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Im Liebestraum

Man war bereits zwei Tagereisen von Frankfurt, als Artur Lafiat anlangte und sich an die Gesellschaft anschloß. Er brachte Nachrichten aus Paris. Die Herzogin war wohl, sie ließ den Arzt und ihren Vetter grüßen.

In Arturs Schicksal hatte seine Entlassung aus dem Dienste des Prinzen wirksam eingegriffen; er war jetzt genötigt, sich eine andere Stellung zu suchen, und da war es ihm Pflicht, daß er des Vaters Rat dazu einholte. Der Prinz hatte ihn mit aller Güte und Freundschaft entlassen, es hieß, daß die Zahl der Pagen vermindert werden sollte, allein der Ausscheidende fühlte nur zu deutlich den wahren Grund: er war dem Prinzen zu alt geworden, zu reizlos; die stets wechselnde Laune des gnädigen Herrn verlangte nach Neuem. Dem Abschiede war ein sehr reichliches Geschenk zugefügt worden und somit kein Grund zur Beschwerde vorhanden, die sich der gutmütige Artur auch ohnedies nicht erlaubt haben würde. Er hing noch an dem Prinzen mit großer Ehrfurcht und Liebe und wußte dessen gute Eigenschaften gegen jedermann, der ihm Gehör schenkte, aufs beste herauszustreichen. Der Arzt riet, mit dem Gelde des Prinzen ein Gut zu kaufen und dort sich dem Landleben hinzugeben. Susanne billigte diesen Plan ganz besonders, und es konnte nicht schwerfallen zu bemerken, wie sie dabei an sich dachte, denn ihre Neigung für Artur sprach sich jetzt deutlicher und unverhohlen aus, da sie sein Band zum Prinzen gelöst sah. Artur blieb unentschieden, und die kleine Familie gefiel sich darin, bald hierhin, bald dorthin Pläne zu machen und einstweilen das frische Leben, das sich ihnen in schöner, reicher Gegend und beim günstigen Vorwärtskommen bot, zu genießen.

Babets Schicksal machte sie jedoch alle für die arme, verunglückte Dichterin sorgen. Artur hatte einen Brief von ihr mitgebracht, und daraus ging hervor, daß sie gegenwärtig nicht in Paris sei, sondern im nördlichen Frankreich mit einem gimpelhaften Geliebten umherschwärme, eine Beute ihrer eigenen Torheit und der Schlechtigkeit der Menschen, denen sie sich überliefert hatte. Die Zeilen waren an ihre Schwester gerichtet und lauteten so:

»Meine innig geliebte Schwester!

Bei des Helios erstem Strahle sitze ich hier auf einem Polster von Stroh – die schöne Araminthe hatte ja auch kein besseres, als sie ihren trübseligen Abschiedsbrief an den Lord Maxfield schrieb – und meine Psyche ist mit Dir beschäftigt. Dein elendes und erbärmliches Leben, bedrückt von dem Staub der Landstraße, wie Du einem ehrgeizigen Vater nachziehst, würde den Quell meiner Tränen immer neu für Dich fließen machen, wenn das Sacktuch räsonabler Vernunft sie nicht stets rasch wieder abtrocknete. Armes Mädchen! Du vergeudest in den groben Widerwärtigkeiten des Lebens, während ich frühzeitig in die Sphäre kühlen, liebevollen Müßigganges hineingestellt worden bin, Deine Jugend. Ich kann Dir nicht helfen. Armes, armes Ding! Man muß Poesie haben und Verachtung aller irdischen Dinge, um so zu existieren, wie ich existiere. Kaum deckt ein Gewand meine frierenden Glieder! Bereits seit drei Tagen habe ich nicht zu Mittag gespeist, und dennoch, obgleich ich dreißig Jahre längst hinter mir habe, jauchze ich täglich dem erstehenden Helios entgegen, als eine seiner glücklichsten Kreaturen. Olint, mein Bräutigam, geht mit der gehörigen Kühlung mit mir um. Oft sehe ich ihn mehrere Tage nicht, wo der Edle allein in der Gegend umherirrt, vielleicht auch bei einem Bauer einspricht, um eine Käserinde zu erbeuten. Der Spaßhafte! Ich muß über ihn lachen, wenn ich ihn sehe, und nenne ihn stets den Orlando furioso. Denn furios ist er, und zwar auf mich, die er oft mit sehr unwillkommenen Schlägen traktiert. Ich leide und singe dabei: O wie ist der Liebe Tun so närrisch! Wie ist ihr Reich voll der anmutigsten Launen! Von Fräulein Ninon de Lenclos, der Hochmütigen, habe ich mich in einem gelinden Schelten und Fluchregen getrennt. Sie wollte mir, wie sie sagte, Vernunft beibringen und mich zwingen, von Olint zu lassen, aber ich habe ihr mit der Kühnheit der Minerva und der Grazie der Venus die Wahrheit gesagt. Ich hielt ihr ihre hundert Liebhaber vor, von denen immer einer zur Zeit der Begünstigte war, und dadurch brachte ich sie zum Schweigen. Meine holde Gräfin aber gab mir den Segen des Sokrates und hieß mich, wie er, den Giftbecher leeren, wenn das Leben mir anfinge seine Schattenseite zu zeigen. Gottlob! jetzt ist noch alles Wonne und Liebreiz um mich her. Das Geld, das mir die abscheuliche Atropos gegeben, habe ich Olint in den Schoß geschüttet, der darauf acht Tage fortblieb, und wie er zurückkam, hatte er nichts mehr. Seitdem fangen die Schläge an und das immer wiederkehrende Fordern um Geld. Ich habe ihm schon gesagt: ›Gib mir ein Saitenspiel, und deine Celinde wird in die Dörfer gehen und um ein paar elende Goldstücke singen.‹ – ›Albernes, verdrehtes Geschöpf,‹ ist dann seine Antwort, ›meinst du, daß im Dorfe die Goldstücke so an den Bäumen hängen?‹ Dieser köstliche Witz gab mir rasch Gelegenheit, ein allerliebstes Triolet zu dichten, wo ich die Bäume redend einführe, wie wir, Olint und ich, unter ihrem Schatten wandeln und sie zum Dank für die Gespräche, die sie von uns hören, Gold auf uns niedergleiten lassen. Sieh, so, meine Liebe, führt Dein Kätzchen, Dein Weisheit-Raspelchen, Dein gelehrtes Musterchen, ihr exemplarisches Leben.

Der Zweck dieses Briefes ist nunmehr, daß Du mir etwas von dem gelben Staub schickst, der Dir in Menge zu Gebote steht; wenn nicht anders, so entwende etwas davon der Schatulle unseres ehrlichen, alten Vaters. Olint will es! Damit ist genug gesagt. Ich schicke diesen Brief an die Atropos, die ihn unserm Bruder zustellen wird. Er wird Euch sagen, in der Nähe welcher Stadt ich jetzt gerade weile.

Armes Kind, Dein herzliebes Schwesterchen.«

Der alberne Ton dieses unglücklichen Briefes brachte die Geschwister, trotz der schlimmen Dinge, die er enthielt, immer wieder zum Lachen. Der Vater jedoch stand tiefbekümmert dabei und machte sich Vorwürfe, daß er die Verirrte nicht gerettet, da es noch Zeit war. »Die Narrheit fing so gelind an,« sagte er, »und ich hatte so großes Vertrauen zu Fräulein Lenclos' festem, natürlichem Sinn, daß ich nie habe an so einen Schluß glauben wollen.«

»Ja, die Pretiösen sind verteufelte Geschöpfe!« rief Artur. »Wer ihnen anheimfällt, kann von Glück sagen, wenn er mit seinen gesunden Sinnen davonkommt.«

Georg fiel der Abend bei den »Müllerburschen« ein, wo er die verdrehte Schöne zum erstenmal und damals schon mit Widerwillen gesehen hatte.

»Es wird kein anderes Mittel übrigbleiben, als ich muß selbst hin, sie aus den Händen des Nichtswürdigen zu befreien und sie alsdann hierherzuführen!« bemerkte Herr Gervais. »Auf irgendeine Weise muß dauernd für die halb Sinnlose gewirkt werden. Ich werde sie zur Vernunft zurückführen, und sollte es selbst durch strenge Mittel sein.«

Die Mädchen stimmten dagegen; auch Georg und Artur wollten den Vater nicht fortlassen. »Es muß sein!« sagte der Vater. »Wißt Ihr, was es einem Vater heißt, ein Kind verlieren? Dieses geht verloren! Weshalb also noch zögern? Geht voraus nach Hannover und erwartet mich dort.«

Diesem Bescheide war nichts entgegenzusetzen. Man kannte den alten Herrn, der seinen Willen durchzusetzen verstand. Madeleine und Susanne packten seine notwendigsten Sachen ein, und am nächsten Morgen war er schon auf dem Wege nach Frankreich.

Georg fühlte nach der Abreise des Arztes doppelt und dreifach die Verpflichtung, die ihm oblag, die ihm anvertraute kleine Gesellschaft in dem Zustande abzuliefern, wie er sie vom Vater erhalten. Er vermied es daher, Madeleine allein zu sehen, er ging geflissentlich jeder Gelegenheit aus dem Wege, wo ein längeres Zusammensein, auch in Gegenwart der anderen, mit der Geliebten stattfinden konnte. Sie verstand ihn und war ihm getreulich behilflich, seinen Zweck auszuführen.

So befanden sich die Angelegenheiten der kleinen Kolonie, als man eine Tagereise noch von Hannover entfernt war. Es leuchtete ein schöner Sommerabend mit seinen herrlichen Farben eben über der Erde und erfüllte die Luft mit dem entzückenden Balsam der Gerüche, wie sie die aufwachende Natur zu spenden pflegt. Georg und Artur führten ihre beiden Damen spazieren; sie strebten eine Anhöhe zu erreichen, von wo aus ein schöner Blick die Bemühungen belohnen sollte, die man anwenden mußte, um bis hierher zu gelangen. Artur und Susanne gingen voran, und war es nun, daß sie beide besser zu Fuß waren, oder gab es einen anderen Grund zur Verzögerung, genug, Georg und Madeleine blieben alsbald so weit zurück, daß jene sie nicht mehr sahen. Ein Gewitter überraschte die Fußgänger. Eine Mühle, die am Abhange lag, bot Georg einen willkommenen Schutz, und er eilte, ihn mit seiner Genossin zu erreichen, gerade als die ersten schweren Tropfen niederfielen. Das Häuschen der Mühle war nur klein, eine einzige Stube diente zum Aufenthalt der Familie, die aus vier Personen bestand, von denen drei, der Vater, die Mutter und das Kind, eben abwesend waren und die alte blinde Mutter des Mannes allein gelassen hatten, die mit großer Freundlichkeit die beiden Gäste empfing, die, Hilfe und Schutz gegen das Unwetter suchend, die Schwelle der ärmlichen Wohnung überschritten.

Aus den Reden der beiden merkte die Alte alsbald, daß sie es mit vornehmen Fremden zu tun hatte, und sie wollte ehrerbietig ihnen das Zimmer räumen, doch Madeleine bat sie selbst zu bleiben.

Das Wetter stürmte. Ein ungewöhnlich starkes Gewitter entlud sich, und bald war der kleine Mühlbach in einem Zustande, daß er, seine Ufer übertretend, daherbrauste gleich einem Strome. Die Alte jammerte und rief nach ihrem Sohne, obgleich sie wohl wußte, daß der im Gebirge sich zum Besuche befand und nicht kommen konnte. Sie eilte selbst an das Gehwerk der Mühle und suchte dessen Stärke so schnell wie möglich zu hemmen.

Während die Alte oberhalb der beiden Ankömmlinge ihr Wesen trieb und die Elemente durcheinanderwüteten, befanden sich die beiden Liebenden ihrem guten oder vielmehr ihrem bösen Geschick überlassen. Georg mußte die furchtsame Madeleine trösten, die zusammenfuhr bei jedem grellen Schein eines Blitzes, der das ganze Stübchen erleuchtete. Er tat es auf die beste und schonendste Weise, indem er ihr einen Platz herrichtete, wo der Blitzschein ihr nicht unmittelbar in die Augen fallen konnte, und indem er sie schützend in seine Arme schloß, wenn das Rollen des Donners über ihren Häuptern dahinfuhr. Da geschah es wie von selbst, daß er sie fester an sich preßte und sein Mund ihre Lippen suchte und küßte. Madeleine, in zweifacher Gefahr, erhob sich ein paarmal, entriß sich gewaltsam seinen Armen und suchte die Stubentür zu erreichen, um durch Rufen die Alte herbeizuziehen. Dies half jedoch nichts. Die gute Müllerin war so emsig beschäftigt bei ihrem Mühlwerke, daß sie nichts hörte, und Georg faßte stets von neuem die Entschwundene desto fester und sicherer um den Leib, um ihr schützend gegen das himmlische Feuer einen Platz an seinem Busen zu bewahren. Plötzlich fiel ein so heftiger Schlag, daß man fürchten mußte, das Dach der Hütte sei auseinandergesprengt. Eine feurige Lohe prasselte dicht neben den beiden hin, die im ersten Schrecken in die andere Ecke des Zimmers flüchteten und dort auf ein kunstlos gearbeitetes Ruhebett niedersanken. Georg hielt Madeleine fest umschlossen, und sie wagte nicht aufzuschauen. Nach und nach zerteilte sich der erste Schreck; man merkte, daß der Blitz in einen der Bäume des nahen Forstes eingeschlagen, daß es aber ein unschädlicher Strahl gewesen sei.

In den Bemühungen zu trösten, bewies Georg eine ungemeine Geschicklichkeit und Madeleine eine unglaubliche Unbeholfenheit. Sie war so entsetzt, daß sie immer von neuem glaubte, die Flammen müßten um sie herumschlagen. Schon Georg auf dem Schoße sitzend, duldete sie dessen umschließenden Arm, und die Glut seiner Küsse fand keine Abwehr in ihren zerrütteten Sinnen. Eine tiefe Stille herrschte im Umkreis des Lagers, indes der Regen niederplätscherte und die rollenden Schläge des abziehenden Wetters in der kleinen Stube widerhallten.

Als die Liebenden aus ihrem Taumel erwachten, sahen sie die alte Müllerin vor sich stehen, die mit Sorglichkeit sich nach dem Befinden der Gäste erkundigte. Georg war wie mit Blut übergossen; er gewann so viel Fassung über sich, daß er dem weinenden Mädchen wiederholt die Hand drückte und ihr leise versicherte, wie alles gut werden solle, sie möge nur nicht verzweifeln. Er sprang auf, schob die Alte beiseite, indem er ihr vorwarf, daß sie nicht früher gekommen sei, und öffnete ein Fenster des Zimmers. Die frische, kühle Waldluft fuhr an seinen brennenden Wangen nieder, und den Bergabhang hinab sah er Artur und Susanne kommen, fröhlich und unbefangen, als sei nichts geschehen. Er konnte ihnen so nicht entgegentreten, wie er sich eben befand, und enteilte in den Garten. Er hörte Artur rufen, doch antwortete er nicht.

Hier im einsamen kleinen Gärtchen stand er still, lehnte, die Stirne an einen Baumstamm gedrückt, in tiefem, seligem Traume versenkt, aus dem er nur schwach in der Ferne das Geplauder der anderen hörte, die in die Hütte eingetreten waren und Madeleine schlafend darin gefunden hatten. Das gute Mädchen hatte diese Ausflucht gewählt. Die Sonne schien, als auch der Müller mit Weib und Kind hereinkam und die Gesellschaft in seiner Hütte fand. Georg beschenkte ihn reichlich, und alle machten sich wieder auf den Weg in die Stadt.

Georg war glücklich, wenn er Madeleine sah, aber er zürnte sich und schalt sich bitter, wenn er sie nicht sah. War das die Treue, die Aufmerksamkeit, die Sorgfalt, die er sich gelobt hatte? Mit welchen Augen mußte er dem zurückkehrenden Vater entgegentreten? Wie durfte er es wagen, seiner Cousine wieder in die Nähe zu kommen? Auf die Späße Arturs hatte er immer nur die eine Antwort, ein mißmutiges, eigensinniges Schweigen. Susanne hatte erraten, was vorgefallen, und ihr guter Takt hielt sie ab, den kleinsten Scherz mit dem Zustande ihrer Freundin zu machen. Sie war zärtlicher und aufmerksamer als je, und die arme Madeleine vergalt ihr dieses Zartgefühl mit dem lebhaftesten Danke. So langte die pilgernde Gesellschaft in Hannover an.


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