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Das siebzehnjährige Mädchen

Wir übergehen in unserer Erzählung den Zeitraum von dreizehn Jahren, in denen nichts für uns Wichtiges vorfiel und haben jetzt unsere junge Prinzessin vor uns, am Hofe Ernst Augusts, des Herzogs und spätern Kurfürsten von Hannover.

Die Zeugnisse der Geschichte geben der Tante Elisabeth Charlottes, der Kurfürstin Sophie, einen bedeutenden Rang. Sie war ebenso vorzüglich, was den Geist betrifft, wie vorsorgend und zärtlich, was ihre Pflichten als Gattin und Mutter angeht. Ernst August war einer der Fürsten, die höher zu stehen verdienten, als das Schicksal sie gestellt. Anfangs Bischof von Osnabrück, gelangte er später zur Herzogswürde in Hannover, und alsdann war die Klugheit seiner Gemahlin, noch mehr als seine eigene, Ursache seines Emporsteigens zum Besitze des Kurhutes, der ihm vom Hofe zu Wien verliehen wurde, nicht ohne Widerstreit der anderen Kurfürsten, in deren Reihe er bald trat. Er war klug, vorsichtig, zurückhaltend und hörte auf guten Rat. Sein älterer Bruder, der in Celle regierte, hatte diese Eigenschaften nicht, oder nur in geringem Grade, und deshalb war er zurückgeblieben, während Ernst August vorwärtsschritt.

Drei Söhne hatte er, von denen Georg, der älteste, später König von England, der Gegenstand der besonderen Liebe der Mutter, einen finsteren und kalten Charakter zeigte. Ein Plan des Vaters, durch welchen er danach trachtete, die beiden Häuser Celle und Hannover zu vereinigen, war es, der die Heirat des Kurprinzen mit seiner Cousine, der Tochter des Herzogs von Celle, zuwege brachte. Diese Prinzessin, damals noch sehr jung, war, was ihre Geburt betrifft, nicht ebenbürtig, sie war es nur geworden, indem ihre Mutter, eine Französin von geringer Herkunft, in den Fürstenstand erhoben worden war. Sophie Dorothee zeigte sich durch die Einredungen ihrer Eltern zu dieser Ehe willig und erschien mit diesen, als Georgs zukünftige Gemahlin, am Hofe zu Hannover gerade zu der Zeit, wo unsere pfälzische Prinzessin ihr siebzehntes Jahr erreicht hatte. Man kann sich denken, welch ein Gegenstand der Neugierde und des weiblichen Interesses sie dem jungen Mädchen wurde, das damit ein neues Mitglied ihrem weitläufigen Verwandtenzirkel beigezählt erhielt.

Der Hof zu Hannover war ein lebhafter, anziehender und vielfach beschäftigter. Die geistvolle Kurfürstin, der edle Fürst, der seiner jungen Angehörigen mit Vertrauen und väterlicher Würde entgegentrat, der Kurprinz, der sie auf jede Weise auszeichnete und sie seiner zukünftigen Gemahlin als Umgang empfahl, die übrigen Mitglieder des Hauses sowie dessen entferntere und nähere Umgebung, alles beeiferte sich, das kluge, gescheite und regsame Mädchen mit Ehren und Freuden unter sich aufzunehmen. Dies zeigte sich besonders, als sie das obenbezeichnete Jahr erreichte, wo man darauf sann, sie eine passende Ehe schließen zu lassen. Das kleine »Rauschen-Platten-Knechtchen«, wie man sie, besonders ihrer Wildheit wegen, in früheren Jahren genannt, war jetzt zu einer folgsamen, liebenswürdigen Jungfrau herangereift, die, nicht hübsch, doch durch einen Zug frischer Jugend und frohen Lebensmutes unwillkürlich für sich einnahm. Alle Gegenstände dienten ihrem muntern Geist zum Scherze, und ihr gerader Sinn, der, abhold jeder Intrige, stets die Wahrheit liebte und sagte, machte sie zu einer Feindin jedes im Dunkel schleichenden Heuchel- und Schmeichelgeistes. Ihr Körper hatte sich zu der ihm bestimmten Vollendung entwickelt; er war kräftig, fest und sicher gebaut. Ihre Taille war nicht schlank, nicht biegsam, aber sie zeugte von Ausdauer und Widerstandskraft gegen die Übel, die die Mode damals über die junge Damenwelt brachte und die darin bestanden, daß sie durch heftiges Einschnüren die inneren Organe leidend machten. Charlotte besaß eine so feste, starke Natur, daß ihr kein Schnürleib etwas anhaben konnte. Ihr schönes, volles, halbblondes Haar lag in Locken über der Stirn gescheitelt den Nacken herab und war nur durch künstliche Mittel zu der Höhe emporzutreiben, die ebenfalls die damalige Mode den jungen Damen vorschrieb. Ihre Arme waren voll und weiß, sehr selten mit Ringen und Geschmeide besetzt. In ihrem Antlitz vermißte man, wenn sie ernsthaft war, die Regelmäßigkeit der Züge, wenn sie aber scherzte und lachte, so machte der mutwillige Ausdruck der Augen aus dem nichts weniger als schönen Gesicht eine anziehende Erscheinung. Ein Mund mit schönen Zähnen, ein kleiner Fuß und eine niedliche Hand waren gewiß keine geringzuschätzenden Reize, doch war sie ein so sonderbares Mädchen, daß sie auf jeden, der sie zum ersten Male sah, fast den Eindruck machte, als stände ein verkleideter Knabe vor ihm. Dies war auch Charlottes geheimer Wunsch: sie wollte diesen Eindruck hervorrufen. Sie hatte sich von frühester Jugend gewöhnt an ein mehr knabenhaftes als mädchenhaftes Wesen. Sie ritt vortrefflich, sie ging mit dem Onkel auf die Jagd, sie machte lange und ermüdende Spaziergänge, und mit nichts konnte die Erzieherin, eine Frau von Hörling, die an Madame Jolis Stelle getreten war, sie mehr aufheitern und belohnen, als indem sie ihr sagte, sie habe dies oder jenes wie ein Knabe getan oder gesprochen. Die Kurfürstin zähmte diese Lust ein wenig, indem sie das aufwachsende Mädchen öfters bei sich in ihrem Zimmer hielt, sie hier weibliche Arbeiten machen und auf weibliche Weise sich beschäftigen ließ. Dabei aber war die männliche Richtung, die der Geist zusamt dem Körper nahm, der ernsten, geistvollen Frau doch so willkommen, daß nichts sie bewegen konnte, dem Mädchen auch hierin Zwang und Fesseln anzulegen. Oft ließ sie sich von ihr Bücher vorlesen, die ein philosophisches Wissen enthielten, und da freute sie sich, wenn sie die liebe Pflegetochter nach Dingen forschen hörte, die über die Grenzen der gewöhnlichen weiblichen Kenntnisse weit hinausgingen. Sie durfte dabei sein, wenn Leibniz erschien, und die Betrachtungen über Gegenstände der Natur, die der berühmte Forscher anstellte, fanden an dem jungen Pagen, wie sie selbst sich nannte, einen aufmerksamen Zuhörer und einen unermüdlich tätigen Hilfeleistenden, wenn es etwas anzuordnen oder zu schaffen gab.

Von Liebe, von Zärtlichkeit, von all den Empfindungen, die eine weibliche Brust berühren, wenn sie zu gewissen Jahren gelangt ist, wußte und empfand sie nichts. Eine empfindsame oder galante Regung begeisterte sie meist zu einer possenhaften oder komischen Parodie, die sie stets mit großem Mutwillen ausführte. Die Kurfürstin erlaubte ihr dergleichen selten und nie in Gegenwart vieler Personen, indem sie ihr vorhielt, daß nichts die Menschen mehr erbittere, als sich in ihren Gefühlen, mochten diese nun echt oder erlogen sein, lächerlich gemacht zu sehen. Charlotte hatte hierauf immer nur eine Antwort: »Mein Gott!« sagte sie, »ich will sie ja gar nicht lächerlich machen, nur das, was sie tun und sagen, erscheint mir so, wie ich's darstelle. Kann ich dafür, wenn es lächerlich wirkt?« – Doch nur eine einzige Rüge der von ihr verehrten und geliebten Tante genügte, sie zurückzuhalten und ihr Gelüst zu dämpfen.

Das Schicksal ihres Hauses war der Gegenstand der Gespräche der Kurfürstin, wenn sie mit dem Kinde allein war. Alsdann wurden die Geschichten herangezogen, die irgendein beklagenswertes und trauriges Gefühl in dem Busen der würdigen Mutter erregten: das Unglück ihres Vaters, sein Fall und der Hohn und der Spott derer, die ihn selbst verleitet hatten, jene unglückliche Würde anzunehmen. Es war ein ganzer Himmel voll Trauer und Düsterheit, der sich auf die Seele Sophies legte, wenn sie den Namen des Königs Friedrich nannte; noch mehr klagte sie, wenn das Andenken der edlen englischen Fürstentochter, die sie als Mutter liebte und verehrte, in ihre Erzählungen sich einmischte. Der Tod des ersten Karl zeigte sich ihrem Geiste als furchtbares Zeichen des schnellen Hinschwindens alles dessen, was menschliche Größe und menschliche Höhe bezeichnet. Sie weinte bittere Tränen, als sie die Flucht schilderte, die sie damals mit ihrer armen Mutter, heimatlos und geächtet, bis nach Holland gemacht; sie schilderte das Leben der Fürstin, wie sie mit jeder Not kämpfend, kaum so viel besaß, um ihren dürftigen Haushalt zu unterhalten, ihre liebsten Schätze, ihre Kinder, vor Mangel und Erniedrigung zu schützen. In jener Schule hatte die edle Seele der Fürstin sich frühzeitig bilden gelernt und jene Festigkeit, jenen ernsten, männlichen, energischen Geist erreicht, der jetzt ihre vorzügliche Zierde war.

»Aber, teure Tante,« hub das junge Mädchen an, indem sie sich die Tränen aus den Augen trocknete, »was tat der Großvater, was die Großmutter, um so viel Unglück zu verschulden? Welch ein tyrannisches Mißgeschick liegt darin, diejenigen leiden zu lassen, die an dem Mißlingen der Pläne der Ehrgeizigen die geringste Schuld haben? O, welche Welt ist dies, meine Tante! Welch ein Gewühl von Ungerechtigkeit und blinder Willkür.«

»Versündige dich nicht, mein Kind,« entgegnete Sophie. »Wir verehren die Allmacht und Allwissenheit Gottes auch dort, wo wir ihren Weg nicht mit unseren sterblichen Augen messen und beurteilen können. Du sprichst von Ungerechtigkeit. Wie aber, wenn in dieser scheinbaren Ungerechtigkeit der Himmel einen der schönsten Keime von Belehrung verborgen hätte? Wenn der jetzige Inhaber des englischen Thrones stirbt, wenn die nächsten Thronerben ebenfalls dahingerafft werden, alsdann treten ich und mein Sohn in unser Recht, und die drei Kronen Englands sind eine Vergütigung für jenes Elend, das unsere Vorfahren erlitten.«

»Möchte es dem Himmel gefallen, diesen Weg einzuschlagen!« rief Charlotte mit Wärme, »er wäre der einzige und richtige, um die Seele, die über das Unerforschliche brütet, mit den Geschicken der Welt zu versöhnen.«

»Er wird es zum Besten lenken,« rief Sophie, »darum laß uns getrost sein. Wir können nichts weiter tun als nach unserer Einsicht und nach bestem Rat die Dinge ordnen, wie sie aber alsdann vom Geschick zusammengestellt werden, das ist nicht unsere Sache. Es komme, was da will, haben wir das unsrige getan, können wir in Ruhe und Ergebung uns fügen.«

Solche Gespräche führte die verständige Tante oft mit ihrer jungen Nichte, in deren feuriger und tätiger Seele sie frühzeitig Züge entdeckte, die mit ihrem eigenen Charakter harmonierten. Sie sprach auch von ihren Brüdern, den Oheimen der jungen Prinzessin, und da war einer darunter, den frühzeitig der Tod hinweggerafft hatte, der in Sophiens Herzen jedoch den obersten Platz eingenommen.

»Als das Unglück uns erreichte,« hub sie an, »war Karl nicht viel über fünf Jahre alt, und seine Erziehung fiel besonders mir anheim, da ich zehn Jahre älter war und die Mutter das Vertrauen in mich setzte, daß ich ganz nach ihrem Sinn den Knaben leiten würde. Er war schüchtern und verlegen; seine Charaktereigenschaften hatten, da sie sich in der Zeit unseres Unglücks entwickelten, etwas Furchtsames, Ängstliches angenommen, und weit entfernt, den tätigen, feurigen Geist der übrigen Söhne zu hegen, wünschte und hoffte er nichts, als daß es gelingen möchte, völlig unsere Ansprüche aufzugeben und im Privatleben zu verschwinden. Wenigstens wollte er so handeln. Ich suchte seine Seele zu beleben, zeigte ihm die großen Tugenden unserer Vorfahren und suchte seine Tatkraft anzufrischen, ihnen nachzustreben. Umsonst! Er knüpfte deshalb, ohne Wissen seiner Mutter, als er in die mannbaren Jahre getreten war, ein Verhältnis mit einem Mädchen an, das edel und tugendhaft, aber nichts weniger als ihm ebenbürtig war. Wie oft habe ich ihn damals gewarnt, ihn mit Tränen gebeten, seiner Abkunft zu gedenken, des Glückes, das uns noch teilhaftig werden könnte, es half nichts. Er trat mit seiner Erwählten heimlich vor den Altar, und eine kleine Kirche in Gent war der Ort, wo ein katholischer Priester die Ehe einsegnete, die weiter niemand als nur mir bekannt wurde. Ich sorgte für die Neuvermählten, und als das Geschick den Bruder mir nahm, erstreckte ich meine Sorge auch auf die junge Witwe, die mit einem Knaben niedergekommen war. Es huben damals die unseligen Unruhen in den vereinigten Provinzen zu wüten an, die die Länder verwüsteten und die Hälfte der Einwohner zwangen auszuwandern, um in den Nachbarstaaten vor des Krieges Flamme Schutz zu suchen. Die arme Mechthild Sparre, dies war der Name der Witwe meines Bruders, kam zu mir und kündigte mir an, daß sie in Geleitschaft eines Verwandten mütterlicherseits, nach Frankreich auszuwandern beabsichtige. Sie nahm dorthin ihren Knaben mit. Ich konnte nichts tun; es wäre töricht gewesen, mich ihrem Glück zu widersetzen, ich gab ihr also meine besten Wünsche, das Wenige, was ich an Kostbarkeiten besaß, mit, und so sind sie und ihr Kind meinen Blicken entschwunden. Als ich später mein glückliches Ehebündnis schloß, unterließ ich nicht, mich nach Mechthild zu erkundigen, doch stets ohne den geringsten Erfolg. Sie war und blieb verschwunden. Meinem Bruder in der Pfalz, deinem Vater, habe ich die Geschichte mitgeteilt, und sollte es ihm gelingen, des Knaben Aufenthalt zu erkundschaften, so wird er an ihm handeln, wie es einem Oheim gegen seines Bruders Kind geziemt.«

Charlotte stand lange da, mißmutig sinnend, und als die Tante zu sprechen aufgehört, sagte sie: »Liebe Tante, da siehst du das Unglück, das sich stets an diejenigen heftet, die ihrem Stande entgegen Bündnisse schließen. Nichts kann ich weniger leiden als solche Torheit. Ist einer ein Fürst, so soll er stets und immerdar fürstlich handeln; ein niederes Mädchen aber durch sein fürstliches Wort zu betören, sie als seine Gemahlin heimzuführen, ist gegen Gottes und der Menschen Gesetze freventlich gehandelt und bringt immerdar Schande und Unglück. Das ist meine Meinung und meine Ansicht von der Sache.«


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