»Ich hätte nicht gedacht,« sagte er, »daß man die Regensburger auch hier antrifft. Alles an seinem Platz, hieß es ehemals. Heute hängen Limonen, Granaten, Datteln, Bananen und Kokosnüsse in Regensburg und die Regensburger in Sansibar und Hongkong. Übrigens kann ich es immer noch nicht recht glauben. Es können auch ähnliche Würste sein oder auch etwas anderes. Man meint im Auslande öfter etwas Bekanntes zu sehen, das sich bei näherer Betrachtung als etwas noch nie Gesehenes herausstellt. Was meinst du, Benson?«

»Wer Pulver hat,« meinte er, »kann überall alles haben, wer nicht, überall nichts!«

Yatsuma drängte sich an den Stand und befühlte die Würstchen mit zwei Fingern. Es war unzweifelhaft, es waren Regensburger. Schon ihr charakteristisch würziger Geruch, der ihm verführerisch in die Nüstern stieg, hätte genügt ihn davon zu überzeugen.

Da er nun schon einmal vor dem Stand war, betrachtete er auch noch andere Wurstsorten, von denen ihm manche auch sehr bekannt vorkamen. Ob sich sein Magen dermaßen von diesen Herrlichkeiten angezogen fühlte, daß sich sogar seine unmateriellen Gedanken damit beschäftigten? Er stand eine ganze Weile da und bestaunte den Wurststand, wie andere Jahrmarktsbesucher das anatomische Wachsfigurenkabinett oder die Bude mit Zanquilla, dem Löwenweib. Auch Benson schienen die Waren zu interessieren. Traumverloren stand er da –

»Woran denkst du?« fragte Yatsuma.

»Ich? Ich überlege eben, daß es eine große Ungerechtigkeit ist, daß einer so viele Würste hat, daß er damit handeln kann. Und, weil er so viel hat, mit diesem Handel immer noch mehr Geld und immer noch mehr Würste bekommt. Während der andere nicht einmal so viel Geld hat, daß er sich nur eine einzige davon kaufen kann! Komm!«

Verächtlich wandte er sich weg. Der Fleischer hatte einen giftigen Blick auf die zwei verdächtigen Gestalten geworfen und zischte etwas nicht sehr Höfliches vor sich hin. Sie waren aber kaum einige Schritte gegangen, als ein mächtiges Geheul entstand, und plötzlich fühlte sich Yatsuma von zwei kräftigen Fäusten gepackt und herumgewirbelt wie ein Zahnstocher. Ehe er nur eine Sekunde Zeit fand, sich zu besinnen, empfing er von links und von rechts und von rechts und von links eine Serie von unheimlichen Ohrfeigen, die der Stärke und Geschwindigkeit nach, mit der sie fielen, von jemand kommen mußten, der in diesem Fach einige Übung besaß.

»Wart Bürscherl, dir werd' ich den böhmischen Zirkel austreiben!« knirschte der riesige Kerl. Seine roten Arme schossen aus den aufgestülpten Hemdärmeln wie Baumstämme. Er hielt Yatsuma an seinem putendünnen Kragen und die andere Hand frei nach hinten ausgestreckt, um ohne Rücksicht, ob es Yatsumas beschädigtem Gehirn von Nachteil war oder nicht, die begonnene Serie beim geringsten Muckser fortzusetzen. »Wo sind die Würste, will ich wissen!«

Yatsuma schaute ihn ratlos an. Benson hatte sich sogleich entfernt.

»Da ist gerade einer mit einem ganzen Kranz Regensburger hinuntergegangen!« wandte sich eine Frau an den Metzger. »Ganz gemütlich ist er davonspaziert!«

»Hast du die Würste nicht?« fragte der Riese.

Yatsuma bewegte furchtsam verneinend sein verbeultes Gesicht: »Nein –«

»Ja, das kann ich nicht wissen!« meinte er und ließ ihn los.

»Da ist er ja!« rief die Frau.

»Wo –??« Der Wurstmensch stürzte sich auf Benson wie ein Fleischerhund.

»Der doch nicht!« Die Frau rannte ihm nach. »Nicht der! Sie müssen doch die Augen aufmachen! Packt er da einen jeden an und den Dieb läßt er davonrennen!«

Benson war von dem Anprall zu Boden gestürzt, erhob sich und putzte sich ab. Seine Schachtel war ihm entfallen und ihr ziemlich heterogener Inhalt herausgekollert. Er fischte die Utensilien unter den Beinen und Füßen der Jahrmarktsbesucher zusammen, von denen ihm einer sein letztes Stück Brot zertrat. Yatsuma wischte mit dem Ärmel über sein Gesicht, das von den Fäusten des Metzgers ganz fett geworden, sonst aber noch so mager war wie immer, wenn nicht mehr, und befühlte seine drei Zähne, ob sie noch hielten. Stark gerötete Flecken und Streifen zogen sich über seine Stirne, die Nase und die Backenknochen.

Alles lachte.

»Hast du dir weh getan?« fragte Benson und hielt sich den Ellenbogen. »Ich muß mir eine kleine Hausapotheke zulegen, ich habe es schon lange vor.«

Yatsuma machte zu Bensons Verwunderung ein sehr stolzes und zufriedenes Gesicht.

»Es ergeht uns beinahe so wie Don Kischott!« sagte er. (Den hatte er also auch gelesen und nicht ganz ohne Folgen.) »Nur mit dem einzigen Unterschied,« fuhr er fort, »daß ich außer den Würstchen nichts und niemand angegriffen habe. Don Kischott hingegen war allerdings eine sehr aggressive und streitbare Natur!«

»Wer?«

»Don Kischott, die berühmte spanische Romanfigur!«

»Der kann von Glück sagen, daß er eine Romanfigur ist. Da ist er entschieden besser dran!«

»Er war ein großer Kämpfer und Idealist, der Ritter von der traurigen Gestalt, wie er genannt wird!«

»Also so was Ähnliches wie wir! Nur daß unsere Gestalt noch trauriger ist, weil wir keine Romanfiguren sind, sondern leider immer noch leben. Manchmal kommt es mir zwar schon bald so vor, als ob du eine Romanfigur wärst! Warum erbarmt sich keiner, warum bringt uns eigentlich niemand um. Sollen uns doch gleich den Garaus machen, dann weiß man doch wenigstens, was man hat, es gibt Räuber und Mörder genug! Wir sind noch nie einem begegnet, wir haben kein Glück!«

»Sei zufrieden, Benson! Ich gebe zu, daß die Zeit immer noch bitter und grausam ist, anders hätte ja auch meine Sendung keinen Sinn. Aber das erbärmlichste Leben ist immer noch wertvoller als der beste Roman!«

»Alles schön und gut, aber wenn einem der Kerl die Klaue ansetzt, daß dir acht Tage lang die Luft ausgeht, da ziehe ich einen unterhaltenden Roman immer noch vor. Wenigstens habe ich mir ein Paar zur Entschädigung geben lassen!« Er zog vier Würste aus der Tasche. Zwei hatte er schon gegessen. »Ich muß dann noch Brot dazu besorgen!«

»Wie hast du das gemacht?« fragte Yatsuma.

»Wie? Ich habe mich bei dem Wurstonkel bedankt. Ob er vielleicht glaubt, sag' ich, er kann mit einem berühmten Vortragskünstler Fußball spielen? Ob er sich auf dem Jahrmarkt da umsonst amüsieren will, wenn alle anderen Eintritt zahlen müssen? Ob er mich vielleicht noch einmal gütigst niederschlagen will, wenn ich mit einem Paar von seinen Pferdewürsten zufrieden bin? Oder ob ich ihn lieber wegen doppelter Körperverletzung von zwei Schwerkriegsbeschädigten anzeigen soll? All right!«

»Ich will morgen nichts essen,« sagte Yatsuma, »warten wir damit bis gestern. Es ist gefährlich, mit mir zu gehen, ich habe es dir vorausgesagt. Habe ich dir nicht prophezeit, daß das Amt des Jüngers noch undankbarer ist, als die Aufgabe des Herrn?«

»Das ist gleich,« sagte Benson, »jetzt ist es schon so. Das ist alles wurscht. Keine Geduld ohne Dornen. Entweder ich ergreife einen anderen Beruf, oder wir bleiben zusammen und wenn der ganze Schnee verbrennt! Mir ist alles schnuppe. Gestern hat mir wieder von meiner Frau geträumt! Sie hat die blaue Bluse angehabt und den weißen Hut auf, aber jung gefreit hat noch jeden gereut, und ein schöner Rücken kann auch entzücken. Warte einen Moment, der Maharadscha von Neufreimann hat mir Brot versprochen!«

Sie gingen aus dem Ort hinaus und verzehrten gemeinsam ihr Mahl. Aber Benson schmeckte es nicht recht.


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