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Friedrich Nietzsche aus seinen Werken

Eine schwierigere Aufgabe kann einem literarischen Referenten nicht zufallen als die Anforderung, gleichzeitig über zehn Werke eines höchst originellen und im Ausdruck vielfach dunklen Schriftstellers Bericht zu erstatten. Was dieser in zwei Jahrzehnten gearbeitet, soll jener binnen wenigen Monaten nacharbeiten und obendrein charakterisieren, vielleicht gar kritisieren! Die natürlichste Antwort auf ein solches Ansinnen wäre die Ablehnung, denn Unmögliches zu leisten, kann niemand verpflichtet werden. Wenn wir uns gleichwohl widerstrebend zu dem gewagten Versuch verstehen, so geschieht es um der Sache willen, das heißt, um dem Leser eine Ahnung von den Geistestaten eines außerordentlichen Denkers zu vermitteln und ihn hiedurch zu ermuntern, direkte Bekanntschaft mit dessen Werken zu schließen; zugleich setzen wir aber voraus, daß man nichts Unbilliges von uns erwarte. Nämlich von einer Erklärung oder auch nur von einer ausreichenden Charakteristik kann selbstverständlich nicht die Rede sein, weil dazu das Quellenmaterial und der methodische Apparat eines Biographen gehörte; wir müssen uns also zunächst einzig auf die Werke beschränken. Allein selbst innerhalb dieses Rahmens kann ein kleiner Aufsatz, der sich nicht auf langjähriges Studium, sondern bloß auf einmalige aufmerksame Lektüre stützt, nichts anderes bieten als den treuen Ausdruck rein persönlicher Empfindungen.

Zur bessern Übersicht wählen wir die Gruppierung und schreiten vom Untergeordneten zum Höhern vor, ein Prozeß, der sich um so mehr empfiehlt, als sich der Fortschritt der Entwicklung bei Nietzsche mit dem chronologischen deckt. Zwischen dem, was er einst war und was er jetzt ist, besteht ein unendlicher Unterschied zugunsten der Gegenwart; auf unsern Verfasser selber paßt, was er von Wagner aussagt: er begann alt und wurde erst viel später jung. Daher darf sich denn auch der Leser nicht daran stoßen, wenn wir da, wo wir von den frühesten Werken handeln, mitunter ein ablehnendes Urteil aussprechen.

Der Apologet und Polemiker

«Unzeitgemäße Betrachtungen» enthaltend:
1. «David Strauß»
2. «Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben»
3. «Schopenhauer als Erzieher»
4. «Richard Wagner in Bayreuth»
«Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik»

Es wird stets ein Schauspiel von zweifelhafter Anmut bleiben, wenn wir sehen müssen, wie sich ein noch unbekannter Schriftsteller an einer Gestalt von unzweifelhaftem Verdienst, die jedermann ehrt, polemisch vergreift. Speziell der Verfasser dieser Zeilen fühlte sich seinerzeit durch den Angriff Nietzsches gegen Strauß so gründlich abgestoßen, daß die Erinnerung an jenes Attentat ihm während langer Jahre die Lust raubte, mit Nietzsches Werken fernerhin Bekanntschaft zu schließen. Hierüber sind nun bald fünfzehn Jahre vergangen; wir haben inzwischen Nietzsche schätzen gelernt, ja wir bringen seinem einsamen Standpunkt und dem Mut, mit welchem er denselben gegen eine Welt behauptet, sogar persönliche Sympathie entgegen; allein indem wir neuestens den «David Strauß» wieder vornahmen, mit dem besten Willen, unser ehemaliges Urteil zu kassieren, wurden wir nach wie vor zu dem Schluß gezwungen: es bleibt ein böses Buch, das keine Rechtfertigung, sondern bloß eine Entschuldigung erträgt; die beste Entschuldigung aber, die wir ihm zu geben wissen, besteht in dem Glauben, daß der Verfasser heute nicht minder als wir bedauern wird, es einst geschrieben zu haben. Wir teilen mit gutem Vorbedacht nur das Allernotwendigste zur Begründung mit und beschränken uns hiebei ganz allein auf die Bedenken des Anstandes. Nietzsche nennt Strauß ein «unästhetisches Magisterlein», einen «lüderlichen Gesellen»; er spricht von einer «Straußen-Idee»; er behauptet, Strauß sei zu schlecht, um Mozart nur zu loben (Soll etwa die Verehrung Mozarts ein Privileg der Wagnergemeinde sein? Wir fürchten, sie würde dann etwas katzenmusikalisch geraten!); er interpelliert ihn sogar mit direktem Vokativ des Hasses: «Sie bescheidener Mann.» «Sie galanter Religionsstifter.» «Sie tändelnder Liebling der Grazien.» Wer so schreibt, schreibt kein Buch, sondern ein Pamphlet. Genug davon.

Mehr ins Allgemeine zielt der Angriff des zweiten Bandes: «Vom Nutzen und Vorteil der Historie für das Leben.» Hier kommt nun Nietzsches Überlegenheit, welche den alexandrinischen und philiströsen Geist unserer öffentlichen Meinung in seiner ganzen Nichtigkeit durchschaut, dem Leser zum Bewußtsein. Im Antistrauß hatte es an überraschenden Lichtblitzen nicht gefehlt, diesmal jedoch erhalten wir Idee an Idee in glänzenden Reihen. Wenn sich unterwegs auch unser kampflustiger Verfasser mit einigen Millionen Zeitgenossen im allgemeinen und mit Eduard von Hartmann im besondern herumschlägt, so bleibt doch die Wahrheit das sichtbare Ziel, nach welchem der Text sich bewegt, und es fallen auf Schritt und Tritt für den Leser reife Gedankenfrüchte ab. Wir enthalten uns nur mit Mühe der Zitate; allein wollten wir bei Nietzsche zu zitieren beginnen, dann müßte uns zuvor der «Bund» Extrasonntagsblätter bewilligen.

Auf apologetischem Gebiet hat uns Nietzsches «Schopenhauer als Erzieher» eine außerordentliche Freude bereitet. Vor einer geistesverwandten Größe wie Schopenhauer stehend und mit Pietät für dieselbe erfüllt, weiß Nietzsche neben seinem gewöhnlichen Reformatoreneifer der Überzeugung in dem genannten Buche zugleich Akzente des Gefühls und hiemit Einfachheit und Natürlichkeit zu finden. Einzelne Seiten des «Schopenhauer als Erzieher» lassen sich lesen, als wären sie von einem gewöhnlichen vortrefflichen Schriftsteller geschrieben. Um aber dem Leser einen schwachen Begriff von der phänomenalen Geistesfreiheit zu geben, mit welcher unser Denker sich ein für allemal über alle Schranken der öffentlichen Meinung hinwegsetzt, kein Urteil annehmend, und würde es selbst tutti unisono verkündet, er hätte es denn zuvor revidiert, wollen wir ihm ausnahmsweise ein einziges winziges Zitat gönnen. Gegenüber der trivialen Behauptung, jedes Genie sei ein Kind seiner Zeit, bemerkt er korrigierend: «vielmehr ein Stiefkind seiner Zeit». Anderswo deckt er die Schlechtigkeit des Gemütes auf, welche unsere Philister verraten, indem sie aus Schmeichelei für Goethe jedes Dichterunglück als einen Beweis der Schuld und der Unvollkommenheit verunglimpfen. Hätte Nietzsche auch nur diese eine Seite geschrieben, wir drückten ihm sympathisch und dankbar die Hand. Er hat aber noch mehr geschrieben, er hat es gewagt, an Goethe selber wiederholt mancherlei zu tadeln, und um dieses beinahe übermenschlichen Mutes ziehen wir tief den Hut vor ihm ab.

Neben Schopenhauer verehrt Nietzsche bekanntlich auch Richard Wagner: zwei Bücher liegen uns als Glaubensbekenntnisse hierüber vor. Nun ist über Wagner in unserer Abhandlung nicht die Rede, bloß Nietzsches Verhältnis zu Wagner geht uns an. Ich habe mir den Wagnerglauben unseres Ungläubigen aus seinen Schriften zu erklären gesucht und folgendes zu finden geglaubt. Nietzsche gehört zu jenen Denkern, für welche die Namen berühmter Männer ein Symbol, ein Ideal, ja sogar ein Allgemeinbegriff sind. Wer von Montaigne sagen kann: «Er bedeutet in der Bewegtheit des Reformationsgeistes ein In-sich-zur-Ruhe-kommen, ein friedliches Für-sich-sein und Ausatmen», wer einen Genitiv bildet wie folgenden: «der Mensch Rousseaus, Goethes, Schopenhauers», wer die historischen Persönlichkeiten der Weltgeschichte gleich schwarzen und roten Kirschen in zwei Körbe, einen apollinischen und einen dionysischen, auseinanderscheidet, bei diesem ist es keineswegs verwunderlich, wenn er zuerst ein Bedürfnis nach einem neuen Typus aus seinem Kultursystem herausdestilliert, dann nach einem Menschen sucht, der ihm entspräche, und denselben zufällig Richard Wagner nennt. Das Buch «Richard Wagner» bietet uns denn auch weniger eine Schilderung des wirklichen Menschen Wagner als eine aprioristische Konstruktion eines modernen Messias. Das Buch gehört nicht in eine menschliche Bibliothek, sondern auf den Altar von Bayreuth, wo wir es gerne liegen lassen.

Übrigens sprechen sich die neuesten Schriften Nietzsches ganz anders über Wagner aus. So heißt es zum Beispiel in der «Fröhlichen Wissenschaft»: «Es darf nicht verschwiegen werden, daß Wagners Stil an Geschwüren und Geschwülsten krankt.» Weiter wird geklagt, man höre weder Text noch Musik bei einer Wagnerschen Oper, wenn man beides nicht zuvor auswendig gelernt habe. Auch wird an demselben Ort und wiederholt später die Melodie als «der sublimste Genuß in der Musik» gerühmt. Wir dürfen daher das Buch «Richard Wagner» als veraltet und überwunden betrachten.

 

Ungleich interessanter ist das tiefsinnige Werk «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik». Das kritiklose, aus Konvention und Tradition kindisch zusammengeleimte Pappendeckelgemälde, das sich die Welt als das Bild der griechischen Kulturwelt gefallen läßt, zusammenzuschlagen und uns dafür die wahrhaftigen, nichts weniger als harmonischen Griechen vor Augen zu stellen, dazu ist Nietzsche der rechte Mann. Auch hat er in das Wesen der griechischen Tragödie Einblicke getan wie keiner vor ihm. So trifft er wohl einen Hauptnagel auf den Kopf, wenn er in der «Morgenröte» gelegentlich sagt: «Der tragische Genuß bedingt ein grausames, mit zähen Nerven versehenes Zeitalter; es liegt etwas von Götterkannibalismus in der Tragik.» Oder in der «Fröhlichen Wissenschaft»: «Der Athener ging ins Theater, um schöne Reden zu hören» (im Text hervorgehoben). Überhaupt zeigt sich Nietzsche als Dramaturge den Literarhistorikern weit überlegen; er dringt hinter die Kulissen des griechischen Theaters und findet den Punkt, wo Aristoteles als Philosoph den schaffenden Dichter mißverstand. Ich wüßte keinen Menschen der Gegenwart, welcher sich mit Nietzsche in der Erkenntnis des Tragischen messen dürfte.

Freilich muß man die herrlichen Schätze, welche die «Geburt der Tragödie» einschließt, mühsam verdienen. Mit erbarmungsloser Konsequenz werden zwei Kulturprinzipien, Apollinismus und Dionysismus, erst aus der Griechenwelt heraus gezwirnt und dann auf die ganze Nachwelt fortgesponnen, um die historischen Persönlichkeiten an den dünnen Faden künstlich aufzuhängen, wie die Puppen an einem Draht. Oft ertappt man sich an dem Frevel, daß man heimtückisch einige Seiten überschlagen hat. Nicht als ob uns jemals der Gedanke des Autors im Stiche ließe; doch ist alles so abstrakt, so weit entfernt von der Wirklichkeit gedacht, daß wir von unten her neutral zusehen und uns fragen, ob wir uns wirklich die Mühe geben wollen, dort oben hinauf nachzuspringen und nachzudenken. Nur ein geborner Philosoph denkt zu seinem Vergnügen in der Luft um Begriffe herum; wir andern begehren stets, die Gewißheit zu verspüren, daß die Gedanken auch ein Licht, eine Farbe und einen Schatten auf die Wirklichkeit werfen. Diese Gewißheit verläßt uns aber öfters während der Lektüre des genannten Werkes.

Der Spruch- und Orakelverkünder

«Menschliches, Allzumenschliches»
«Morgenröte   Gedanken über die moralischen Vorurteile»
«Fröhliche Wissenschaft»

Indem wir zu der zweiten Periode übergehen, bemerken wir einen gewaltigen Sprung des Fortschrittes, sowohl hinsichtlich des Inhaltes wie der Form. In beider Beziehung findet der Autor jetzt erst sich selber, den Kathedergelehrten, der sich in den oben genannten Schriften noch deutlich bemerkbar machte, fast gänzlich abstreifend, um als ein Ganzes vor uns zu treten, als ein Philosoph. Statt der dozierenden, weitschweifigen und blassen Logik begegnen wir jetzt dem dunklen, gedrängten Aphorismus; während wir in den früheren Schriften viele Seiten ungelesen überschlugen, werden wir von nun an gezwungen, über die einzelnen Sätze nachzugrübeln; kurz, der Verfasser hat das Gas seines frühern Stils kondensiert und liefert uns von nun an einen komprimierten Lesestoff. Wir begrüßen das als einen gewaltigen Gewinn; denn harte Brocken sind immer noch viel leichter zu verdauen als Hektoliter dünnflüssiger Abstraktionen. Auch begrüßen wir es als eine richtige Selbsterkenntnis, daß ein so willkürlicher Denker schließlich den Aphorismus zu seinem Lieblingsausdruck gewählt hat. Wenn einer der Welt feindliche Behauptungen ins Gesicht schleudern will, die Begründung verschmähend, so hat er auch die zusammenhängende Rede nicht nötig. Mit dem Spruch nähert sich ferner Nietzsche einer Tugend, die ihm bisher vollständig mangelte, der Tugend eines schriftstellerischen Stils. Was war das für ein ewiges Schwanken, was für eine Ungleichheit, bald in redseligen Invektiven, bald in knappen Sätzen, bald wieder in abstrakten Kathedertrivialitäten einherschreitend! Keines der bisher besprochenen Bücher gleicht im Stil dem andern, keines sich selbst, keines Nietzsche. Wie Wagner im «Tannhäuser», «Holländer» und «Lohengrin» sogar die abgedroschensten Phrasen aus Meyerbeer und andern seiner Feinde nicht verschmäht, so erinnert der explizierende Nietzsche der ersten Periode unaufhörlich mit seinem Stil an diejenigen, die er am eifrigsten verabscheut: an die Universitätsprofessoren der Philosophie. Einen «David Strauß» zum Beispiel kann doch nur ein Professor verüben. Der Nietzsche der ersten Periode war wunderlich, ohne originell zu sein, jetzt bleibt er zuweilen noch wunderlich, aber er ist immer jemand. Noch unterscheidet sich freilich der neuere Stil von einem Schriftstellerstil durch allerlei Eigentümlichkeiten; noch immer erkennt man selbst an dem Religionslehrer den Philosophen. Der Wortschatz trägt nach wie vor abstraktes, keineswegs poetisches Gepräge, die adäquate Raumproportion des Inhalts und des Ausdrucks wird nur in glücklichen Ausnahmestunden erreicht, so daß Nietzsche in der Regel bald länger, bald kürzer redet, als ein ungelehrter Schriftsteller tun würde; an die Stelle der früheren unmotivierten Breite ist jetzt meist eine gekünstelte, nicht durch den Stoff bedingte Aposiopese getreten. Vor allem aber das Auf- und Abwärtsdenken durch die verschiedensten Etagen der Vorstellung, das Verschnörkeln der Realität mit Kulturblumen und philosophischen Begriffen ist, wenn auch versteckt, in den neuen Stil herübergekommen. Es wird Nietzsche auch jetzt nicht recht wohl, wenn er nicht einen gesunden, irdenen Gedanken unvermutet in irgendeine metaphysische Potenz emporschnellen kann, und wäre es nur durch einen fragenden Schlußsatz, der das soeben Gesagte aus dem natürlichen Gebiet in eine inkommensurable Höhe projiziert. Die Etagen sind neuestens ineinandergeschoben, das ist der Unterschied. Beidemal fehlt die Einheit der Perspektive.

Da wir nun schon um ein gutes Stück den gebührlichen Raum einer Besprechung überschritten haben, müssen wir uns so kurz als möglich fassen. Deshalb wollen wir das «Menschliche, Allzumenschliche», welches nach unserem Dafürhalten bloß eine Vorstufe zu der «Morgenröte» und der «Fröhlichen Wissenschaft» bedeutet, nur beiläufig behandeln. Das «Menschliche, Allzumenschliche» ist eine Spruchsammlung von Gedankenspänen über die gesamte Welt und noch einige Gegenstände dazu, an das Größte wie an das Kleinste rührend, Erlebtes neben das Erdachte stellend, der Vollständigkeit willen. Rund um die Welt herum ist aber niemand bewandert, und so kann selbst ein Nietzsche der Gefahr solcher umfassender Spruchweisheit, der Gefahr, Dilettantisches zu liefern, nicht jederzeit entrinnen. Die «Morgenröte» ist ein Werk, die «Fröhliche Wissenschaft» ein Schatzkästlein, das «Menschliche, Allzumenschliche» dagegen vermögen wir nur als eine Sammlung von Abfällen zu betrachten, wo Perlen und Stroh wahllos miteinander vereinigt sind. Man vergleiche zum Beispiel die prächtige Motivierung der französischen Dramatik mit den fadenscheinigen Sprüchen über Weib und Mann, von welchen einige in den Münchener «Fliegenden Blättern», andere in einer Posse von L'Arronge besser am Platze wären: «Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen.» Damit wollen wir beileibe nicht die betreffende Sammlung entwerten; Nietzsches Geist leuchtet an tausend Stellen empor; an menschlichem, allzumenschlichem Interesse des Stoffes überflügelt sogar das Buch alle übrigen Schriften, ebenso wie es von keinem andern an Klarheit und Natürlichkeit des Stils erreicht wird. Wer daher Nietzsche auf die leichteste und angenehmste Art kennenlernen will, dem sei das «Menschliche, Allzumenschliche» vor allen andern Werken empfohlen.

Nun aber zu dem Hauptwerke, welches uns persönlich teurer ist als alle frühern zusammen, zu der «Morgenröte». Die Ideenfülle der «Morgenröte» spottet jeder Beschreibung. Während wir früher das Bemerkenswerteste anstrichen, mußten wir uns vor der «Morgenröte» dieses System nach wenigen Seiten schon abgewöhnen, denn wir hätten so ziemlich alles als bedeutend hervorheben müssen. Eine ungeheure Geisteskraft bewegt sich hier, zwar mühselig und schwerfällig, aber unaufhaltsam gegen die Schanzen und Schuttwerke der menschlichen Irrtümer und Vorurteile heran, um die gefangene Wahrheit zu erlösen. Vor diesem Buche muß sich die Behauptung, es sei alles schon einmal gedacht worden, beschämt zurückziehen; denn es denkt auf einer Höhe, die zu erblicken schon große Geistesanstrengung erfordert. Eine Lektüre für den Eisenbahnwagen ist es nicht, das können wir dem Leser heilig versichern. Aus den tiefsten Höhlen des Nachsinnens, wir möchten beinahe sagen der Inspiration, gräbt der Verfasser seine geheimnisvollen Sprüche hervor; es ist, als ob er mit den Füßen in transzendentaler Nährgelatine stünde und mit dem Kopf über die andern Menschen wegblickte. Häufig sehen wir den Nutzen des Spruches nicht ein. Nietzsche bleibt darin Philosoph, daß er am Zweifel zweifelt und über den Gedanken denkt, aus professioneller Gewohnheit; nennt er sich doch selbst einen Grübler; das Gesamtwerk hat jedoch ein Zentrum und ein gemeinsames Ziel, und darin unterscheidet es sich von seinem unbedeutenderen Vorgänger, dem «Menschlichen, Allzumenschlichen». Stilistisch freilich möchte es gegenüber dem letztern Werk einen Rückschritt darstellen, wenn anders unsere Meinung, daß ein Orakelspruch einen klaren Spruch nicht aufwiege, richtig ist. Charakteristisch ist für die «Morgenröte» das Fragezeichen (oder das Ausrufungszeichen oder der Gedankenstrich) am Schlusse vieler dieser pythischen Sprüche. Weisheit in Zweifel aufzulösen, den Leser zu entlassen, wenn derselbe eben zu fragen anfängt, das ist hier System. Haben wir ferner richtig beobachtet, wenn wir in der Fremdartigkeit der Ideenverbindungen einen Versuch zu erblicken meinen, den französischen Esprit, für welchen der Verfasser theoretisch eine merkwürdige Liebe gegen die Natur bekennt, auf die sibyllinische Weisheit praktisch anzuwenden? Wenn das der Fall wäre, so würden wir uns eine Anmerkung dazu gestatten.

Die «Fröhliche Wissenschaft» ist gewissermaßen eine Gelegenheitsphilosophie, insofern sie, wie Nietzsche uns in der Vorrede mitteilt, einer Stimmung ihre Entstehung verdankt. Der Anlaß ist ein äußerst sympathischer; der Verfasser war nämlich von einer schweren, langwierigen Krankheit unverhofft genesen und empfindet demnach das Bedürfnis, mit neugewonnenen Kräften an die Denkarbeit zu schreiten. Nun würde man sich jedoch gewaltig täuschen, wenn man in der «Fröhlichen Wissenschaft» Fröhlichkeit erwartete; es ist vielmehr Ruhe, Ordnung und Maß, mit einem Wort die Harmonie in der Entwicklung des an sich nichts weniger als fröhlichen Stoffes, welche allein den Einfluß einer gehobenen Stimmung erkennen läßt. Die «Fröhliche Wissenschaft», wie übrigens die meisten philosophischen Schriften Nietzsches, zerfällt in mehrere Bücher. Dem ersten möchten wir die Überschrift «Völkerpsychologisches» geben. Es klingt an schon Dagewesenes an, so daß wir anfänglich die Empfindung hatten, als bedeute das neue Werk nichts anderes als Variationen zu den Themen der «Morgenröte». Wir verspürten dieselbe Bewunderung für den Stoff, aber auch dieselben Bedenken gegen die Form, gegen die Allgemeinheit der Ideen, welche in abstrakter Höhe schweifen, ohne durch Einzelheiten zu entschädigen, gegen die Brückengedanken, wo, anstatt Gegenstände aufeinander zu beziehen, die Beziehungen selber den Gegenstand bilden, gegen die unnütze Betätigung einer allzu umfassenden, den Autor selbst hindernden Belesenheit (Zitate aus aller Welt bis auf die neuesten französischen Romanciers herab), gegen die bloß streifende, zwar nicht oberflächliche, aber willkürliche, zufällige Behandlung wichtiger Probleme, zum Beispiel der weiblichen Keuschheit, endlich gegen die schon erwähnte Zwecklosigkeit mancher Fragen und Antworten, wo das Verhältnis des Gesagten zum Leben gar nicht mehr durchzufühlen bleibt. Das zweite Buch dagegen hat uns von sämtlichen Schriften unseres Philosophen den ungeteiltesten Genuß gewährt; in ihm fanden wir die Tiefe der «Morgenröte» mit der Klarheit des «Menschlichen, Allzumenschlichen» verbunden; man kann sich dem Texte ganz und voll hingeben. Zu einem großen Teil beruht dieser Vorzug auf der Gunst des Stoffes; denn Nietzsche spricht hier über Dinge, die interessant sind, die er weiß und die er durchdacht hat: über Kunst und Altertum, über Poesie und Sprache. In den genannten Gebieten zeigt sich Nietzsche als Meister, weil er da zugleich selbständig (originell) und sachlich denkt; hier lauschen wir ihm am liebsten. Hören wir beispielshalber einige Sätze über die deutsche Sprache. «Man schreibt nur im Angesichte der Poesie gute Prosa.» «In den Ländern einer höfischen Kultur bedeutet der technische Ausdruck und alles, was den Spezialisten verrät, einen Flecken des Stils.» Eine Stelle, die zugleich dem Denkermut (dem («intellektualen Gewissen») Nietzsches die größte Ehre macht, zitieren wir etwas weitläufiger: «Etwas Höhnisches, Kaltes, Gleichgültiges, Nachlässiges in der Stimme: das klingt jetzt den Deutschen ‹vornehm›. Abscheulichere Klänge sucht man in Europa vergebens. Der Offizier, und zwar der preußische, ist ihr Erfinder.» Und nachdem er den sonstigen Tugenden des Offiziers volle Gerechtigkeit hat widerfahren lassen, fährt er fort: «Sobald er aber spricht und sich bewegt, ist er die unbescheidenste und geschmackloseste Figur im alten Europa.» Und dabei wundern sich die Deutschen, warum ihnen kein feines Konversationsdrama gelingen will! Endlich, von der Übertragung jener willkürlichen und geschmacklosen Durchdienasevornehmheit auf den Schriftsteller sprechend: «Fast in jeder Rede des größten deutschen Staatsmannes, und selbst dann, wenn er sich durch sein kaiserliches Sprachrohr vernehmen läßt, ist ein Akzent, den das Ohr eines Ausländers mit Widerwillen zurückweist.» Ich hatte mich von jeher darüber gewundert, warum Nietzsche mit seinem außerordentlichen Geist in Deutschland nicht hochberühmt dasteht. Jetzt wundere ich mich nicht mehr, denn der neudeutsche Reichsruhm ist musterhaft diszipliniert. Ausnahmsweise kommen kleine Schlacken auch im zweiten Buch der «Fröhlichen Wissenschaft» vor, etwa ein abstrakter Schwanz am Schlusse einer vernünftigen Betrachtung, geschnörkelt oder aenigmatisch in metaphysische Höhe gestreckt, oder eine allgemeine Behauptung, welche vor der Kontrolle der Wirklichkeit nicht besteht, wie zum Beispiel der Satz: «Nur die deutschen Musiker verstehen sich auf den Ausdruck bewegter Volksmassen», während bekanntlich Auber mit der «Stummen» das unerreichte Vorbild in dieser Hinsicht bleibt, von dem sehr bewegten Rütlischwur Rossinis zu schweigen. Doch was wollen solche Kleinigkeiten gegenüber dem herrlichen Genuß einer Überfülle der fruchtbringendsten Wahrheiten besagen! Im ganzen und großen bleibt das zweite Buch der «Fröhlichen Wissenschaften» ein Meisterstück, dem wir recht zahlreiche Nachkommenschaft wünschen.

Das dritte Buch handelt hauptsächlich von Religion und Politik. Auch hier müssen wir unser Gelübde brechen und zitieren. Man nehme gleich den ersten Paragraphen: «Gott ist tot: aber so wie die Art der Menschen ist (verstehe: Hammelart), wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. Und wir   wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!» Ferner: «Wenn Gott ein Gegenstand der Liebe werden wollte, so hätte er sich zuerst des Gerichts und der Gerechtigkeit begeben müssen: Ein Richter, und selbst ein gnädiger Richter, ist kein Gegenstand der Liebe. Der Stifter des Christentums empfand hierin nicht fein genug   als Jude.» Und unmittelbar darauf: «Wie? Ein Gott, der die Menschen liebt, vorausgesetzt, daß sie an ihn glauben! Eine verklausulierte Liebe! Wie orientalisch ist das!» Und wieder: «Buddha sagt: ‹Schmeichle deinem Wohltäter nicht!› Man spreche diesen Spruch nach in einer christlichen Kirche: er reinigt sofort die Luft von allem Christlichen.» Wie angenehm dieser Gedankengang an das schöne Wort von Börne erinnert: «Die Deutschen schmeicheln dem lieben Gott, als ob er ein deutscher Prinz wäre.» Es folgen in den übrigen Büchern noch verschiedene Betrachtungen, die wir nicht unter einen einzigen Oberbegriff zu schieben verstehen. Hinsichtlich des Wertes derselben haben wir eine merkwürdige Beobachtung aus dem «Menschlichen, Allzumenschlichen» bestätigt gefunden. Im Unterschied zu prägnanten Denkern (ursprünglich denkt Nietzsche profus) geraten die kürzesten Sprüche unserm Philosophen am wenigsten. Dieselben klingen und scheinen, aber beleuchten nicht. Die Vorzüge der «Fröhlichen Wissenschaft» haben uns zu einiger Ausführlichkeit gezwungen, doch wird uns der Leser schwerlich zürnen.

Der Dichter

Der «Fröhlichen Wissenschaft» sind einige Verse voran- und nachgeschickt. Wir meinen indessen nicht das, wenn wir von dem Dichter Nietzsche reden, denn für die Blässe jener Verse vermögen uns die übrigen Vorzüge derselben nur halb zu entschädigen. Wohl aber verdient der «Zarathustra» den Namen eines Poems in bestimmtem, nämlich in orientalischem Sinne. Mitmenschen pflegen sich gegenseitig zu fragen: «Verstehst du den ‹Also sprach Zarathustra?›» Und als Antwort schütteln sie die Köpfe. Ich bekenne offen noch Schlimmeres, nämlich, daß ich gar nicht einmal das Bedürfnis empfinde, ihn zu verstehen. Dagegen glaube ich ihn zu begreifen, eben dadurch, daß ich ihn ein Poem nenne. Man beobachte nur den Eindruck, den diese Strophen auf das Auge machen. Das funkelt und leuchtet, das sind Psalmen, zwar nicht Psalmen der Seele, wie die eines gebornen Dichters, wohl aber des Geistes. Die Substantive stehen um ihrer selbst willen da, wir meinen, wegen den Bildervorstellungen, welche sie erwecken; diese Vorstellungen wecken wieder Akkorde mit ihren nächsten; der Satz rauscht rhythmisch, die Rede schwelgt in der Anschauung, allerdings in einer destillierten; die Abschnitte beweisen Maß und Einheit; das Ganze erscheint wie poliert, spiegelglatt, so spiegelglatt, daß selbst der Wille zum Verständnis davon abgleitet und magnetisiert einschlummert. Andere mögen es mit «Zarathustra» anders halten; für mich sprach «Zarathustra» nicht, aber er sang; und ich begnüge mich damit, der Melodie zuzuhören. Selbst ein gründlicher Nietzschekenner, wenn es solche gibt, wird durch die überraschende Wandlung, welche unser rätselhafter Proteus in «Zarathustra» plötzlich annahm, überrascht worden sein. Wir wollen eine Erklärung dieses Phänomens wagen. Offenbar sucht sich Nietzsche beständig selbst, ohne sich zu finden. Und er findet sich nicht, weil man sich niemals im Denken, sondern einzig in Taten und Werken, schriftstellerischen und andern, finden kann. Bücher bedeuten aber Werke nur unter der Bedingung, daß sie auch formell vollendet sind. Dies empfand wohl unser Philosoph, und vor seinem gigantischen Schatten erschreckend, schlüpfte er plötzlich in eine poetische Form. Wir begrüßen diese Erkenntnis und möchten nur noch wünschen, daß der Form der Inhalt entspräche und daß das Tiefe und das Schöne nicht mehr getrennt erschienen; der «Zarathustra» bedeutet einstweilen statt eines Fortschrittes vielmehr einen Seitensprung, und zwar nach einer Seite, in welcher wir nicht Nietzsches Bahn zu sehen glauben, da er schwerlich in der Poesie seine Heimat hat; aber der «Zarathustra» kann dem Autor als ein heller Spiegel dienen, in dessen Licht er seinen Prosastil prüfe, um denselben den Gedanken zu adäquieren. Wir meinen damit natürlich nicht Schönrednerei, noch weniger Poesie, sondern ganz einfach den klaren Plan, die gegliederte Ordnung und den natürlichen Ausdruck. Nietzsche ist ein Riese, das unterliegt keinem Zweifel. Als solcher darf er uns nicht verübeln, wenn wir ihm zumuten, groß zu sein. Hoffen wir, daß wir über Jahr und Tag unserm Aufsatz ein viertes Kapitel beifügen dürfen, das die Überschrift trage: «Der Schriftsteller».

Nachtrag

Wir hatten obenstehenden Aufsatz schon abgesandt, als uns noch ein allerneuestes Werk Nietzsches überraschte: «Zur Genealogie der Moral».

Nietzsche zeigt zunächst, wie ursprünglich der Begriff des Richtig-Handelns vom Rassenadel (im Sinne eines edlen «blonden» Raubtiers aufgefaßt) abstrahiert wurde, welchem ein an Rasse schlechter Pöbel gegenüberstand. Das Priestervolk der Juden dagegen abstrahierte aus dem Pöbel unsere Begriffe ‹bös› und ‹gut›. Triebfedern dieser Begriffe sind der Neid und der Haß. Scharfsinnig wird entwickelt, wie selbst im Begriff der christlichen Liebe noch Neid und Haß zu erkennen sind.

Die zweite Abhandlung erläutert die Entstehung der einzelnen Moralbegriffe, wobei der Begriff ‹Strafe› eine eigentümliche Begründung erfährt.

Die dritte Abhandlung bearbeitet das Thema: Woher stammen die asketischen Moral-Ideale? Von den Künstlern? Nein. Von den Philosophen? Ebenfalls nicht, denn ihre asketischen Prinzipien sind nur versteckte professionelle Bedürfnisse. Hiebei fallen prächtige Worte gegen die «Verleumder der Sinnlichkeit»; und mit Fug und Recht behauptet Nietzsche gegen Kant, daß alle Kunst, selbst die idealste, auf verfeinerter Sinnlichkeit beruhe. Bemerkenswert sind antiwagnersche Sätze, zum Beispiel: «Die Verödung des deutschen Geistes stammt von der Politik, vom Bier, von der Wagnerschen Musik.» Die Schuld an der asketischen Moral tragen allein die Priester. Wohltuend sind die Worte der Empörung, welche Nietzsche über die Heuchelei der heutigen Moral findet. Unsere Zeit ist «so verlogen, daß sies nicht einmal mehr merkt», «unehrlich-verlogen, tugendhaft-verlogen, blauäugig-verlogen». Nietzsches «blondes Raubtier» muß demnach dunkle Augen haben. Und wer wollte unserm Verfasser nicht Beifall klatschen, wenn er die Feigheit der Prüderie brandmarkt, welche sogar die Memoiren großer Männer verstümmelt?

Der Stil der «Genealogie» ist das Gegenteil eines guten. Der Verfasser, ohne sich zu sammeln oder sich nur zu besinnen, wirft alles auf das Papier, was ihm durch den Kopf läuft, darunter derbe Grobheiten. Unsere Hoffnungen auf Nietzsche, den Schriftsteller, sind durch die «Genealogie» bedeutend gesunken.


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