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«Meine frühesten Erlebnisse»

Gesprochen am 13. Januar 1916 in Luzern

Einem Schriftsteller pflegt sein jüngstes Kind am liebsten zu sein, und so will ich Ihnen denn heute von einem Büchlein berichten, das ich vor zwei Jahren veröffentlicht habe und das den Titel führt: «Meine frühesten Erlebnisse».

Dieses Büchlein erzählt meine Erinnerungen an die vier ersten Lebensjahre, beginnt mit dem ersten Jahr und schließt mit dem Zeitpunkt, da ich vier Jahre und zwei Monate alt war. Die Erinnerungen an das erste Lebensjahr sind spärlich, inselhaft, die Erinnerungen an das zweite unzählig viele, mit dem dritten Lebensjahr laufen sie in einer fast lückenlosen Kette.

Es handelt sich dabei nicht etwa um Wahrheit und Dichtung oder um Dichtung und Wahrheit oder um eine Umdichtung der Wahrheit. Der Schluß: «Er ist bekanntlich ein Dichter, folglich mischt sich ihm in alles, was er anrührt (ob er will oder nicht will), Poesie und Phantasie», ist irrtümlich. Er beruht auf einer kindlichpopulären Vorstellung vom Dichter. Und diese Vorstellung ist nicht vom echten Dichter bezogen, sondern von den Dichterlingen, den entzückenden, den genialen, für welche die Schwestern und Cousinen schwärmen und aus denen nie etwas wird.

Der echte Dichter wird niemals poetisch, der hat Ernsteres, Wichtigeres und Schwierigeres zu tun, nämlich gute bleibende Poesie zu leisten. Er wird neben seinen poetischen Aufgaben sowenig poetisch, wie der Maler malerisch wird. Die Meinung, ein Dichter mische in alles, was er anrührt, Poesie und Phantasie hinein, ist nicht besser, als wenn einer meinte, ein Maler bepinsle alles, was er anrührt, mit Ölfarbe. Nichts Verkehrteres daher, als wenn jemand, der einem Dichter einen Brief schreibt, glaubt, poetische Stilblümlein kränzein zu müssen. Das ist so, als wenn er, um einen Musiker zu besuchen, im Vorzimmer zu singen anfinge oder, um einem Zuckerbäcker zu gratulieren, ihm Konfitüre auf den Ärmel striche!

Nein, es handelte sich bei meinen «Erinnerungen» um die reine sachliche Wahrheit, so sehr, daß jedes nachträgliche Hinzufügen, sei es von Begebenheiten, sei es von Gefühlseindrücken und Gedanken, vom Verfasser verabscheut und mit peinlicher, ja ängstlicher Sorgfalt vermieden wurde. Warum verabscheut, warum so peinlich und ängstlich vermieden? Kann denn das Hinzudichten, falls es nur schön ist, schaden? O ja, das kann schaden, nämlich entweihen. Wenn Sie den Tod eines lieben Angehörigen beweinen und in Ihrer Trauer täglich und stündlich sein Bild, seine Gewohnheiten, seine Reden zurückrufen, werden Sie da dem Bilde des Verstorbenen etwas hinzufügen wollen? Gewiß nicht; denn alles, was nicht er ist, würde als ein Fremdes, als ein beleidigender Flecken auf dem Bilde der geliebten Persönlichkeit empfunden. Sie haben auch nicht nötig, Poesie hineinzuwirken. Denn der Verstorbene, durch Ihre Liebe, durch Ihre Sehnsucht geschaut, ist ja selber Poesie; und wird es um so mehr, je mehr sein Bild in Ihrer Erinnerung Deutlichkeit und Lebenswahrheit gewinnt.

So steht es mit meinen «Frühesten Erlebnissen». Sie sind aus einem solchen Anlasse entstanden.

Jeder, der sie liest, wird herausfühlen, daß es dem Verfasser um etwas anderes zu tun war als um das Interesse an seiner eigenen Person, um etwas Schöneres, etwas Heiliges: die Liebe zu denen, die seine ersten Erdenjahre segneten und die nun nicht mehr auf Erden sind. Es ist ein Heimatlied in erzählender Form. Und just das, daß es von allen Zutaten rein, daß es Zeile für Zeile lebenswahr ist, just das gibt dem Heimatlied seine Poesie.

Wenn dennoch das Ich fortwährend in den Vordergrund tritt, so geschieht das deshalb, weil der Mensch nun einmal nicht anders kann, als aus den eigenen Augen hinaussehen und aus dem eigenen Herzen hinausfühlen.

 

Das Erstaunen, welches das Büchlein vielfach hervorgerufen hat, läßt mich darauf schließen, daß treue Erinnerungen an eine so frühe Lebenszeit etwas Ungewöhnliches sind. Darum brauchte ich mich nicht zu kümmern, als ich den Text niederschrieb. Man erzählt schlicht die Wahrheit; ob diese den gewöhnlichen Erfahrungen entspreche oder ob sie befremde, geht einen nichts an. Und wenn sie etwa zu der psychologischen Wissenschaft nicht stimmt, um so schlimmer für die psychologische Wissenschaft. Die Tatsachen haben sich nicht nach der Wissenschaft zu korrigieren, sondern die Wissenschaft nach den Tatsachen.

Nachträglich jedoch, um den Zweifeln zu begegnen, mag ich wohl die Aufgabe übernehmen, den Ausnahmefall, der hier vorliegt, durch Erklärung glaublich und begreiflich zu machen.

Zunächst handelt es sich offenbar um ein Kind von frühzeitiger körperlicher und geistiger Entwicklung. Neben den Berichten der Eltern liegt hiefür ein direktes Zeugnis vor: Ich besitze zufällig ein Bild des Einjährigen, dem jeder Beschauer ein Alter von zwei bis vier Jahren leiht. Wenn man durchaus will, kann man ja annehmen, der Künstler hätte das Bild verzeichnet. Es fragt sich indessen, ob man durchaus wollen soll.

Dann ist in Betracht zu ziehen: die außerordentlich starke Gefühlsbetonung der kindlichen Erlebnisse. Wie stark diese war, ergibt sich daraus, daß die Eindrücke der ersten Lebensjahre im Mannesalter nachwirkten, zahlreiche Spuren in den Büchern des Schriftstellers hinterlassend, die ich nennen könnte. Ein Erlebnis des Zweiundeinhalbjährigen (sein Waldenburger Aufenthalt) hat vierzig Jahre später ein ganzes Werklein gezeitigt (den «Gustav»); ein Traum des Dreijährigen sollte ein besonderes Kapitel in «Extramundana» bilden.

Endlich ein außerordentlich wichtiger Umstand: Erinnerungen heften sich mit Vorliebe an die Örtlichkeit, man sieht Erinnerungsbilder. Meistens nun verläuft die erste Kindheit in der nämlichen Umgebung, in derselben Wohnung. In solchem Falle werden die Erinnerungsbilder der ersten Lebensjahre durch spätere übermalt. Dadurch entsteht eine undeutliche, ununterscheidbare Vermischung. Undeutliche Bilder aber vermag das Gedächtnis nicht zu schauen.

In unserem Fall dagegen haben wir viermaligen Wechsel der Örtlichkeit mit jedesmal klaren Linien der Umgebung. Vermischungen sind ausgeschlossen, und aus der örtlichen Datierung ergibt sich die zeitliche von selber.

Die Kontrollierung meiner Erinnerungen habe ich selbstverständlich nicht vernachlässigt. Die Erinnerungsbilder selber zwar bedurften einer solchen nicht, wohl aber ihre genaue zeitliche Bestimmung; denn das Gedächtnis (wie das Leben) ist schwach in der Mathematik. Es wächst kein Kalender an den Bäumen. Durch Zuhilfenahme der amtlichen Eintragungen darf ich wohl jede Einzelheit als zeitlich sichergestellt betrachten. Wenn ich mich zum Beispiel erinnere, wie mir mein Vater die Kellergruben zeigte, aus denen sein Häuschen entstehen sollte, und das amtliche Register feststellt, daß er das Häuschen im Sommer 1846 zu bauen begann, so war ich damals ein Jahr und zwei oder drei Monate alt.

Und ähnlich weiter.

Nichts täte mir übrigens mehr leid, als wenn ich Sie durch meine einleitenden Erörterungen unsicher gemacht und in der einfachen naiven Lektüre des Büchleins gestört hätte. Aus dem Herzen geboren, wendet es sich an das Herz des Lesers und nicht an seinen Verstand.

Überhaupt möchte ich Sie bitten, sich nicht durch das Gerede von der Schwerverständlichkeit meiner Bücher bange machen zu lassen.

«Ich verstehe leider nichts von Poesie.» Weshalb sollten Sie nichts von Poesie verstehen? Sind Sie denn Literaturprofessor? «Ich kenne leider so wenig von der Literatur.» Gott sei Dank, daß Sie so wenig von der Literatur kennen, dann habe ich meine Bücher gerade für Sie geschrieben.

Nur vor einem Irrtum muß ich Sie warnen: Fragen Sie niemals bei meinen Büchern: «Was bedeutet das?» Wenn Sie auf den Dietschiberg spazieren und unten den Vierwaldstättersee sehen, fragen Sie auch: «Was bedeutet der Vierwaldstättersee?» Und wenn Sie durch ein Wäldchen kommen: «Was bedeutet das Wäldchen?» Und was bedeutet denn die Eidechse, die Ihnen über den Weg läuft? Und was bedeutet eigentlich Ihr Hündlein? Und was bedeutet Ihr Bruder, der neben Ihnen spaziert? Was bedeutet überhaupt die ganze Welt? Bitte höflich, sagen Sie mir das, nachher werde ich Ihnen sagen, was meine Bücher bedeuten.

Einstweilen halten Sie es damit wie mit dem Dietschiberg.

*

Ich bin fertig. Denn was vor meinem ersten Lebensjahr geschah, daran erinnere ich mich nicht mehr.

Aber bitte, sagen Sie mir jetzt: Glauben Sie noch, daß meine Bücher ‹schwerverständlich› sind?


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