Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1
Die Jugend der Prinzessin

Der Sommer des Jahres 1655 war ein besonders heißer; es standen bald nacheinander zwei Kometen am Himmel, die die Astronomen wie die Astrologen stark beschäftigten und aus denen die letzten allerlei prophezeiten, was auf die folgenden Jahre Bezug hatte. Dann herrschte im südlichen Deutschland eine Teuerung, die sich in der Gegend von Schwaben und Franken zu einer Hungersnot steigerte und in ihrem Gefolge Seuchen und Krankheiten brachte.

Um Heidelberg herum war die Atmosphäre rein und erquickend; sei es nun, daß das Neckartal diese Eigenschaft besonders an sich hatte, oder daß es eine besondere Gunst klimatischer Einflüsse war, die Milde und Klarheit der Luft, die Gesichertheit der Sonnenwärme, unangetastet von den mephitischen Dünsten, die sich überall anderswo entwickelten, herrschten hier ungestört und machten, daß die Reisenden besonders diese Gegend aufsuchten und, einmal hier angelangt, auch gern verweilten. Wir sehen zwei Wanderer besonderer Art vor uns, die die Straße des Neckartals hinaufwanderten und sich der Heidelberger Brücke näherten. Die Sonne hatte sich von dem Gipfelpunkt ihrer Macht bereits gesenkt, und die Schatten verlängerten sich; ein warmes Lüftchen bewegte die Baumgruppen und führte den Reisenden die Gerüche frisch duftender Blumen zu, die in der Umfriedung der Gärten standen, die zu beiden Seiten des Weges ihren Reichtum entwickelten. Diese Blumenwelt, im Verein mit den Bäumen der schönen Straße, die ebenfalls unter einer kostbaren Fülle reicher Blüten standen, bildeten eine entzückende und anmutige Umgebung, doppelt erquicklich für die Wanderer, da diese offenbar zum erstenmal diese Gegend betraten und ihren wundersamen Flor anstaunten. Es waren zwei Männer in reicher Kleidung; der eine, der ältere, war vom Kopf bis zu den Füßen in Schwarz gehüllt, mit einer schweren, goldenen Kette um den Hals. Er hielt den kleinen, mit Federn gezierten Hut in der Hand, wodurch das ausdrucksvolle Gesicht mit einem vollen, schwarzen Bart, mit kurzem Haar und schwarzen Augen ungehindert und keck aus den Spitzen der Halskrause hervorleuchtete. Der zweite war ein junger Mann von noch nicht vollen zwanzig Jahren, dessen Kleidung ebenfalls höhere Abkunft zeigte, dessen Manieren aber nicht die Eleganz und die vornehme Leichtigkeit seines Gefährten hatten.

Als sie die Brücke überschritten hatten, näherten sie sich einem kleinen Grasplatze, der innerhalb der Festungsmauern angelegt war und dazu bestimmt schien, für die Bewohner der Burg eine willkommene Stelle abzugeben, wo sie sich, unbelauscht und unangefochten von der übrigen Bewohnerschaft der Umgegend, ergehen konnten. Man sah von dieser kleinen, mit Laub und Blumen geschmückten Ebene, wenn das Tor der Brücke offen stand, auf das nahe Ufer und auf das, was daselbst sich ereignete, ohne doch wiedergesehen zu werden. Als die Fremden die wenigen Stufen hinaufstiegen, die sich hier, um in das Innere der Burg zu gelangen, zeigten, gewahrten sie, an das Gitter gelehnt, das hier den kleinen Garten umzäunte, ein Kind stehen und aufmerksam eine Gruppe spielender Kleinen betrachten, die sich am Ufer des Flusses tummelten. Der Ausdruck des Kindes, seine gespannte Aufmerksamkeit auf seine kleinen Gefährten dort unten, hatte so etwas Eigentümliches, daß die beiden Wanderer nicht umhin konnten stehenzubleiben, um die Kleine zu betrachten. Es war ein gesundes, frisches Mädchen von nicht voll vier Jahren, in einem Röckchen von rotem Stoffe, auf dem blonden Kinderkopfe eine hohe, mißgestaltete Mütze, von der ein schwarzer, kleiner Florschleier herabfiel. Die Kleine wandte, als sie merkte, daß sie Gegenstand der Neugierde war, ihre hellen, kleinen Augen mit dem Ausdruck besonderen Mutwillens zu den Fremden und tat ihr Verlangen kund, über die Umzäunung des Gärtchens gehoben zu werden.

»Willst du hinüber zu deiner Freundin, Kleine?« fragte der ältere der Herren das Mädchen, indem er an den Gartenzaun herantrat.

Das Mädchen sah den Mann fragend an; offenbar hatte sie die Sprache des Herrn nicht verstanden; erst als der zweite auf deutsch hinzusetzte: »Sollen wir dich hinüberheben?« nickte sie mit dem Kopfe, indem sie den Fuß auf eine der Sprossen der Umzäunung setzte.

Sie wurde hinübergehoben, und hier, nachdem sie einen flüchtigen Blick umhergeworfen und sich unbeobachtet sah, war sie mit wenigen Sprüngen hinunter an das Ufer und stand jetzt unter den Kindern, die sich neugierig um sie scharten. Sie ließ sich von vorn und vom Rücken betrachten, dann ergriff sie eines der Mädchen an den Händen und fing an sich mit ihm herumzuschwingen, so daß der schwarze Schleier an ihrer Mütze im Winde flog. Dann rief sie aus: »Nun singt euer Lied nochmals! Ich kenne es und will das Spiel mit euch spielen.«

Alsobald ordnete sich ein kleiner Zug; das kleine Mädchen ging voran, und die andern sangen. »Du bist der Sommer!« sagte ein hübscher Bube, indem er vor der fremden Kleinen einen Kratzfuß machte; »oder willst du lieber die Fürstin sein?«

»Ich bin die Fürstin!« erwiderte das Mädchen stolz.

Und der ganze Kreis sang:

»Nun sind wir in den Fasten,
da leeren die Bauern die Kasten.
Wenn die Bauern die Kasten leeren,
wolle uns Gott ein gut Jahr bescheren.
Strü, strü, stra! Der Sommer der ist da!«

Und sich zu ihrer Umgebung umwendend, wiederholte die Kleine: »Strü, strü, stra! Der Sommer der ist da!« –

Es war ein liebliches Bild, am Ufer des Stroms die lustige Kinderwelt spielen zu sehn. Die beiden Fremden ergötzten sich daran, und der ältere sagte, indem er auf das Mädchen wies: »Die kleine Dicke möcht' ich mit mir nehmen, sie wäre ein guter Spielkamerad für meinen trübseligen Philipp!« –

»Ach!« rief der andere, »was fällt Ihnen ein, bester Oheim! Gibt es denn im schönen Frankreich nicht der lustigen Kinder genug; müssen wir nach Deutschland gehen, um da zu plündern?«

»Ich liebe dieses Land, das eigentlich uns gehört und das uns auch noch einmal zufallen wird!« rief der ernste Mann mit einem lächelnden Ausdruck, indem er über die Schulter herüber seinen jungen Gefährten anblickte. »Gefallen dir denn diese schönen Ufer nicht, Gaston? Das ganze ist ein Garten, und dazu das schöne Schloß dort oben. Wie prachtvoll muß es sich hier leben lassen!«

Der junge Mann schien von dem Enthusiasmus seines Gefährten nichts zu begreifen. Er neigte bejahend das Haupt, war aber mit seinen Gedanken bei der Kleinen unten am Flusse.

Plötzlich ließ sich ein ängstlicher Schrei hören. Die beiden sahen sich um und bemerkten jetzt eine ältliche Frau, die ängstlich im Gärtchen hin und her irrte und jemand zu suchen schien. Es zeigte sich alsbald, daß sie das Kind vermißte, das sie hier spielend verlassen hatte.

»Madame suchen die Kleine!« hob der ältere Herr an, »sie ist dort unten.«

»Ich danke Ihnen, mein Herr,« erwiderte die Frau französisch, »aber wie ist sie dort hingekommen?«

»Ich habe sie herübergehoben,« erwiderte die ruhige und feste Stimme des Mannes.

Die Frau blickte erstaunt den kühnen Befreier ihres Schützlings an und sagte dann: »So eilen Sie, sie wiederzuschaffen. Es ist die Tochter des Kurfürsten. Es ist uns nicht erlaubt, diesen Garten zu verlassen.«

»Beruhigen Sie sich, Madame!« hub der jüngere an. »Sogleich soll sie wieder da sein!«

Er eilte die Stufen hinab und kam mit dem Kinde auf dem Arme bald wieder. Er hob es von neuem über den Zaun und legte es in den Arm der Frau, die es mit sanften Worten schalt.

»Nicht böse sein, Mutter Joli!« rief die Kleine. »Sie spielten unten und sangen das bekannte Liedchen; da mußte ich dabei sein! Du siehst ein, es ging nicht anders, ich mußte dabei sein.«

»Das war durchaus nicht nötig!« rief die Frau. »Ich sehe, ich kann dich nicht eine Minute allein lassen. Papa hat recht, wenn er sagte: ›Es ist uns eine ungehorsame Tochter geboren worden.‹«

»Schon wieder sagst du das!« rief das Kind, halb weinend und mit dem Fuße stampfend, »der Vater sagt das nicht; er kann es nicht sagen, aber du, du sagst es, nur um mich zu ärgern, böse Mutter Joli!«

Die Alte sah mit einem Ausdruck von Zufriedenheit in das blühende, erhitzte Gesicht der Kleinen, dann sagte sie zu beiden Männern: »Meine Herren, darf ich um Ihre Namen bitten, damit mir wissen, mit wem wir die Ehre haben.« –

»Nennt mich, liebe Dame, General Duprez, und dieser hier ist mein Neffe, der Marquis von Rohan.«

»Ah!« rief die Frau respektvoll, und die beiden Herren der Kleinen vorstellend, sagte sie: »Hier, Madame, ist der Herr General und der Herr Neffe des Generals, die das Vergnügen haben, Euch vorgestellt zu werden. Nehmen Sie Ihre Mütze ab und grüßen Sie.«

Das Mädchen tat, wie ihr geheißen, mit einem feinen und zierlichen Anstande, dann wieder die Kopfbedeckung mit dem Schleier aufsetzend, rief sie mit kindlicher Freude, halb zu ihrer Erzieherin gewendet: »Was sagst du, Mutter, wenn ich die Herren oben in die Burg führe? Ihnen zeige, was sie sehen wollen? Der Vater ist nicht zu Hause, und die Mutter hat sich eingeschlossen. Niemand wird uns stören.«

Auf eine Kopfneigung der Mademoiselle Joli erfaßte die Prinzessin die Hand des Generals und führte ihn den Gang hinauf. Der junge Mann und die Gouvernante folgten.

Oben angelangt, waren die Fremden erstaunt über die reiche Aussicht, die sich von dem Plateau des Burghofes ringsumher dem Auge bot. Das ganze, schöne Neckartal, mit seinen Hügeln und Tälern lag vor ihnen, und durch die Ebene schlängelte sich der Fluß, dessen Ufer alte Burgen und neue Anpflanzungen zierten. Rundum schmückten Statuen den innern Burghof und gaben mit ihrer majestätischen Ruhe dem Ganzen den Charakter einer wahren Königsburg, die stolz und sicher die Gegend beherrschte.

»Das sind sämtlich meine Väter,« sagte die Kleine, auf eine Treppenstufe sich stellend und auf die steinernen Gestalten zeigend. »Dies hier ist der Georg, dies der Wilhelm, jener der Heinrich! Sie haben alle gelebt, Gott weiß, wann, aber sie sind alle Herren des Landes gewesen, und ich – ich stamme von ihnen!«

Der Ausdruck des Stolzes, des Selbstbewußtseins, mit dem die Kleine diese Worte sprach, hatte so etwas Eigentümliches und Komisches, daß die beiden Herren lachten und der ältere auf das Kind zulief, es in seine Arme schloß und einen Kuß auf seine Wangen drückte, indem er dazu rief: »O du niedliche Kleine! Sage mir, freust du dich auch, so große Herren zu deinen Vorfahren zu haben?«

Das Mädchen sah ihre Erzieherin an, und dann antwortete sie langsam: »Ich darf es eigentlich nicht sagen, man hat es mir verboten, aber ich sage es doch: Wir sind viel reicher als der Kaiser in Wien, denn meine Papas sind älter als er und seine Papas. Mein Großvater war König. Und wenn ich einmal heirate, werde ich auch nichts anders als einen König nehmen.«

Madame Joli mischte sich hier ins Gespräch, indem sie rief: »Lassen Sie sie, meine Herren, Sie hören, sie spricht töricht. Man muß auf Kindesworte nicht achten.«

»Ich spreche nicht töricht, ich rede die Wahrheit!« rief das Kind entrüstet. »Wenn die Herren mich hören wollen, so laß sie doch! Mußt du denn immer dazwischenfahren?« –

Die Herren und die Gouvernante lachten über das zornrote Kind, das beschämt darüber sich in den schwarzen Schleier wickelte und hinter der alten Dame sich versteckte. Indem kamen noch ein paar Herren hinauf, die die ersteren zu suchen schienen. Sobald sie sie entdeckten, entblößten sie ihre Häupter und blieben ehrfurchtsvoll stehen.

»Sind die Wagen in Bereitschaft?« fragte der ältliche Herr.

»Sie sind's, gnädiger Herr!« erwiderte einer der Männer.

»So laßt uns gehn.« Er wandte sich an die Erzieherin. »Haben Sie Dank, meine Dame,« sagte er, »für Ihre Güte, mit der Sie uns hier aufgenommen. Melden Sie Ihrem Herrn, daß wir als Reisende unsere Straße ziehen, sonst würden wir uns die Ehre geben, ihm auszuwarten. Und Sie, mein Prinzeßchen, geben Sie uns die Hand zum Abschiede.«

Das Kind war durchaus nicht erstaunt, als sie erfuhr, mit wem sie sprach. Sie hielt ein kleines, goldenes Bildchen in ihren Händen, das der junge Mann an einer Kette trug. »Wen stellt das vor?« fragte sie den Prinzen.

»Einen Heiligen, wie Sie hier mehrere sehen!« erwiderte der junge Mann.

»Gebt es mir!« rief die Kleine; »ich liebe Bilder, ich möchte es haben.«

Ohne ein Wort zu erwidern nestelte der junge Mann das Bild los und gab es der Prinzessin. »Dafür sollst du einen Kuß haben,« sagte das mutwillige Mädchen. »Da du ein Marquis bist, kann ich dich küssen.«

Der Kuß wurde gegeben, unter herzlichem Gelächter der beiden Herrn, und die Gesellschaft trennte sich. Der Graf und der Marquis gingen voran, die Herren aus ihrem Gefolge begleiteten sie. Madame Joli stand noch lange mit der Kleinen auf dem Arme und sah die fremden Herren über die Brücke gehen und drüben sich auf der Landstraße verlieren.


 << zurück weiter >>