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Die Tagesordnung des Regenten war so ziemlich immer dieselbe. Er arbeitete früh mit den Ministern und Räten, empfing dann Besuche, speiste zu Mittag sehr wenig; nach Tisch begab er sich wieder an die Arbeit, und gegen neun Uhr, hieß es, war er nicht mehr zu sprechen. Dies war die Stunde, wo er sich mit einigen Freunden und ein paar Damen seiner Umgebung einschloß und den Befehl gab, ihn unter keiner Bedingung zu stören. Dies waren die berüchtigten Abende des Regenten. Sie dauerten so ziemlich bis an den Morgen. Er speiste stark, trank ebenfalls und ließ jeder Lebenslust die Zügel schießen. Seine Gefährten bei diesen Festen, die das Äußerste von erfinderischer Lebenskunst und Ausschweifung enthielten, was das damalige Paris liefern konnte, waren die Roués, so genannt nach einem Witzwort des Regenten, weil sie gleichsam gerädert waren von den Strapazen der Sünde. Es gehörte dazu der Marquis von Canillas, der Herzog von Brancas, der Graf von Broglie und mehrere andere. Auch Dubois fand sich zuweilen ein. Die Frauen waren: Florence, eine Schauspielerin; die Demarets, Schauspielerin; Demoiselle Usé, Sängerin an der königlichen Akademie der Musik. Dann Fräulein von Serry, die den Namen einer Gräfin Argenton annahm; Frau von Parabère und die Herzogin von Phalaris.
Ein alter Diener des Regenten hatte den Mut, seinem Herrn zu sagen, als er einmal von ihm aufgefordert wurde, in die Gemächer einzutreten, wo die Feste gefeiert wurden: »Vergeben Eure königliche Hoheit, bis hier an die Schwelle geht mein Dienst, weiter nicht. Ich besuche nicht schlechte Gesellschaften.«
Und doch waren diese Feste nicht, was man schlechtweg üble Gesellschaften nennt, es waren von Geist und Leben durchblitzte Gelage, die neben dem, was die Sinne beschäftigte, aufregte und ermüdete, alles boten, wonach ein ausschweifendes Gemüt verlangen konnte. Es ist schwer, den Inhalt dieser Orgien wiederzugeben, da das Erzählbare nicht ihr eigentlicher Inhalt war, sondern vielmehr das, was jedem Versuche des Wiedergebens spottet, ein gewisses geistiges Aroma, das darüber schwebte gleichsam als Erzeugnis der höchsten Lebenskraft, durch die überfließenden Mittel jedes sinnlichen Reizes hervorgebracht. Die Gesetze, die die Welt kannte und ausübte, und die wir Sittlichkeit und Schamhaftigkeit mit ihren prosaischen Namen nennen, hörten hier auf, und an ihre Stelle trat jene unbeschreibliche Willkür, wie sie im Tumult der Sinne sich selbst die Gesetze ihres Handelns gibt. Alles war in diesem bewegten Meere Welle, und jede Welle war die Zerstörerin ihrer Vorgängerin, wie sie die Erzeugerin der nach ihr kommenden war. Gedichte, Witzworte, halbe Anspielungen, Scherze, die Wahrheit in sich schlossen und einem Philosophen Ehre gemacht hätten, wenn er sie auf dem Wege seiner ernsteren Meditation entdeckt hätte, Dithyramben, bacchische Ausflüsse, die an die Satiren Juvenals, zynische Erörterungen, die an die geistreichen, kecken Scherze des Petronius erinnerten, Arabesken im Stile des Aretin – alles bewegte sich bunt durcheinander, angefeuert durch die Wärme und Fülle nackter Schönheit, die in ihrem berauschenden Gehalt mit Mund und Arm gekostet wurde. Nie erlahmte der Scherz, nie fiel er auf die Erde, wo Plattheit und Ekel sich seiner bemächtigten, nie glitt er aus der freien, fühlenden Hand in die Regionen, wo freche Schamlosigkeit, widerlicher Schmutz ihn verunstaltet und befleckt hätten. Es war immer das Aroma der geistigen Lebens- und Zeugungskraft, der ihn umgab. Selbst die Trunkenheit hatte ihre Grazie, selbst der wollüstige Kitzel seine Schönheit.
Wir wollen versuchen, etwas von diesen Abenden wiederzugeben in den beschreibenden Worten des Regenten selbst, die er seiner Mutter machte, die ihn öfters über diesen Gegenstand ausfragte, weil sie wußte, daß sie von niemand besser die Wahrheit erfahren konnte. Er fand sie, als er zu ihr kam, in ihrem Medaillenkabinett, mit Ordnen der einzelnen Stücke beschäftigt. Die Sammlung war sehr reichhaltig und kostbar.
»Der Marschall von Villars«, sagte die Herzogin, »hat mir alles in Unordnung gebracht, er war da, um sich die Sammlung anzusehen, die ihm Boudelot erklärte. Ich winkte meinem guten alten Boudelot, daß er nicht so viel von Hörnern sprechen sollte, da bekanntlich der gute Marschall von seiner Frau mit diesem Schmucke reichlich versehen wird. Aber hüte du einen Gelehrten, wenn er sein Steckenpferd reitet; beständig kam er wieder auf den Jupiter Ammon zurück, den er für den Kopf des Hauptmanns Cornificius erklärte. Ich mochte winken, wie ich wollte, es half nichts. Später stellte ich ihn zur Rede; ja er hatte nichts gehört, und die ganz offenkundige Stadtgeschichte war ihm ein Geheimnis geblieben. Ich sagte ihm, daß die Marschallin von Villars mehr als einen Geliebten habe.«
»Während er den hübschen Jungen nachläuft,« erwiderte der Regent. »Haben Sie die Geschichte mit dem Prinzen von Eisenach gehört, der darauf bestand, ihn durchprügeln zu wollen?«
»Du siehst übel aus, lieber Sohn!« bemerkte die Herzogin. »Bist du gestern wieder sehr lange wach geblieben?«
»Ich bin gar nicht ins Bett gekommen. Heute morgen, gerade als ich mich hinlegen wollte, weckte mich Dubois. Er kam aus England, wohin ich ihn gesendet, und brachte mir ganz willkommene Nachrichten. Er ist doch zu allerlei zu gebrauchen.«
»Von mir hat der Schelm unter Tränen der Rührung Abschied genommen,« bemerkte die Herzogin. »Es fehlte wenig, daß er mir zu Füßen fiel, um mir für die Gnade zu danken, die ich ihm bei dir ausgewirkt, daß du ihn noch länger bei dir behieltest. ›Mein Herr,‹ entgegnete ich ihm, ›ich habe ganz im entgegengesetzten Sinne bei meinem Sohne gewirkt, mir haben Sie es wahrlich nicht zu danken, daß Sie sich noch bei ihm befinden.‹ Aber er blieb bei seinem Danken. Ich habe ihn laufen lassen. Mit dem Menschen ist im Guten wie im Bösen nichts anzufangen. Keine Beschimpfung haftet an ihm, denn er ist ehrlos, kein Lobspruch wirkt auf ihn, denn er hält alles für Lüge. Wie du ihn auch behandelst, er schlüpft immer durch und ist immer oben.«
»Er weiß die Menschen zu brauchen,« rief der Regent. »Du wirst ihn nur immer den Diener und den Hof machen sehen, wo die Macht ist. Er hat den Grundsatz: dem, der in Ansehen und Amt ist, dem halte das Nachtgeschirr, hat er beides verloren, so gieße es über seinem Kopfe aus.«
»Was habt Ihr denn gestern getrieben?« fragte die Herzogin.
»Kleinigkeiten,« sagte lachend der Sohn. »Wir erinnerten uns unserer alten Liebschaften und ich zählte die auf, die ich schon als Knabe gehabt.«
»Und als Jüngling,« rief die Herzogin. »Erinnere dich an die Königin von Spanien!«
»Nein, Mama, an diese erinnern Sie mich nicht! Es kann keine langweiligere Liebesgeschichte geben als diese. Die Fürstin hatte romantische Grillen im Kopfe, sie wollte als Ritterdame geliebt sein, voll chevaleresker Artigkeit, und nie ist mir etwas widriger gewesen, als solch eine platonische Liebe voll Augenverdrehen und bleichem Zuwinken. Auch bin ich bei ihr zu nichts gekommen.«
»Muß man immer zu etwas kommen?« rief die Herzogin.
»Versteht sich! Im Bette ist die Hauptsache. Ich mache die Sache derb und sinnlich ab. Meine Natur ist einmal so. Mondscheinphrasen, die laß ich andern. Auch will ich Abwechslung haben. Mich von einer Geliebten trennen, die mir lästig geworden ist, hat mir immerdar große Mühe gekostet. Zum Glück habe ich jetzt lauter leichtfertige Schönen, die mit mir einen Grundsatz haben: heute mir, morgen dir!« –
»Dabei achtest du auf deine Gesundheit nicht,« rief die Herzogin. »Wenn dir dieses Leben nicht unsittlich erscheint, so sollte es dir wenigstens ungesund erscheinen. Höre Chirac an. Er war gestern bei mir. ›Ihr Herr Sohn richtet sich zugrunde,‹ sagte er mir, ›diese reichlichen und späten Mahlzeiten, die Menge des feurigen Weines und die täglich sich wiederholende Aufregung machen ihn vor der Zeit alt.‹ Hast du die Demarets noch?«
»Gewiß, was ist gegen die zu sagen?«
»Daß sie eben für jedermann da ist. Nimm dich in acht, lieber Sohn, bedenke die unangenehme Überraschung, die dir die Condorcet machte im vorigen Jahre. Du hattest daran sechs Monate zu heilen. Und jetzt gerade, dein Auge bedarf sehr der Schonung und der Ruhe.«
»Es ist gut!« rief der Sohn. »Ich kann darauf schon wieder mit einem kleinen Schimmer sehen. Ach, meine teure Mutter, wozu leben wir denn? Wenn es nicht diese kleinen lustigen Impromptus sind, die zwischen die langweiligen Tage eingestreut sind? Später kommt doch Nacht und Dunkel. In der schrecklichen Öde des Nichtseins, da wird uns noch hier und da ein bloßer Schimmer von unserer jetzigen Existenz erquicken. Oder haben wir auch diesen Schimmer nicht einmal? Gut, so ist eben alles vorüber. Dubois hat recht, keinen dümmeren Gedanken gibt es, als sich eine Ewigkeit auszudenken, wo alles nochmals durchlebt wird, was wir hier erfahren, und wo uns ein langweiliger Präzeptor sagt: ›Dies war gut, jenes schlecht! Dafür verdienst du auf die Finger geschlagen zu werden, dafür eine Zuckermandel zu erhalten.‹ – Könnte ich nur in Massen die Menschen vor mir hertreiben, dem Abgrunde zu, und ihnen dann Zurufen: ›Da hinab, einfältiges Zeug, und kommt mir niemals wieder.‹ Es ist gar zu erbärmlich, wie diese Elenden handeln; ein großer, wenn auch verbrecherischer Gedanke geht in ihr Gehirn nie ein.«
»Wer war gestern bei dir?« fragte die Mutter.
»Florence, die Demarets und die Herzogin von Phalaris.«
»Wie, die elegante, schöne Herzogin mit dem Komödiantenvolk?«
»Sie war die ärgste. Als die Begeisterung auf eine gewisse Spitze gelangt war, räumten wir die Tische beiseite, und die Skizzen von Aretin kamen zur Darstellung. Die Herzogin war die erste, die alle Gewänder fallen ließ. Ein göttlich schönes Weib! Wir sogen uns fest an jeder reizend geschwungenen Linie dieses junonischen Leibes. Ihr Rücken, halb zur Seite gedreht, ein Anblick für Götter! Der Herzog von Brancas, ebenfalls entkleidet, lag zu ihren Knien, küßte ihr die Füße! Dann immer höher hinauf, bis er die Fülle der schönen Gestalt umspannt hielt und sie unter wahnsinnigen Küssen auf die Polster niederzog. Nichts Schöneres konnte es geben. Die kleine Demarets war schlank, fast mager, und die häßliche Gewohnheit, sich zu schnüren, hatte ihren Leib mit roten Strichen bezeichnet, die um die Taille liefen. Sie hatte zum Geliebten den kleinen Teufel Broglie, der wie ein Faun über sie herfiel und sie zusammenzauste; denn anders kann ich seine Manier, die Frauen wie ein Stück Wolle zu hecheln, nicht nennen. Er war dunkelrot im Gesicht, seine Augen funkelten wie Sterne, als es ihm endlich gelang, an den bläulich weißen Körper sich zu schmiegen.«
»Und du, mein Sohn?«
»Ich hatte den Aretin in der Hand und gab die Stellungen an. Florence saß neben mir und half mir.«
»Gestern habe ich sie im Theater gesehen, als Iphigenie, die Unschuld, die liebenswürdige Unbefangenheit selbst!« bemerkte die Herzogin.
»O, diese Weiber haben den Teufel im Leibe!« rief der Regent. »Und was ist es denn auch? Wenn wir die Ordnung der Welt, wie sie für uns Menschen gilt, umkehren, so sind das wiederum heilige Handlungen, und die Gebete an die Gottheit knüpfen sich daran. Denn an und für sich ist nichts dabei, was unbedingt verabscheuungswert wäre. Bevölkern Sie eine wüste Insel mit einem Menschenpaare! Es werden alsdann sich Mutter und Sohn, Bruder und Schwester heiraten, und alles das wird in dem Gedanken der Ordnung und der Natur liegen. Oder die Hingebung der Frauen, die wir tadeln, die wir vor der Welt als etwas Besonderes, Unerlaubtes verstecken, geben Sie das Gesetz, daß dieses Hingeben eine gottesdienstliche Handlung sei, und Sie werden sie auf offenem Markte geschehen sehen! – Das ist's, was alle alberne Heimlichkeit aus unserer Seele entfernt, wenn wir dergleichen ansehen oder es selbst tun: die Allmacht der menschlichen Natur! Wenn alles, was geschieht, erlaubt ist, so gilt es nur den dummen Blick des neugierigen, von außen zuschauenden Bauernflegels, wie wir unsere hausbackene, alberne Sitte nennen wollen, zu blenden oder zu betrügen.«
»Lieber Sohn, du weißt, daß das nicht meine Ansichten sind; wollen wir hierüber schweigen. Ich komme nur darauf zurück: du verkürzest dein Leben, du gibst dich diesem leichtfertigen, undankbaren Wesen hin. Das, was du hingibst, bekommst du nicht wieder.«
»Und wenn ich das, was ich hingebe, behielte, was wäre ich dann?« fragte der Herzog. »Der Phosphor, der in mir treibt, schafft in wenig Augenblicken mehr und Bedeutenderes zusammen, als wenn ich Jahre lang als sogenannte rechtliche Natur dasäße! Und darauf kommt doch alles an. Ich arbeite tüchtig, mir gelingt, was einem sittsamen, sparsamen, haushälterischen Manne, der mit der Ordnung der Welt zufrieden dahinlebt, nicht gelingt. In einer Minute fliege ich über Schwierigkeiten hinweg, die eine gewöhnliche Natur zu jahrelangem Grübeln und dann am Ende zu halber oder fehlerhafter Ausführung bringt. Ich kann zum Glück tun, was ich will, darum laß es mich auf meine Weise tun. Niemand werde ich so offen wie dir die innern Beweggründe meines Handelns sagen, deshalb fordere ich auch, daß du mit Nachsicht mich betrachtest. Ändern werde ich mich nie, denn alles, was ich tue und denke, fließt bei mir aus der Anschauung der Natur. Ich glaube nicht an die Liebe eines Weibes, ich glaube an keine sinnliche Aufopferung der Treue, ein Weib ist nichts für mich als –«
»Sprich es nicht aus vor mir!« rief Sie Herzogin. »Geh, du bist unverbesserlich!«
»Aber trotz dessen lieben Sie mich doch, Mutter?«
»Weil ich dich lieben muß!« rief die Prinzessin. »Weil du der Sohn meiner Schmerzen bist. Weil mein Herz, das so einsam im Leben geschlagen hat, in dir endlich seinen Gegenstand gefunden hat, und weil du ein ehrlicher, guter Mensch bist trotz deines Systems!«
»O, ich wußte es wohl,« rief der Prinz, »die Mutterliebe ist die einzige, wahre Liebe, deren ein Weib fähig ist. Gut, lassen wir es dabei: lieben Sie mich, weil Sie mich lieben müssen, ich werde Sie lieben, weil ich Sie lieben will.«
Hiermit endigte das Gespräch, das für beide Teilnehmer charakteristisch war.