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Während dieses Streites des Herzogs mit seinem Beichtvater irrte der Chevalier von Lorraine durch einen entfernten Stadtteil von Paris, um zu dem Kloster der Benediktiner zu gelangen, wo sich der alte Marquis von Lorraine, sein Vaterbruder, niedergelassen hatte, um dort in Ruhe seine Tage zu beschließen.
In einem einfachen Zimmer, doch mit den passenden Bequemlichkeiten für einen Mann von seinem Alter versehen, saß der Marquis und las eben in einer alten Chronik, als der Diener seinen Neffen meldete. Der Besuch war ein seltener. Der Marquis in seiner Einsamkeit hatte nur dunkel munkeln hören, daß sein Neffe auf schlimme Pfade geraten sei und nichts tauge. Er hatte deshalb keine große Neigung, ihn wiederzusehen, und war dem jungen Manne sehr dankbar, daß er ihn mit seinem Besuche verschonte. Jetzt kam ein solcher. Es war dem alten Herrn eine Pflicht, die er seinem verstorbenen Bruder schuldig zu sein glaubte, ihn anzunehmen, und er gab dem Diener den Befehl, den Chevalier einzuführen.
Onkel und Neffe hatten sich im Zeitraum von zehn Jahren nicht gesehen. Damals war der Chevalier ein junger, blühender, von Gesundheit und Lebensmut strotzender Jüngling, das leibhafte Ebenbild seines Vaters, als er so jung war und mit dem Marquis zusammen auf Abenteuer ausging, die immer damit endigten, daß der eine oder der andere in die Bastille gesperrt oder von kecken Wegelagerern geplündert wurde, während sie eine reiche Witwe zu plündern gedachten. Der Marchese war zuerst zur Vernunft gekommen und hatte sich mit einer Erbschaft, die er sehr zur rechten Zeit gemacht, zur Ruhe gesetzt. So leichtfertig in der Jugend, war er jetzt ein strenger, mißtrauischer, geiziger Alter geworden, der sich von niemand auch nur einen Groschen ablocken ließ. Er hörte kaum die Rede seines Neffen, der ihm sehr verändert vorkam, mit jenem Lächeln an, womit alte, harte Geizhälse die Worte derer anhören, die hilfesuchend zu ihnen kommen. Seinen von wenig weißen Haarlocken umspielten Scheitel bedeckte ein Käppchen, und seine Stirn, die in zahllose Falten gelegt war, verlor sich in zwei buschigen, dichten, weißen Haarbüscheln, die die Augenbrauen bildeten.
»Wie ich höre, dienen Sie dem fürstlichen Herrn, dem Herzog von Orleans!« sagte er zu dem Neffen, nachdem er dessen Gesuch um eine Summe Geldes ruhig angehört hatte, ohne etwas darauf zu erwidern.
»So ist's, mein teurer Oheim!« rief der Chevalier.
»Alsdann wird er Sie auch reichlich bezahlen!« war die Antwort des grämlichen Alten. »Ich habe damals, als ich Sie in die Welt einführte, Ihnen dasjenige mitgegeben, was Ihnen zukam. Hätte ich Schätze, ich würde eilen, sie mit Ihnen zu teilen, denn Sie sind der Sohn meines Bruders; aber ich habe keine. Was ich nötig habe, gibt mir der Abt des Klosters, der aus den Tagen meiner Jugend her mein Freund ist.«
Der Neffe fluchte im geheimen dem Geize des Onkels und schalt sich, daß er hergekommen sei. Dennoch wollte er noch einen Versuch machen, ehe er ging. »Mein Herr gibt mir zu Ende dieses Monats fünfhundert Louisdor,« sagte er, »alsdann werde ich Ihnen diese Summe, die ich jetzt von Ihnen zu entlehnen wünsche, mit Vergnügen zurückzahlen.«
»Das glaube ich, mein junger Freund!« sagte der Oheim. »Junge Herren pflegen immer wiederzuzahlen! Allein, wo nichts ist, da hat der Kaiser das Recht verloren.«
Der Oheim und der Neffe trennten sich; der letztere wütend über diese Enttäuschung mit seinem Verwandten, die er jetzt gemacht, und willens, ihn entgelten zu lassen, wie er gegen ihn verfahren war. Der Oheim gab den Befehl, besagten Herrn nicht wieder vorzulassen.
Ohne Verzug eilte der Chevalier weiter. In die dunkelsten und engsten Straßen versenkte er sich, um den aufzufinden, den er jetzt suchte, und der Gründe hatte, sich so weit aus dem Bereich der Gesellschaft und des Lebens zurückzuziehen. In den Stadtteil, wohin er jetzt kam, war er bisher nur in Gesellschaft von Genossen, die eine gute Klinge führten, gedrungen. Es war durchaus nicht rätlich, sich ohne eine solche Begleitung in den dunkeln Winkel, wohin er gelangte, zu begeben. Dennoch war sein Geldbedürfnis so groß, daß es keine Verzögerung duldete.
Ein Trümmerhaufen, von der Zeit geschwärzt, und kaum einem bewohnbaren Hause ähnlich, stand vor ihm. Der Chevalier suchte nach dem Eingange und entdeckte mehrere Fuß von der Erde eine kleine Tür. Es war unmöglich, ohne Treppe hinaufzugelangen, und er blickte zu einem der kleinen, trüben Fenster hinauf, in der Hoffnung, daß auf sein leichtes Husten sich jemand zeigen werde, der ihm den Eingang erleichtern oder überhaupt möglich machen würde. Die Hoffnung betrog ihn nicht. Nach einer Weile öffnete sich das Fenster, und ein Kopf steckte sich heraus, von dem man nicht sagen konnte, ob er dem männlichen oder weiblichen Geschlecht angehörte. Im Lichte des wenigen Tagesschimmers, der in diese Regionen der Verkommenheit und des Elendes fiel, sah man einen Schädel, dem die Hälfte der Nase fehlte, der wild mit Haaren überwachsen war und dadurch die Mißgestalt des Mundes, oder der zahnlosen Höhle, die dessen Stelle einnahm, verdeckte. Mit dem einen Auge, das diesem wüsten Kopfe geblieben war, starrte die Ungestalt auf den unten befindlichen Gast und eine rauhe, finstere Stimme rief die Worte: »Wer sind Sie?«
»Teufel, Männchen, kennst du mich nicht mehr?« entgegnete der junge Mann ebenso leise hinauf. Ein tiefer Ton, der halb wie ein Lachen, halb wie eine Verwunderung klang, tönte dagegen, und die Gestalt verließ das Fenster. Die Tür wurde geöffnet und von innen eine Treppe hinabgelassen, mit deren Hilfe der Chevalier diese Burg erstürmte, die sonst für ihn unbesiegbar gewesen wäre. Nachdem er hinaufgelangt war, wurde die Treppe wieder heraufgezogen und die Tür geschlossen.
In einer Art Küche, die mit allerlei Geräten von besonderem Bau angefüllt war, und auf deren Herde ein Feuer brannte, bewegten sich zwei Schatten, die man nur erkennen konnte, wenn das Auge sich an die herrschende Finsternis gewöhnt hatte. Von diesen zwei Schatten war der eine der Besitzer dieser Wohnung, ein zusammengekrümmtes Männchen von einem zweifelhaften Alter, denn allerlei Umstände, die sonst nicht in dem Laufe der Natur zu liegen pflegen, hatten hier eingewirkt, den Träger dieser unglücklichen Mißgestalt zu dem zu machen, was er jetzt war. Es mochte ein Mann nahe an den Fünfzigen sein; sein Gefährte war bedeutend jünger, doch hatte er ebenfalls das zusammengezogene, gekrümmte und verzerrte Wesen angenommen, das an seinem Herrn bemerkbar war. Von diesen zwei zwerghaften Kobolden wurde der Chevalier mit Freuden begrüßt, als sie ihn erkannt hatten. Er wurde auf einen Sitz geführt, der gepolstert und nahe an das Fenster gerückt war, wo man die schöne Aussicht bewundern konnte, wie der Herr der Wohnung sich ausdrückte, und womit er den Blick auf die nächsten Dächer und Dachöffnungen meinte.
»Wie geht es dir, mein Bruder?« fragte ihn der Wirt.
»Wie du siehst, Mathieu,« antwortete der Chevalier, »nicht so gut wie dir. Du bist dein eigener Herr und hast deine Wohnung für dich.« –
»Ja, die habe ich,« rief der Zwerg, indem er Anstalt machte, sich neben dem jungen Hofmann niederzusetzen, es aber so unglücklich traf, daß er an dem Sitze hinabrutschte, bis er endlich kniend die gehörige Stellung fand, die ihm möglich war. »Ja, die habe ich. Gott sei Dank, man hat mich vergessen, und ich bin ungestört.«
Der Chevalier warf einen Blick auf die armselige Figur zu seinen Füßen, und sagte dann in mitleidigem Tone: »Armer Mathieu! Die Henkersknechte haben dir arg mitgespielt! Du hast ja kein einziges gesundes Glied mehr am Körper!«
»Du scherzest!« rief der Krüppel. »Sieh hier, meine Faust, der fehlt nichts als der kleine Finger, den man leicht entbehren kann. Das Armgelenk haben sie mir zerbrochen, doch es ist anders wieder zusammengewachsen, so daß ich den Arm zu schließen scheine, wenn ich ihn öffne. Aber bemerke einmal mein Untergestell! Da wirst du nichts in Ordnung finden. Beide Beine in ihren Gelenken gebrochen! Die Füße verdreht! Aber ich hielt auch den strengsten Grad der Folter aus! Das will etwas sagen. Nicht der hundertste Mann kann es, ohne zu erliegen. Ich sage dir, Chevalier, ich trat in die schwarze Kammer als ein gerade und schlank gewachsener Mann, und eine Stunde auf dem verfluchten Bette hatte mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Aber nicht ein Wort haben sie aus mir herausbekommen!« –
»Schrecklich, armer Mathieu!«
»Als sie mich fortbrachten, rief einer der Schinderknechte: ›Wo sollen wir diesen Haufen Knochen und zermalmter Muskeln hinweisen?‹ – ›Meine Wohnung ist Straße aux petits compagnons!‹ erwiderte ich. Da sahen sie alle einander an, und jedem lief es eiskalt über den Rücken, daß ich in diesem Zustande noch Zeit zu einem Witze hatte. Ja, der Mensch kann viel aushalten, davon bin ich Zeuge und Beweis. Der Prozeß wegen der Lavoisin und der Vigoureux wütete damals aber in seiner ärgsten Strenge. Man hatte die Weiber gefoltert und von ihnen nichts erfahren, nun kam ich daran. Man wußte, ich war mit ihnen stets beisammen, zugleich war ich bekannt mit mehreren Herren des Hofes, aus mir mußte nun alles mit des Teufels Gewalt heraus. Und gerade aus mir bekamen sie gar nichts zu hören. Darum ihre Wut. Ich sehe den Herrn von Laregni noch vor mir, wie er mir zähneknirschend zurief: ›Foltert mir den Vagabunden, er weiß alles! Er muß bekennen!‹ Wenn ich hätte bekennen wollen, so manche Herzogskrone hätte auf dem Haupte gewackelt. Die Herren sind aber erkenntlich; ich bekomme manches Geschenk von unbekannten Händen zugeschickt! Nicht wahr, Belphor?« –
Der Diener nickte mit dem Kopfe.
»Schicke ihn fort!« rief der Chevalier leise Mathieu zu. »Ich habe mit dir ein paar Worte ohne Zeugen zu sprechen.«
Nachdem Belphor fortgegangen, bog Mathieu sein Ohr seinem Freunde hin, der jetzt hineinzuflüstern begann. Der Krüppel blickte ihn verwundert und lächelnd an. »Geld willst du von mir? He, ich habe keins!«
»Scherze nicht, mein Bruder!« sagte der Chevalier mit ernster Miene. »Ich weiß, daß du auf Geld sitzest. Auch will ich es dir nicht entziehen. Du sollst alles, was ich jetzt von dir nehme, im Verlauf eines Monats wiederhaben. Teile mir etwas von deinem Pulver mit.«
»Von meinem Pulver? Kind, das ist schon lange in die Seine geschüttet!« rief der Krüppel seltsam lachend, wobei sein verstümmeltes Gesicht besonders schrecklich aussah.
»Du hast noch welches!« rief der Chevalier.
»Und Pulver und Geld willst du beides von mir haben?« fragte Mathieu.
»Das eine ist das Mittel, das andere dir wiederzuschaffen.«
»Kind, ich habe weder das eine, noch das andere!«
»Keine Narreteien!« rief der Chevalier, »oder du machst mich ernstlich böse. Wir kennen uns!«
»Ja, das tun wir!« antwortete der Krüppel lachend. »Ich weiß auch, wie der hübsche, freche Bursche, der Madame die Untertasse nahm und sie bei dieser Gelegenheit mit dem Pulver füllte, wie er mir sagte, auf dich zeigend: ›Hier ist jemand, der uns einst von Nutzen sein wird.‹ Hahaha! Du warst damals fast noch ein Kind.«
»Die gute Henriette!« rief Lorraine. »Daß sie sterben mußte.«
»Und nun soll es wohl über ihre Nachfolgerin her?« fragte Mathieu.
Der Chevalier sah sich scheu und ängstlich um. »Du Schwätzer!« rief er. »Wer spricht von der? Ich sage dir, mit diesem deutschen Magen ist nichts anzufangen. Sie verdaut alles, auch unser Gift. Auch stehe ich mich jetzt gerade gut mit ihr. Sie soll mich schützen, wenn es Monsieur einfallen sollte, mich zu verjagen, woran er bereits häufig denkt, denn er hat sich frische Ware angeschafft.«
»Du hast ihn in deinen Händen!« rief Mathieu.
»Glaube das nicht!« rief der Chevalier. »Ich stehe ihm gänzlich machtlos gegenüber. Wollte ich plaudern, würde man mir unter die Nase lachen; denn alle Welt weiß es von ihm. Der König weiß es und lacht darüber. Es ist eine zu verderbte Zeit! Mit dem Schein von Tugend kommt man auch nicht weit. Wenn nur die Pillen des Doktor Drondjean etwas wert wären! Wenn sie mir gewisse Kräfte wiedergäben, die ich verschleudert habe! Aber wozu dir mit Klagen das Ohr füllen? Wer drin sitzt, muß durch, und da ist mir mein ehrenwerter Onkel beigefallen, den ich gern möchte daran glauben machen.«
»Der Marquis von Lorraine?« fragte Mathieu.
»Derselbe. Ich komme eben von ihm. Der Geizhals, dem Tode halb schon im Rachen, schlug mir jede Unterstützung ab. Da schwor ich ihm Genugtuung. Gib mir ein Pulver! Ich bitte dich darum, gib mir ein Pulver.«
»Es ist mir lieb zu hören,« rief der Krüppel, »daß es der ist. Er lebt einsam, er ist alt, sein Tod wird kein Aufsehen machen. Ich möchte nicht gerne mit Leuten vom Hofe zu tun haben. Gut, du sollst das Pulver haben, doch mit der einzigen Bedingung, daß du mir siebenhundert Louisdor in Zeit von sechs Monaten wiedergibst. Unterdessen kann der Herr Marquis schon expediert sein. Willst du?«
»Zweihundert mehr, als du haben solltest, Wucherer! Doch es sei!« rief der Chevalier. »Komm, laß uns die Sache abmachen.« Beide entfernten sich in das Nebengemach. –