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Die Logik der Tatsachen

Oktober 1885

Vor alten, alten Zeiten war einmal eine Logik des Rechtes; dieselbe wollte unter anderem, daß Verträge gehalten würden und daß den Übertreter der Zorn der Kontrahenten treffe. Das ist nun schon lange her; heute fühlt sich einer als überlegenen Realpolitiker, wenn er der Macht der Ereignisse, das heißt dem ersten besten, der einen Vertrag mit der Faust durchstößt, das Wort redet; und über die ‹papiernen Abmachungen der Diplomaten am grünen Tisch› wird um die Wette gewitzelt und gespöttelt. Offen gestanden, ich begreife weder den Spott noch den Witz. Ist es die grüne Farbe des Tisches, welche lächerlich erscheint? Dann kann man ja künftig die Tische blau oder rot ausschlagen. Oder findet man es überhaupt unpassend, daß Diplomaten vor Tischen sitzen? Sollten etwa der preußische und der englische Gesandte mit untergeschlagenen Beinen am Boden kauern, dem orientalischen Lokalkolorit zuliebe? Oder mißfällt den Herren von der Feder das Papier? Aber worauf in aller Welt sollten denn die Verträge geschrieben werden? Doch nicht auf den Rockzipfel. Ich sehe nur eine einzige Möglichkeit der Verbesserung: man tätowiere den Exzellenzen die Vertragsartikel in die Haut, so werden sie sich vielleicht derselben etwas länger erinnern. Wollte man im allgemeinen über die Diplomaten spotten, so ließe sich das am Ende noch hören; es zeigen sich Symptome dafür, daß die Rasse degeneriert: von politischen Unterhändlern sind sie nachgerade zu privilegierten und majestätischen Depeschenträgern herabgesunken, zu einer Art ministerieller Postillione, denen jederzeit, wenn es sich darum handelt, eine bestimmte Antwort zu geben, die Instruktion fehlt.

Die nämlichen Leute indessen, welche die diplomatischen Abmachungen verhöhnen, bekunden einen ganz naiven Glauben an die Wichtigkeit diplomatischer Geschäfte, indem sie in geheimnisvollem Ton von den Reisen der vornehmen Botschafter berichten; auch sind jedermann die grünen Tische und die papiernen Abmachungen überaus willkommen, wenn sie einen Krieg verhindern oder beendigen. Dieser ganze Spott ist nichts anderes als eine Beschönigung, dazu ausersehen, das eigene Rechtsgewissen zum Schweigen zu bringen.

Vor alten Zeiten war dann auch einmal eine Logik des Verstandes. Dieselbe lehrte, daß ein Vertrag, der einen Frieden vermittelte, nicht ferner in Frage gestellt werden dürfe, selbst nicht in Einzelheiten, weil ja doch die einzelnen Bestimmungen, wie unvollkommen sie an sich sein mögen, die Bedingungen des Friedens enthalten. Auch diese Art Logik will unsere Zeit nicht mehr einsehen. Anstatt den leisesten Versuch einer Veränderung an einem Zustande, wie er durch einen Vertrag geschaffen wurde, als eine Gefahr für den europäischen Frieden im Keim zu ersticken, erlaubt man heute jedem Ereignis, die Verträge zu ‹korrigieren›, nach dem Grundsatz: Durch die Tatsache, daß ein Vertrag gebrochen wird, ist seine Fehlerhaftigkeit erwiesen.

Das führt uns denn zu der Logik der Tatsachen. Dieses moderne Staatsrecht, das wir freilich bei Bluntschli vergebens suchen, besteht aus zwei Paragraphen und einem Zusatzartikel:

Paragraph eins: Die Verhältnisse, wie sie durch die Gewalt von gestern geschaffen wurden, bestehen zu Recht und dürfen fortan auf ewige Zeiten nicht angetastet werden.

Paragraph zwei: Sollte aber eine Gewalt von morgen diese Verhältnisse umstoßen, so ist das zwar zu beklagen und mit sämtlichen Botschaftern und Gesandten zu widerraten, nötigenfalls mit Memoranden, Konferenzen und Flottendemonstrationen; hilft das aber nichts, dann besteht der neue Zustand neuerdings zu Recht und darf wiederum nicht angetastet werden.

Anmerkung: Die gegen den Vertragsbrüchigen abgesandten Botschafter und Kriegsschiffe haben in letzterm Fall eine Frontveränderung gegen den Geschädigten auszuführen.

Zusatz: In keinem Fall dürfen zugunsten eines Vertrages die Waffen gezogen werden, und die Kriegsschiffe sollen ja nicht schießen.

Es ist das Staatsrecht der internationalen Angst.

Erreichte diese Kleinmütigkeit ihr Ziel, den Frieden, dann könnte man zur Not über den moralischen Bankerott Europas hinwegsehen. Allein hier wie überall verdoppelt die blasse Angst die Gefahr und zieht dasjenige groß, was sie um jeden Preis vermeiden wollte.

Nämlich besagter Logik der Tatsachen fehlt jener Schlußsatz, der jeder Logik unentbehrlich ist, und da haben sich denn neben den Serben die Griechen als echte Nachkommen des Aristoteles bewiesen, indem sie den Schluß ergänzten: Wenn denn einmal jede Tatsache   das ist ihre logisch unanfechtbare Philosophie   ein Recht schafft, so laßt uns ebenfalls von diesem Rechtssamen ausstreuen. Es ist die Mutlosigkeit der Konferenzmächte, welche den Serben und Griechen die Waffen in die Hand gedrückt und damit die Erhaltung des Friedens ungemein erschwert hat. Freilich war es eine odiöse Aufgabe, eine nationale Einigung rückgängig zu machen und eine unblutige Erhebung mit Armeen zu unterdrücken. Dennoch war es eine deutliche Aufgabe, deren pflichtgetreue Erfüllung wohl unter allen andern Lösungen das sicherste Resultat mit den unblutigsten Mitteln erreicht hätte.

Einer raschen und bestimmt ausgesprochenen Desavouierung des bulgarischen Nationalstreiches, verbunden mit einer Kollektiveinladung an die Pforte, ihr Recht zu wahren, würde Rumelien sich gebeugt haben (wie es denn selbst jetzt noch die Neigung dazu bekundet), und der Kredit des Berliner Vertrages wäre gefestigt. Das war die Logik des Rechts und der Verträge, wohl auch zugleich die Logik der Klugheit.

Was dagegen die Logik der Tatsachen gezeitigt hat, das erleben wir heute: der Kredit Europas im Balkan zum Kinderspiel geworden, der Krieg aller gegen alle bedenklich drohend. Nach fünf Wochen endlich scheint man das tun zu wollen, was man versäumte, als es Zeit war, nämlich die möglichst genaue Wiederherstellung des Status quo ante. Wird das jetzt, nachdem Serben und Griechen mobilisiert haben, noch ausführbar sein? Wird damit nicht vielmehr eine neue Komplikation geschaffen? Es ist, als hätte Gladstones täppische Friedenshand zugegriffen und als sollten wir die sieben Pfuschereien Ägyptens in vergrößertem Maßstab erhalten. Möge es den großen Staatsmännern Deutschlands und Englands gelingen, die Gefahr noch im letzten Augenblick zu beseitigen; das bleibt zu wünschen, kaum mehr zu hoffen. Wenn uns in diesem Augenblick noch ein Trost bleibt, so ist es das Bewußtsein, daß die englischen Philanthropen derzeit von den Geschäften fern sind, sonst dürfte das Blut in Strömen fließen.


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