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Charlotte war jetzt neunzehn Jahre, als sie ihre väterliche Burg wiedersah. Vieles fand sie darin verändert. Der Vater lebte von ihrer Mutter gänzlich getrennt, statt der Gemahlin herrschte die Geliebte, die sanfte, anmutige Degenfeld. Sie war unterdessen Mutter mehrerer Kinder geworden, als Charlotte einzog und sogleich eine herzliche Freundschaft mit der Degenfeld schloß. Der älteste Sohn, dem der Vater den Titel Raugraf beigab, war nur wenige Jahre jünger als die Prinzessin, ein schlanker, schöner junger Mann, der zu Charlotten die Neigung eines Bruders faßte, was ihm die Prinzessin erwiderte, wodurch sie sich den Dank ihres Vaters verdiente, der diese Zuneigung als eine ihm erwiesene Hingebung betrachtete.
Aus Hannover nahm Charlotte die fast mütterliche Zuneigung ihrer lieben Tante mit, die nicht leben zu können versicherte ohne ihr geliebtes Rauschen-Platten-Knechtchen. Sie mußte ihr versprechen, ihr regelmäßig zu schreiben, und nichts hielt Charlotte getreulicher als das Versprechen, das sie hier gab. Auch von Frau von Hörling, die in Hannover verheiratet zurückblieb, wurde auf das zärtlichste Abschied genommen.
Welche glücklichen Tage verlebte sie in Heidelberg! Wie entzückten sie die ganze Schönheit und der Reichtum der Gegend, mit welchen ganz anderen Augen sah sie sich in jedem reizenden Winkelchen des Schloßgartens um, und wie brünstig waren die Bitten, die sie zum Himmel schickte, hier unvermählt leben und sterben zu dürfen! Sie wünschte nichts sehnlicher, als dem Vater in seinem jetzigen Glück als liebende Tochter zur Seite zu stehen, die Hilfeleistungen im Innern des Hauswesens, wenn die junge Mutter bettlägerig war, zu übernehmen. Abends, wenn die Geschäfte des Tages abgemacht waren, saß sie an der Wiege des jüngsten Kindes und erzählte den kleinen Geschwistern Märchen und Geschichtchen, die sie selbst erfunden hatte. Den Tag über ergötzte sie sich mit Ausflügen in die Umgegend, wo sie bald ihr Halbbruder, bald der Jägermeister ihres Vaters begleitete. Die Ausflüge gingen oft sehr weit, und wenn es irgend möglich war, so wurde Schwetzingen besucht und die dortige, weitläufige Fasanerie betrachtet.
Mehrmals im Jahre machte die Prinzessin einen Besuch bei ihrer Mutter in Kassel, die sich, je mehr die Zahl der Jahre zunahm, immer friedfertiger gegen den Urheber ihres abgesonderten und getrennten Lebens bewies. Charlotte arbeitete daran, diese gute Stimmung der Kurfürstin zu benutzen, um eine Versöhnung anzubahnen, die aber doch nicht zustande kam. Die Kurfürstin verlangte, daß Luise von Degenfeld das Schloß zu Heidelberg räumen sollte, und dazu wollte diese sich wohl, nicht aber der Kurfürst verstehen. So blieben die Sachen beim alten.
In ihren neuen Gemächern eingerichtet und unter ihren Sachen Ordnung bringend, entdeckte Charlotte das kleine, goldene Heiligenbild, das ihr vor vielen Jahren der junge Mann gegeben hatte, der aus Frankreich kam. Sie nahm es, betrachtete es und entdeckte den Namen des Mannes auf der Rückseite der kleinen Figur. »Marquis Hippolite von Rohan« stand darauf. »Werde ich diesen Mann wohl jemals wiedersehen?« rief sie bei sich und schob das Bild unter ein Päckchen Briefe, die sie von ihrer Mutter hatte.