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IV.
Amerika

An der Ecke der Feilitzsch- und Leopoldstraße laufen fünf Straßen sternförmig zusammen und bilden einen kleinen Platz, in den sich von der Nordseite ein Trambahnstationshäuschen mit putzigen, griechischen Säulen hereinschiebt, das zugleich eine unterirdische Bedürfnisanstalt ist. Ein dichtes Drahtgewirr überspannt den Schwabinger Stachus, wie der Platz genannt wird, gleich einem stählernen Spinnetz. Eines der Gleise, die sich da kreuzen und schneiden, läuft in einer Schleife, die allein schon ein Verkehrshindernis ist, um die griechische Trambahnkapelle herum. In den vierstöckigen Häusern sind verschiedene gutbesuchte Kaufläden, und mittags und abends herrscht hier, wenigstens in der wärmeren Jahreszeit, sogar ein kleiner Großstadtverkehr, ein Gewimmel, das für Eingeborene recht imposant aussehen kann. Besonders wenn gerade das Granitpflaster aufgerissen und ein halbes Kilometer Trambahnschienen erneuert wird, was allerdings die meiste Zeit der Fall ist. Heimkehrende Arbeiter und Angestellte überfüllen dann die Trambahnwagen, auf den Trottoirs und zwischen den Karren der Hausierer schieben sich einkaufende Hausfrauen, Ehepaare und junge und alte Feierabendbummler, kurz eine ganze Menge Menschen durcheinander. Ja, es ist schon vorgekommen, daß zwei Autos, drei Motorräder und vier Radfahrer zu gleicher Zeit über den trotz aller Reparaturen immer gleich holperigen Platz hopsten, ohne daß weiter ein Unglück geschehen wäre.

Es war um zehn Uhr am Vormittag des neunundzwanzigsten oder dreißigsten Januar, als Deschl an der Ostecke dieses Platzes, gegenüber der Schwabinger Brauerei, stehenblieb, seine langen Arme über den Kopf zusammenschlug und in ein eigentümlich krampfhaftes Gelächter ausbrach.

»Amerika!« rief er laut. »Ach, Amerika! Das bist du also!? So stehst du also aus, ja so siehst du aus!«

Und mit einer seltsam ekstatischen Bewegung streckte er den Arm aus, auf den Platz deutend, wie ein Wegweiser oder ein Hebel an einem Signalmast.

»Amerika!« schrie er. »Amerika! Hahaha!« Und krümmte sich vor Lachen fast bis zum Boden nieder.

Es war kalt und naß. Hin und wieder stäubten einige verirrte Schneeflocken durch die trübgraue Luft, als wären die Schneewolken über dem feuchten Dunst eingefroren und vermöchten nicht ordentlich zu schneien. Nur wenige Menschen waren auf der Straße. Dennoch erregte das sonderbare Benehmen des Mannes die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden. Aus einem Laden kam ein Friseurgehilfe, Frauen und Kinder, ein Trambahnschaffner blieben stehen, um dem sonderbaren Kauz zuzuschauen, der seinem ganzen Aufzug nach von einer Faschingsveranstaltung verspätet unterwegs war und dem nüchternen Publikum anscheinend aus dem Überschuß übernächtigen Witzvorrates noch eine kleine Unterhaltung bieten wollte.

Den Arm steif ausgestreckt haltend, war Deschl in einer Art grimmigem Ernst fortgefahren: »Gewiß, ja, deine Häuser sind einige Meter höher, Amerika, als unsere, unbestreitbar! Es sind in der Tat Wolkenkratzer! Was man interessant finden kann, wenn man will. Auch deine Straßen und Brücken sind belebter und stets unbedingt einen Kilometer länger als alle übrigen der Erde! Und dein Autoverkehr ist etwas lebhafter als der in Tuntenhausen, zugegeben! Aber sind deine Häuser nicht auch aus Stein, Amerika? Wie ich bemerke, sind die Dächer oben, die Fassaden vorne, die Rückfronten hinten und die Ladengeschäfte unten, genau so wie bei uns zu Hause! Die Räder deiner Automobile sind weder oval noch viereckig, außer vielleicht nach dem Autounfall, sondern rund! Ganz einfach und schlicht rund, so rund, wie nur etwas sein kann. Und deine Menschen sind, wie ich sehe –«, er betrachtete die kleine Gruppe von Neugierigen, die sich um ihn versammelt hatte, »ich will nicht unhöflich sein, aber auch sie stehen auf zwei überflüssig gewordenen Beinen, haben den Benzinauspuff mitten im Gesicht, die photographischen Linsen in den Augen und dieselben Hörrohre an den Seiten, die man früher Ohren nannte! Ach Amerika, Westindien, Mexiko und Grönland, wie würdest du deinen Yatsuma enttäuschen, wenn ein denkender Mensch enttäuscht werden könnte! Sie, verehrte Bürger, Abgeordnete und Skatspieler dieser Stadt,« wandte er sich mit gewinnender Freundlichkeit an die Umstehenden, »wissen noch nicht, wer Yatsuma ist, der Verkünder des Lebens –«

»Bis jetzt«, warf der Friseur unter dem Gelächter der Zuhörer ein, »sind Sie uns noch nicht vorgestellt!«

»– und werden es,« fuhr Deschl fort, »wenn nicht von mir, dann auch von niemand jemals erfahren. Daß es mit den originellen Unterschieden der verschiedenen Erdgegenden vorbei ist, ist uns nichts Neues mehr. Zwar ist das Land, die Schöpfung der Natur, von den Schöpfungen des Menschen noch nicht zu Boden gerungen. Noch eine kurze Zeit wird die Herrschaft und Pracht der Urwälder dauern, dann aber werden Ströme und Seen, Meere und Gebirge, Eisfelder und tropische Glutsümpfe verschwunden sein wie ein Märchen, und am nächsten Tag des Schicksals zur alten Macht und Größe wieder erstehen. Stromschnellen und Kaskaden, heiße Quellen und feuerspeiende Berge, Lawinen und Riesenwasserfälle werden eure Elektrizitätswerke und chemischen Lebensmittelfabriken wegblasen wie Streichholzschachteln! Aber nicht der Städte und nicht der Wälder wegen reist Yatsuma! Er geht zu den Menschen, und nicht eher, als bis seine Aufgabe erfüllt ist, wird ihn die Wildnis aufnehmen und vor zudringlichen Augen verbergen. Wo ist dann das Neue? müssen Sie fragen, denn Sie sind noch tot, während ich schon lebe. Das Neue, ihr Bubiköpfe von Chikago, ist das Kommende, das in mir schon da ist. Es liegt noch vor euch und schon hinter mir! Und doch lebe ich nur ein schwaches Beispiel seiner kommenden Größe und Herrlichkeit –«

Die Rede war nicht zu Ende, im Gegenteil, sie dauerte ziemlich lange und war oft sehr komisch.

»Den kann man so lassen!« bemerkte einer.

»Ein politischer Prophet, solche gibt's jetzt mehrere!«

»Armer Teufel, hat einen Sparren zu viel!«

Einige Zuhörer entfernten sich, andere blieben belustigt stehen, andere kamen hinzu, neugierig dankbar für die kleine Abwechslung, die der ewig gleichförmige Strom des Alltagslebens da wie eine exotische Erscheinung an den winterlichen Rand des Trottoirs gespült hatte.

Eine alte Frau, die gefüllte Markttasche am Arm, unterhielt sich wichtig mit einer anderen Alten, die einen Kinderwagen schob.

»Den kennen's doch, das ist doch der Deschl Georg von der Occamstraße! Beim Schreiner Bacher war er in der Lehr'!«

»Jessas ja, den kenn i freili! Freili, den kenn' ich gut!«

»Ein richtiger Taugenichts, kann ich Ihnen sagen! Nix arbeiten wollen, den Künstler markieren, keinen Pfennig Geld hamms g'habt hint und vorn, wissen's schon, wie's dann geht –«

»Was ist denn der Mann von Beruf?« wandte sich ein untersetzter Herr in elegantem schwarzen Überzieher (sein Vollbart war ebenso schwarz) an die Frauen.

»Ja mei, die Schreinerei hat er halt g'lernt, Herr Dokter, aber gefreut hats ihn nie nicht. Wenn man was richtn hat lassen, des hat gleich ein halbes Jahr dauert und ein ganzes auch, wenn's grad pressiert hat, bis man sein Sach' wieder kriegt hat. Keine Ehr' hat man überhaupts nicht ausgehoben bei ihm mit der Arbeit. Er hat halt lieber Musi g'spielt in die Wirtshäuser umeinand, die ganzen Nächt' durch, musikalisch is er schon, dumm ist er überhaupt nicht, der Tanzbär, können alles, wissen's, Herr Dokter, alles und nix, wie man sagt, nein nein, dumm is der nicht – wenn er nur net ganz überg'schnappt is –«

»Hat er denn Angehörige?« unterbrach der Herr den Redewasserfall. Er hatte sich eine Zigarette angesteckt und ließ den Rauch stoßweise aus dem Mund wehen, während er seinen ruhigen Blick durch die scharfen Brillengläser auf einen unbestimmbaren Punkt richtete. Es schien, als höre er der redseligen Frau nur nebenbei zu und als entginge ihm dafür aber kein Wort des absonderlichen Menschen, nach dem er sich manchmal umwandte.

»Wie meinen? Angehörige, nein, nein; die Eltern sind schon lange gestorben, er ist ja auch nimmer jung, muß schon über die Vierzig sein? Ja ja, freili, gut auch noch, neunzehnhundertacht war's, wie sei Mutter g'storbn is, es is nur grad schad um des Anwesen, damals war's noch sauber beinander –«

»Hält der Mann öfter solche Ansprachen?«

»Dem is noch nie was G'scheits eingefalln, überspannte Ideen hat er immer schon g'habt, wissen's, Herr Dokter, lauter Erfindungen machen wollen und dann springt doch nix dabei raus –«

»Guten Abend, meine Herrschaften! Ich empfehle mich! Bona sera!« hörte man jetzt den Deschl, oder, wenn wir ihm den Gefallen tun wollen, ihn bei dem Namen zu nennen, denn er sich selbst gibt, Yatsuma laut sagen. Dem etwas unzeitgemäßen Gruß, denn es war immer noch vormittags halb elf Uhr, folgte ein trommelfellzerreißendes Gejohle der Schulkinder, die ihn umringten. Er war schon um die Ecke verschwunden samt dem Schwarm, der hinter ihm dreintobte, und noch war das Gebrüll der Bande unvermindert laut zu hören. Man möchte es nicht für möglich halten, was die Sperlingskehlen von einem halben Dutzend solcher Knirpse für ein Indianergeheul hervorbringen können.

»Guten Tag!« sagte nun auch der Herr und lüftete verbindlich seinen Halbzylinder, der übrigens um die Zeit, da dieses vorfiel, gänzlich unmodern war.

Die Neugierigen verliefen sich, nur die beiden alten Weiber waren noch nicht fertig. Bald schickten sie sich an, zu gehen, dann blieben sie nach dem ersten Schritt schon wieder stehen, als hätte der Mechanismus der Zunge, sooft er ausgelöst wird, eine sofortige Lähmung der Beine zur Folge.

»… und wer war denn dann der Herr da? Der kommt mir so bekannt vor, den seh' ich so oft laufen, bereits jeden Tag begegnet er mir!«

»Das ist doch der Doktor Mendone, vom Schwabinger Krankenhaus is er, ein sehr feiner Mann; ein Menschenfeind soll er sein, hat aber schon Privatpraxis auch, in der Biedersteiner Straß' drunten, wissen's in dem alten Häusl gleich links, wenn man neigeht vom Bach her!«

»Ah ja, jetzt kann ich mich erinnern –«

Langsam, in ihr Gespräch vertieft, entfernten sich die Frauen.


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