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Charlotte hatte einen so frühen Tod ihres Gatten nicht erwartet. Sie vergoß bittere Tränen. »Mein Himmel,« schrieb sie einer Freundin, »mußte ich auch hierin noch geprüft und gestraft werden! Während einer dreißigjährigen Ehe, wo ich alles mögliche Herzeleid an ihm ertragen, stirbt er jetzt, da ich auf dem Wege war, mich mit ihm gutzustellen!« In der Tat war es so. Hatten die Jahre den Herzog mäßiger und milder gemacht, war es der armen Frau gelungen, die Saite in ihm aufzufinden, die empfänglich war für ein redliches, treues Bemühen um seine Gunst, genug, sie hatte das Glück, daß er die letzten zwei Jahre, die seinem Tode vorausgingen, in einem wahrhaft guten und freundschaftlichen Verhältnisse zu ihr stand. Sie teilten einander mit, was jeden bewegte und interessierte, sie plauderten miteinander wie zwei gute Gatten wohl tun, die alles, was ihnen geschieht, als für beide gleich bedeutend und interessant erachten. Er brachte ihr unter Lachen Briefe, die er selbst geschrieben, da er aber die unleserlichste und fehlerhafteste Orthographie, die überhaupt möglich war, sich angeeignet hatte, konnte er selbst sie nicht mehr lesen, und sie las sie ihm vor. Die Kinder, früher immer ein Zankapfel unter den Eheleuten, waren jetzt der Grund des Einverständnisses. Sie freuten sich beide, die Tochter gut verheiratet zu sehen, sie war dem Herzoge von Lothringen, einem deutschen Prinzen, zuteil geworden, und über die Extravaganzen des Sohnes tröstete eins das andere. Die Herzogin liebte den Sohn grenzenlos, und der Herzog, diese Neigung bemerkend, tat nichts, sie davon zurückzuhalten; er entschuldigte, wo er entschuldigen konnte, und zeigte in allem, daß der, dessen Fehler sie beweinte, dessen große und gute Eigenschaften sie lobte, auch sein Sohn war. So machten sich die Angelegenheiten vortrefflich, als der Tod hinzutrat. An dem Bette des Sterbenden saß die Herzogin und weinte ihre Witwentränen. »So bist du von mir gezogen!« rief sie, »jetzt, da wir uns verstehen, da wir uns lieben lernten!« –
Der König war im Begriff, schlecht gegen die Herzogin zu handeln. Durch die ewigen Einflüsterungen ihrer Feindin, der Frau von Maintenon, bewogen, ging er darauf aus, diese Gelegenheit zu benutzen, sie gänzlich vom Hofe und seiner Person zu entfernen, indem er ihr anbieten ließ, ihren Witwensitz zu Montargis zu beziehen. Dieser Witwensitz lag mehrere Meilen von Paris, sie war dort gänzlich allein und verlassen; sie schrieb an ihre Freundin: in Montargis könnte sie Hungers sterben, es würde niemand nach ihr fragen! Sie erwiderte daher dem königlichen Vorschlage, daß sie nicht wüßte, wodurch sie sich die Ungnade Seiner Majestät zugezogen, daß sie, für ihre Person, nichts mehr wünsche, als am Hofe zu bleiben und um die Person des Königs zu sein, den sie hochschätze und verehre wie einen Vater. Diese Sprache verfehlte nicht ihre Wirkung auf Ludwig; er bereute im Augenblick, sich so weit haben hinreißen zu lassen von feindlichen Personen, die, wie er wußte, der Herzogin zu schaden trachteten, und er eilte, sein Unrecht wieder gutzumachen, indem er selbst sich zu der Herzogin verfügte. Er kam in die Gemächer derselben und besuchte sie. Auf die Ehre einer solchen Zusammenkunft hatte Charlotte nicht mehr gerechnet. Die von ihm so oft und so gern gehörte Sprache der Liebe und Treue, die Sprache, die von Natur und Sittenreinheit inmitten eines verfeinerten, überkünstelten Hofes zeugte, machte in diesem Augenblick, wo sie in herbem Schmerz von den Lippen einer armen, verlassenen Frau tönte, tiefen Eindruck auf den König. Er hielt lange ihre Hand in der seinigen, er blickte sie an mit dem Auge des Vertrauens, und Tränen benetzten seine Wange.
»Meine teure Schwester,« hub er an, »darf ich Sie auf etwas aufmerksam machen, was stets zwischen Ihnen und mir sich Unheil verbreitend emporhebt, es ist die Gestalt der Frau, die mir zu nahe steht, als daß ich sie gänzlich unbeachtet lassen dürfte, und die sich wiederholt und bitter über Sie beklagt hat. Stiften Sie Frieden mit ihr: anders wird es nicht gehen. Wir werden zu keinem guten, ruhigen Verhältnisse gelangen. Opfern Sie willig kleine Vorurteile des Ranges und Ihrer Gesinnung auf, um sich dieser Frau zu nahen, die doch nun einmal zu uns gehört, und die zu beleidigen doppeltes Unrecht wäre, da sie Anspruch auf Vertrauen und Zuvorkommenheit erheben kann.«
»Ich errate, wen Eure Majestät meinen!« sagte die Prinzessin. »Ich kann Ihnen zu Gott versichern: während meines ganzen Aufenthalts in Frankreich habe ich danach gestrebt, mir das Wohlwollen dieser Frau zu erringen; allein es ist mir stets unmöglich gewesen. Sie hat mich immer und immer wieder bitter empfinden lassen, daß ich ihr eine Fremde und dem fürstlichen Kreise Aufgedrungene bin. Mit Schmerz habe ich bemerkt, wie sie sich das Herz Eurer Majestät errungen hat, und wie sie ihren Einfluß benutzt, um mit diesem edelsten Herzen ein unwürdiges Spiel zu treiben.«
»Sie tun ihr unrecht, Schwester!« erwiderte der König. »Sie ist streng dem Glauben zugetan, sie hält Sie für frivol und weltlich! Das ist das Ganze. So sehr sie sich irrt, denn niemand weiß das besser als ich, so schwer hält es, sie von ihrem Irrtum zu überführen.«
»Inwieweit sie mit ihrem Glauben wahres Spiel spielt,« rief die Herzogin, »wage ich nicht zu unterscheiden.«
»Halten Sie ein!« bemerkte der König sehr ernst. »Hier kommen wir an den Grenzpunkt, an dem auch ich einst zweifelnd gestanden, den ich aber jetzt überschritten habe zur Freude der guten Frau, die sich überglücklich dünkt, indem sie weiß, daß ich das Heil auf demselben einfachen Wege suche, wo sie es sucht und es gefunden hat. Sie ist im Besitz der Wahrheit! Kein Zweifel daran! Sie ist's. Tausend Proben haben mir das bewiesen. Würde ich wohl sonst zu dem Schritte mich haben verleiten lassen, sie mir auf immer zu verbinden? Kein weltlicher Ehrgeiz, keine Lust an den Täuschungen der Sinne brachte mich dazu; nur Würde des Glaubens, die Strenge moralischer und religiöser Grundsätze war es, was mich bewog, mir diese Frau als mein Seelenheil, als meine Retterin und Freundin beizugesellen. Wie die Welt dieses Verhältnis ansieht, was kümmert mich das? Ich stehe im Begriff, diese Erde voll Täuschungen und Lügen zu verlassen; ich will es tun an der Hand dieser edelsten Freundin. Sie soll mir die schweren, dunklen Wolken, die sich in dem letzten Augenblick um die Stirne des Königs, wie um die des ärmsten Bauern lagern, verteilen helfen. Es ist ihr redliches Bestreben. Sie liebt mich mit der ganzen begeisterten Innigkeit ihrer Seele! Das ist's, was ich will! Wo ich bisher einem Weibe genaht, hat mich und meine Schande nur stets der leuchtende Mantel der Sinnlichkeit eingehüllt, hier endlich einmal, und wollte Gott, es sei nicht zu spät, kommt eine der Heiligen des Paradieses, sich menschlich liebend einem Sterblichen zu nahen! Ach, Madame, wenn Sie wüßten, was ich für Augenblicke durchlebt habe! Wie sich meine Seele krampfhaft zusammenzog angesichts der dunkeln Pforte, die in St. Denis sich für mich öffnen wird! Welche Sterbefurcht, welch ein Entsetzen, wenn ich an die Auflösung aller irdischen Bande dachte! Und jetzt! Wie anders denke ich jetzt über den Tod! Wie ganz anders! Doch nun genug davon. Das sind Dinge, die jeder in dem Innersten seines Herzensschreins durchzumachen hat. Aber das Wohlwollen gegen jene Frau, die so gegen mich gehandelt, noch immerfort handelt, das kann ich fordern bei denen, die mich liebhaben! Und da stehen Sie obenan, meine Schwester. Gehen Sie fröhlichen Sinnes ihr entgegen! Umfassen Sie die arme Schwergeplagte, umschließen Sie sie mit den Armen der Liebe! Sie werden sehen, wie Sie die starre Rinde brechen, wie Sie mit Wonne werden empfangen werden. Und ich, ich werde endlich die beiden Personen, die mir am nächsten stehen, nicht kalt, entfremdet, und in dieser Entfremdung leidend, sich gegenüberstehen sehen.«
Der König hatte geendet und sah mit einem fragenden Blick zur Herzogin auf, die vor ihm stand. So sehr diese das selbstgesponnene Lügengewebe erkannte, in das der gute König sich einhüllte, so sehr sie die Unähnlichkeit des Porträts fühlte, das er vor ihr entrollte, sie ging in diesem Augenblick, aufgeregt durch ihr Gefühl, doch auf seinen Plan ein.
»Nun wohl,« rief sie, »an mir soll der Widerspruch nicht haften; nicht mich soll man anführen dürfen, wo man in vertrauter Stunde von hartnäckiger, unbesiegbarer Feindschaft redet, ich bin bereit, der Frau von Maintenon vertrauend entgegenzugehen, um ihre Liebe, um ihre Gunst, um ihre Freundschaft zu werben!«
»Wohlan, eine gute Stunde ist's, in der wir uns gefunden haben!« rief der König, aufspringend. »Sogleich soll das edle Werk vollbracht sein.« Er eilte in das Vorgemach und gab dort den Befehl, Frau von Maintenon hierher zu bescheiden. »Sie ist nahe, sie wartet nur auf diesen Ausgang unseres Gesprächs! Ich weiß es! Da ist sie!«
Die Türen wurden aufgerissen, und auf der Schwelle des Gemaches erschien, wie eine Bildsäule in grauem Marmor, die Gerufene, von oben bis unten in ein einfarbiges Nonnengewand von grauer Seide gehüllt. Sie stand lange und sah mit ihrem gleichgültigen Blicke den König und die Herzogin an. Der König schien anfangs erschreckt von diesem nichtssagenden Gesichtsausdruck, der so wenig zu seiner aufgeregten Stimmung passen wollte; doch er faßte sich schnell, ging auf sie zu, flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr und führte sie dann zur Herzogin, die ihren Sessel verlassen hatte und in der Mitte der Stube erwartungsvoll stand.
Frau von Maintenon tat, als gewahrte sie erst jetzt die Herzogin. Sie erwiderte den Gruß förmlich und steif.
Noch immer standen die Frauen einander gegenüber, nicht wissend, was sie miteinander tun sollten. Die Herzogin lächelte, Frau von Maintenon sah stumpf auf den Boden. Die kurze Pause, die jetzt entstand, war genügend, der Prinzessin alles ins Gedächtnis zu rufen, was diese Frau, die jetzt zweifelnd und unentschlossen vor ihr stand, gegen sie verbrochen. Doch nicht das allein, die Laster dieser heuchlerischen und verstockten Seele wurden vor ihrem Auge lebendig. Sie sah sie sündigen, als Ehegattin die Ehe brechen, dann, in Armut versunken, die Gunst der allgewaltigen Geliebten erbetteln, diese durch demütige Bitten bestimmen, sich für sie zu verwenden; alsdann sah sie diese Frau ihre Wohltäterin mit Füßen von sich stoßen, den Sohn zur unnatürlichen, grausamen Tat gegen die eigene Mutter anreizen, danach sich des Mannes bemächtigen, auf dessen Besitz sie es abgesehen, seine frömmelnde Seele zu Taten der Hölle anfeuern, zum Morde von Tausenden seiner Untertanen, zur Widerrufung dessen, was er wie seine Vorfahren auf das heiligste versprochen hatte. Damit noch nicht genug, verführte sie ihn, einen verhaßten, von all den Seinen verwünschten Bund mit ihm zu knüpfen, den sie um jeden schändlichen Preis der Welt als eine preiswürdige Handlung darzustellen trachtete. Sie sah diese schwarze Seele mit dem Giftmord beschwert, den sie und ihre Genossen ausgeführt, und in der Tiefe des Hintergrundes gewahrte sie allerlei verderbliche Pläne schlummern, denn noch war die Wirksamkeit dieser Verdammten nicht zu Ende! Mit diesen Gefühlen stand sie der Frau von Maintenon gegenüber, die von ihr Worte der Demütigung, des gebeugten Selbstbewußtseins, des gefesselten Stolzes erwartete.
»Hier, Madame!« rief Ludwig, zwischen die beiden Frauen tretend, »hier sehen Sie unsere teure Schwägerin, die vor Begierde brennt, sich Ihnen zu nähern. Kommen Sie ihr entgegen! Schließen Sie vor meinen Augen einen Bund, der mich beseligen wird, weil er mir die Versicherung gibt, daß edle Naturen, durch das Ungefähr der Umstände auseinandergehalten, nur eines kleinen Ansporns bedürfen, sich erkennen zu geben.«
»Wenn Madame die Versöhnung will, so wird Sie sie mir anbieten!« sagte Frau von Maintenon.
»Das tue ich!« erwiderte die Herzogin. »Kommen Sie, Madame, lassen Sie uns vor dem Könige das Beispiel der Einigkeit geben. Umarmen Sie mich!«
»Mit Freuden!« rief Frau von Maintenon.
Sie legte ihre Arme auf die Schulter Charlottens, die es vorzog, nach deutscher Sitte sie um den Leib zu fassen und sie ans Herz zu drücken. Als dies geschehen war, wichen die feindlichen Elemente mit Genugtuung voneinander. Die Heuchelei der Frau von Maintenon fand jedoch noch für nötig hinzuzusetzen: »Ich grüße Sie, meine Schwester. Möge Gott Sie erleuchten! Wahrlich, es wäre Zeit dazu.«
Das Wort »Schwester« reizte die Empfindlichkeit der Herzogin, die nichts weniger vermutete, als von der Witwe eines miserabeln kleinen Schriftstellers »Schwester« genannt zu werden. Sie erwiderte also: »Madame, das wollen wir dem Himmel überlassen.«
Der König weinte.
Frau von Maintenon näherte sich ihm, und sich an seine Schulter lehnend, rief sie: »O, Ludwig! Wie selig sind die, die den Jämmerlichkeiten der Erde abgeschworen haben! Madame, ich grüße Sie. Wollen Sie mir heute die Ehre und die Annehmlichkeit Ihres Besuches schenken, so hoffe ich, damit einen Wunsch Seiner Majestät zu erfüllen.«
Die Herzogin dankte, und der König führte Frau von Maintenon hinaus.
Als die Herzogin am Abend erschien, fand sie den König mit seiner Gemahlin allein; beide waren in tiefer Trauer. Sie blieb eine Viertelstunde, dann entfernte sie sich wieder. Der Hof erzählte sich, die beiden Frauen seien seit wenigen Stunden auf das innigste miteinander verbunden.