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XIV.
Ein Moralischer

Yatsuma war niedergeschlagen. Er konnte sich nicht recht erklären, warum. Seine bisherigen Leistungen machten ihn zufrieden und glücklich. War es vielleicht die lange Einsamkeit, die der zivilisierte Mensch schwer erträgt? Manchmal ist es, wenigstens im nördlichen Europa, einfach die Witterung, die ihn krank macht. Aber es war an diesem Tag eigentlich klares Wetter, obwohl der Winter und der scharfe Wind, da es schon März war, etwas lange dauerten.

Ich weiß nicht, dachte er, ich habe doch schon immerhin einiges geleistet! Das soll mir mal einer nachmachen! Und doch …

Er blieb stehen und sah einem Flug Raben zu, die von dem verschneiten Acker mit schweren Flügelschlägen sich hochschwangen und in einem trägen Kreise sich wieder niederließen, wie schwarze, in Vögel verwandelte Gespenster, die irgend etwas Böses im Schilde führen. Und damit man ihre bösartige Absicht nicht merkte, hüpften sie arglos geschäftig hin und her und pickten mit den Schnäbeln die harte Erde.

Yatsuma hielt sie für ausländische Menschen und wollte sich ein wenig mit ihnen unterhalten.

»Guten Morgen, ihr Kondorgestalten!« rief er. »Wie geht es euch?«

Aber die finsteren Vögel taten, als hörten sie nicht und die meisten flogen davon.

Wieder ging er mechanisch einen Schritt und blickte starren Auges geradeaus, der winterlichen Landstraße nach, die zwischen Föhrenwäldern und flachem Moorgelände schnurgerade davon zog und fern im Grau versank. Weit und breit war keine menschliche Hütte zu sehen.

Und wieder blieb er stehen, mit einem Ruck, wie einer, dem plötzlich etwas ganz Besonderes eingefallen ist. Er betrachtete einen der mächtigen alten Pappelbäume, die, ich weiß nicht warum, immer noch an der Garchinger Landstraße stehen. Aber der erleichternde und erlösende Gedanke, der ihm noch eben ganz nahe vorgeschwebt, war, als er ihn fassen wollte, schon wieder verflogen …

»Ja, Alter!« sagte er und griff, wie man einen guten Freund an der Schulter faßt, an den rauhen, gerunzelten Stamm. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ganz plötzlich ohne jeden Grund so niedergeschlagen, eine traurige, meiner unwürdige Verfassung – Was sagst du dazu? Kannst du mir eine Erklärung geben?«

Der Baum sagte nichts. Er blickte ihn mit einem Astloch, aus dem das Harz troff, wie mit einem tränenden Einauge an.

Die Ursache von Yatsumas Niedergeschlagenheit, wenn sie auch ihm selbst verborgen bleiben mußte, war eine ganz einfache: er hatte, wie das bei Geisteskranken vorkommt, eine Art lichten Moment, durch den ihm einige unangenehme Wahrheiten aufdämmern wollten.

»Ich –« sagte er und wischte sich mit dem Rockärmel über die Augen – »ich kenne keinen Kummer aus Schmerzen und keinen Gram aus Gedanken. Mein Trost ist die Beschwerlichkeit, meine Leidenschaft hängt am Nichts wie der gewöhnliche Mensch am Besitz. Ich bin die heiterste Seele in einem betrüblichen Leib, der zuversichtlichste Mensch in einer hoffnungslosen Zeit, und doch bleibe ich nicht verschont von einem Grauen, das sich in mir breit macht wie ein Molch im tropischen Blumenkelch. Eine der größten Aufgaben, die je in der Welt unternommen wurden, habe ich begonnen. Das Reden ist gewiß eine häßliche Gewohnheit, aber dieses Ereignis wäre ausnahmsweise eine Rede wert, und eine bessere, als ich sie halten kann. Mein Reden ist eine Grabrede, bei der sich herausstellt, daß der Verstorbene ein vorbildliches Leben geführt hat, von dem man, solange er gelebt hat, nicht das mindeste gemerkt hat. Ich will nicht mehr reden, gewiß, aber wer hört mich hier? Ich kann mich mit mir unterhalten, wie ich will. Es scheint eben, auch die Seele hat ihre Zahnschmerzen, gegen die kein Heldenmut hilft: es kommt mir so vor, als müßte mein Projekt ein klägliches Fiasko erleiden. Eine dumme Mißstimmung nimmt mir allen Mut. Ein gewisses Schamgefühl zeigt mir meine Aufgabe im abgeschmacktesten Licht, will mich meiner Bestimmung abspenstig machen. Hol's der Kuckuk, ich glaube, es ist alles Quatsch, was ich da angefangen habe, genau so kommt mir's vor! Na ja, wenn schon. Was liegt mir daran. Dann ist es eben nichts. Was schadet das. Ich kann auch so leben!«

Er war sehr müde. Seine Art zu wandern war aber auch anstrengend. Er suchte sich die ungangbarsten Stellen auf der Straße aus, ging mitten durch die Pfützen, über Unebenheiten und Schneehaufen, oder stolperte auf den holperigen Steinen, mit denen die Straßen frisch geschottert sind. Es war sehr unangenehm, die spitzen Steine bohrten sich ihm buchstäblich in die Fußsohlen.

»Nein, nein!« rief er plötzlich. Und heulte, wie ein kleines Kind, das den Stock fürchtet.

»Nein, ich will nicht! Nein sage ich! Seid unbesorgt, ihr lieben Platanen! Es ist wahr, ich bin meinen Grundsätzen nicht immer treu geblieben. In den wenigen Jahren, seit ich unterwegs bin, habe ich schon zweimal, oder zweieinhalbmal, übernachtet und, wenn ich nicht irre, ebensooft Eßwaren angenommen. Es ist schändlich! Als ob ich dazu geboren wäre! Verzeiht, ihr lieben Fruchtbäume! Ich habe in den letzten acht Jahren kein Auge zugetan und ebensolange nichts zu mir genommen!«

Seine Füße waren wie Eisklumpen, er ging einige Schritte oder vielmehr ließ sich vom Sturmwind eine Strecke tragen, und stampfte den Boden. Dann fuhr er wieder fort:

»Seid unbesorgt, meine lieben Pendakusblüten, mein Entschluß ist keine unlautere Trunkenheit, keine gewöhnliche poetische Ekstase! Es ist das Schicksal, das unbeirrt seinen Gang geht. Gewiß ist es niederdrückend, sehen zu müssen, daß der Mensch begrenzt und eingeengt ist wie Länder und Bezirke auf der Landkarte, wenn er sich auch zum Größten berufen weiß. Aber: jede Einsicht hat etwas Trauriges, doch sie besitzen macht heiter. Als finstere grönländische Nacht zieht sie herauf und als durchsichtig klarer arabischer Sternenhimmel leuchtet sie herunter. Meine ganze Trauer ist nichts anderes, als daß ich einen Gedanken begriffen habe: den Unterschied zwischen dem hochfliegenden Projekt und der niederdrückenden Sorge, der siedeheißen Siegesgewißheit und dem zähneklappernden Selbsterhaltungstrieb: den Gedanken, daß die verwirklichte Tat neben dem feurigen Entschluß so trübe ist wie Laternenschimmer im sibirischen Winternebel.«

Wieder fuhr ein Windstoß in die Pappeln, beugte die Wipfel und riß da und dort das letzte, dürre, ängstlich zitternde Blatt, welches der Frost vergessen, davon. Yatsuma horchte auf das Brausen in den alten Ästen, das sich anhörte wie eine wunderliche Musik. Als es wieder still war, wandte er sich an die ganze Allee:

»Habt Dank, ihr Wächter des Urwaldes, für das mitleidige Gemurmel, welches durch eure Reihen geht! Ihr glaubt an mich, das höre ich aus dem gewaltigen Beifall und dem leisen Seufzen und Zittern, mit dem ihr meine Worte erwidert. Unaufhaltsam, das gelobe ich euch, unerschütterlich, ohne nach rechts und links zu schauen, werde ich meinen schwierigen Weg fortsetzen, obgleich ich schon seit mehreren Jahren keinen Schnupftabak mehr habe. Wenn auch kein Sterblicher gegen Witterungsumschläge gefeit ist, so habe ich doch die Melancholie als den Grund aller Krankheiten erkannt und ihr wie einer indischen Giftschlange den Kopf zertreten. Immer größere Leistungen werden mich kräftigen, ohne irdische Bedürfnisse, ohne einen Blick auf Zeiträume, Tages- oder Jahreszeiten werde ich meinen geographischen und seelischen Weg gehen. Meine Reise soll menschlichen Kräften unausführbar sein? Mit demselben Recht könnte man sagen, der Mensch kann ohne Essen und Schlafen nicht leben, und doch lebe ich immer so. Oder man kann in der Eiszone ohne Schuhe nicht marschieren, und doch werde ich diese da vorgestern wegwerfen müssen! Oder daß kein Mensch auf die Dauer allein bleiben kann, daß sich jeder der Welt anpassen muß, und was dergleichen wohlbekannte Weisheiten mehr sind. Das alles, ihr Aufrechten, sind Einwürfe des sogenannten gesunden Menschenverstandes, der noch nie, solange die Welt steht, einer großen Tat fähig gewesen ist!«

Er brach in ein lautes Lachen aus, dessen gespenstisches Echo vom nahen Wald schauerlich zurückhallte. Ein Windstoß fuhr daher mit solcher Gewalt, daß es ihn beinahe von der Straße geweht hätte.

»So ist es recht!« rief er. »Er bläst mir sein Abschiedslied und er meint es gut! Es ist echter, reiner Schirokko aus Kalifornien, von niemand hergestellt, unverfälscht und unverkäuflich! Laßt mich euch Lebewohl sagen, ihr lieben Geiergerüste, ich werde diese labradorische Gegend nie Wiedersehen, ihr unbeugsamen Trotzköpfe, ihr verwitterten, vom Taifun der Tropen, vom Eishauch des Nordens ausgedörrten Steineichen und Seidenbäume, ihr Ruinen einer Zeit, die nie mehr wiederkommen wird! Ihr Verächter aller Telegraphendrähte und billigen Nachrichten, ihr führt noch kein Hauptbuch darüber, wie viele Blätter ihr im Oktober ausgebt und wieviel euch der Frühling im Mai schuldet! Lebt wohl! Ihr habt mich verstanden – aber wer weiß, was mein Leben bringen wird und ob ihr mich dann noch begreifen werdet? Wer sich immer treu bleibt, der ändert sich am meisten. Wer unverbesserlich ist, nur der bessert sich. Und wer immer fort geht, dessen Umrisse verwischen und schließlich sieht man ihn nicht mehr. Lebt wohl! Möge ein gütiges Geschick euch davor bewahren, daß ihr einem Holzhändler in die Hände fällt, der seine Weltanschauung nach Kubikmetern berechnet!«

Er verbeugte sich nach allen Seiten und sagte den Bäumen Lebewohl. Während andere Geistesgestörte zur Lebensmüdigkeit neigen und nicht selten in einem Anfall von Schwermut sich das Leben nehmen, hatte er aus seiner Trauer Erleichterung, Begeisterung und Widerstandskraft gewonnen.

Er stieß einen langhallenden Freudenschrei aus und ging vergnügt und zufrieden davon.


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