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«Aïda»

«Aïda» ist in jeder Beziehung ein hochinteressantes Werk. Einmal besitzt sie eine gewisse kulturhistorische Bedeutung als das edelste Überbleibsel einer zwar zeitlich nahen, aber gänzlich entschwundenen Epoche: der Glanzzeit des Khediventums. Aus dem Anlaß, wir meinen aus der Initiative des Khediven im Jahre 1870, erklärt sich auch das zweite interessante Moment: die seltene Genauigkeit der Lokalfarben in der Musik. Eine ansehnliche Zahl der Motive nämlich ist heimischen ägyptischen Weisen abgelauscht, so vor allem die Tempelmusik des zweiten Bildes, die lyrischen Partien der Aïdarolle und manches andere. In dritter Linie kommt die prunkhafte Ausstattung zu stehen, vermöge deren «Aïda» als Schaustück sogar die «Afrikanerin» übertrifft, und zwar im guten Sinne. Die gewaltige Prozessionsszene des vierten Bildes mit doppeltem Orchester, die in zwei Stockwerke geteilte Bühne des letzten Bildes, dazwischen eine fortlaufende Kaleidoskopie von kulturhistorisch treuen Kostümen, von Licht- und Farbenkunststücken, von erheiternden Götzenbildern und so weiter, das alles ist sehenswert.

Das Wichtigste bleibt jedoch der eigentümliche musikalische Charakter des Werkes, ganz abgesehen von den ägyptischen Anleihen. In «Aïda» sagt Verdi zum erstenmal seinem alten melodiösen Stil Lebewohl, um sich den modernen Gesetzen der ‹dramatischen› und, besser gesagt, der logisch-ausdrucksvollen Musik anzubequemen. Bekanntlich hat er sich in dem geliehenen Kleide mit erstaunlicher Schnelligkeit zurechtgefunden und bewegt sich nun in demselben, wie neben «Aïda» auch das «Requiem» und «Othello» bezeugen, mit derselben Eleganz wie ehedem in seinem eigenen. Speziell in «Aïda» herrscht ein gedämpfter Märchenzauber; es liegt ein duftiger dunkler Schleier über der Musik, unter welchem magische Schönheiten feenhaft hervorschimmern. In melismatischer Beziehung möchten wir die Arie «Holde Aïda» des Radames (Erstes Tableau) und das Duett des Radames mit Amneris (Zweites Tableau) hervorheben, beides Erfindungen von zauberhafter Schönheit. Ein Muster an innerer Kraft wie an äußerer Tonfülle ist der pompöse Marsch des vierten Bildes. Der zweite, mit dem fünften Tableau beginnende Teil bringt mehr sogenannte dramatische, das heißt unmittelbar packende Szenen, bedient sich dagegen auch gewöhnlicherer Ausdrucksmittel, bei welchen es an Reminiszenzen nicht fehlt; das sechste Tableau zum Beispiel ist eine texttreue Übersetzung des «Miserere» in «Trovatore». Charakteristischer für «Aïda» sind jedenfalls die vier ersten Bilder, vor allem die unbeschreiblich duftige Tempeltanzmusik des zweiten Bildes mit den geheimnisvollen Flötentriolen, die im letzten Bilde wieder aufleuchten. Überhaupt gehört weniger der Posaunenpomp als die überaus feine und originelle Mischung der Violinen und der Holzblasinstrumente zu den hervorragendsten Eigentümlichkeiten der «Aïda»; in dieser Beziehung aber darf die Instrumentation eine unvergleichliche Leistung heißen.


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