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Die Gräfin Chambord

Ich kannte einen estnischen Doktor, der sich einbildete, ein Dichter zu sein; das kommt mitunter in Estland vor. An Gelegenheiten und Versuchen, sein Talent zu beweisen, fehlte es nicht; aber siehe da, seine Bemühungen wurden vom Publikum mit Hohn und Gelächter empfangen. Einerlei, der Mann hatte sich einmal in den Kopf gesetzt, er sei etwas Hohes und zu noch Höherem berufen; und da niemand daran glauben und ihm den schuldigen Tribut entrichten wollte, zog er sich soviel wie möglich zurück und hielt sich selbst Hof, wie der Mond. Dieses Kunststück   denn ein Kunststück ist es, den Gebieter zu spielen, wenn niemand einem hört, gehört und gehorcht   gelang ihm in merkwürdigem Grade. Wer ihn sah, blieb überrascht; er hatte wirklich etwas Imponierendes im Blick, in den Bewegungen, im Gang; nichts Hochmütiges, im Gegenteil: eine raffinierte Urbanität, eine eigentümliche Verbindung von Zuvorkommenheit und Zurückhaltung. Niemals erlaubte er sich, in Zorn zu geraten; jedem Dürftigen reichte er Unterstützung, ob er sich auch selber des Nötigsten beraubte. Hatte ihn jemand beleidigt und entschuldigte sich, so fand er Antworten wie diese: «Ich kann mich nicht erinnern, wovon Sie sprechen.» Es war überhaupt unmöglich, sein Feind zu sein. Wer, ohne ihm vorgestellt worden zu sein, Böses über ihn sagte, den entschuldigte er mit den Worten: «Wie soll ich es ihm übelnehmen, er kennt mich nicht!» War der Verleumder dagegen sein Bekannter, so diente ihm folgender Grundsatz zur Richtschnur: «Es soll niemand bedauern, mit mir Bekanntschaft geschlossen zu haben; diese bleibt unter allen Umständen eine Gunst, die er selber nicht willkürlich durch seine Handlungen veräußern kann.» Und für alles dieses genoß er keinen Lohn und keine Ermutigung; er hatte sich zu seinem eigenen Privatvergnügen und Privatkreuz einen vornehmen Charakter angezogen. Seine wenigen Bekannten aber begannen ihn wirklich nach und nach hochzuachten und auszuzeichnen, und als wir ihn eines Tages begruben, hatten wir die Überzeugung, es hätte unter günstigen Umständen etwas Großes aus dem Doktor werden können.

 

So der Graf und die Gräfin Chambord. Auch sie waren zu ihrem Privatvergnügen Könige; auch sie spielten ihre Rolle mit so viel Würde, daß selbst die Feinde ihnen Achtung zollten; auch sie hinterließen den Eindruck, daß sie einem Thron zur Verzierung gereicht hätten. Ihre Aufgabe war freilich unendlich leichter als diejenige des armen estnischen Doktors; sie besaßen öffentliche Anhänger und Verehrer, ja sogar eine Partei, obschon eine kleine; die europäischen Höfe nahmen von ihnen Notiz und statteten ihnen von Zeit zu Zeit Huldigungen ab. Immerhin gehörte auch hier eine gewisse Charaktervornehmheit dazu, um zahlreichen Gelüsten und Einflüsterungen zu begegnen; und jene vielgescholtene «unbegreifliche Hirnverbranntheit» bei Anlaß der weißen Fahne im Jahre 1873, jene Starrköpfigkeit, die dem Paar die Krone kostete und die im besondern der Gräfin zur Schuld gelegt wird, zeigte sich in der Folge mehr und mehr gerechtfertigt. Die steifgoldene Gräfin mit ihrem ehrenhaften Gemahl hat eben vorgezogen, ihr blaues Blut in der Verbannung dahinsiechen zu lassen, als das rote der Untertanen zu vergießen. Sie hat der Versuchung widerstanden, einige Monate lang auf dem Purpur zu sitzen, um mit Schimpf und Schande von dannen gejagt zu werden; und statt Ehre und Haß hat sie das respektvolle Mitleid der französischen Nation mit ins Grab genommen.

Der Stil des gräflichen Hofes war stets zwar einfach, allein nichts weniger als bürgerlich; darin unterschied er sich von demjenigen des verbannten Louis Philippe. Vor dem Chislehurster Hofe zeichnete er sich aus durch Entsagung von Intrigen. Eine mäßig steife und harmlose Etikette beherrschte das Haus Heinrichs V.; man begrüßte die Herrschaften mit drei Bücklingen und erhielt von einem Edelmanne, der als Zeremonienmeister figurierte, Nachrichten über die königlichen Wünsche hinsichtlich des Äußern; zum Beispiel, daß man die Handschuhe nach dem Essen wieder anziehen möge und so weiter. Der König selber gebärdete sich möglichst zutraulich, sagte mitunter von der Königin: «Meine Frau», während bekanntlich jeder Uhrenmacher in La Chaux-de-Fonds von seiner Hälfte sagt: «Madame Grosjean». Anders die Gräfin; diese wird uns übereinstimmend als hochfahrend und förmlich geschildert, was uns nicht verwundern darf, wenn wir die obersten Grundsätze der weiblichen Psychometrie ins Auge fassen:

Wenn ein Mann (A) und eine Frau (B), welche auf derselben Stufe stehen, einem Dritten (C) überlegen sind, so ist die gesellschaftliche Distanz zwischen B und C dreimal größer als die Distanz zwischen A und C.

Ferner:

Wenn eine Frau durch eine Heirat im Range steigt, so ist ihre Entfernung von ihrer ursprünglichen Fläche gleich dem Quadrat der Geschwindigkeit, mit welcher sie die Rangleiter hinangestiegen ist.

 

Die Tätigkeit des königlichen Paares beschränkte sich neben der Etikette auf Kirchenbesuche und Wohltätigkeiten; sie waren geistliche Almoseniere. Der Wille befand sich auf der weiblichen Seite, was wir nicht der Merkwürdigkeit wegen erwähnen, sondern der Wahrheit wegen. Was die Intelligenz betrifft, so waltete in ihrer Abwesenheit eine Harmonie von seltener Schönheit zwischen den beiden. Heinrich V. hat in dieser Beziehung niemals die Welt im Zweifel gelassen; wer die Gräfin im Verdacht eines unproportionalen Geisteszustands hielt, den mag folgende Anekdote aufklären. Die Gräfin Chambord las als Habsburgerin Schiller und Shakespeare, begriff aber sogleich die Überlegenheit eines Bossuet und La Fontaine.

Nun muß ein mäßiger Mangel an Intelligenz eine der allerschätzenswertesten fürstlichen Eigenschaften heißen. Das wissen wir nicht allein aus den scharfsichtigen Beobachtungen Macaulays; eine Rundschau in den gegenwärtigen monarchischen Staaten bestätigt die segensreiche Wirksamkeit der Höfe und bekundet ihre herzliche Beliebtheit.

Ungeachtet der Wohltätigkeit hinterließ die Gräfin ein hübsches Vermögen (fünfzig Millionen Franken), welches Don Carlos, der es brauchen kann, zugute kommt, nebst seinem Bruder Don Alfonso. Außerdem ist ein Adoptivsohn, der Vicomte Maurice d'Andigné, vorhanden; die Adoptivkindheit scheint jedoch hier ein bloßer Ehrentitel zu sein.

Die Familie Orléans bezeugt in wundervoller Weise die Trauer um die königliche Verwandte. Die Presse spricht sich soviel wie möglich sympathisch über die Verstorbene aus; die legitimistische Partei widmet ihr natürlich längere Nachrufe. Der Text der letztern beweist zuweilen, daß diese Partei in loyaler Weise sich den geistigen Fähigkeiten des königlichen Paares zu assimilieren verstanden hat.


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