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«Carmen»

Ist dieser Zauber infernalischer oder helikonischer Natur? Eine müßige Frage für denjenigen, der sich harmlos seinen Eindrücken hingibt, aber eine notwendige für jene, welche ihre Eindrücke belauschen und sondieren, und das letztere muß ein Kritiker und auch ein Künstler tun, indem die intensive Würdigung der Einzelheiten das volle, ja das gesteigerte Bewußtsein des Menschen, mithin unter demselben auch die Verstandeskontrolle verlangt. Da wir also einmal die Frage annehmen, so wollen wir auch versuchen, einen kleinen Beitrag zur Beantwortung zu liefern. Das Bestechende der «Carmen» liegt, abgesehen von der Farbigkeit und Lebendigkeit des Textes und von der nicht unbedeutenden Schöpfung dieses bisher in der Opernliteratur neuen weiblichen Typus, in der ‹Mache› der Musik, das heißt in der virtuosen Berechnung und ununterbrochenen Folge der Effekte. Hierin zeigt sich Bizet von einem seltenen Raffinement, und seine im Verhältnis zu andern Operettenkomponisten immerhin bedeutende musikalische Bildung kommt ihm hiebei trefflich zustatten. Ferner schöpft der Komponist mit kongenialem Temperament die meridionale Populärrhythmik mit allen Kräften aus; ja er pumpt ordentlich in dieser Quelle. Nehmen wir dazu einen nervösen, aufgeregten, durch den Mangel an reichfließender Erfindung gereizten Willen, eine prickelnde und berauschende Instrumentation, eine von der Canaillerie (dies Wort im französischen Sinne zu verstehen) der modernen Operette erfüllte Phantasie der Erinnerung, endlich eine wenn schon beschränkte Zahl wirklich packender und sangbarer Motive, so glauben wir, die Hauptmomente zur Erklärung des Charakters dieser Oper oder vielmehr Operette genannt zu haben. Zu dem südlichen Kolorit des Werkes möchten wir immerhin eine Anmerkung machen. Es ist mehr Blendung als Farbe in diesem Spanisch; selbst die Tänze wirken mehr durch die Schnelligkeit des Tempos, als daß sie durch wahre innere Glut erwärmten. Ein Vergleich mit den spanischen und neapolitanischen Tänzen der «Stummen» zum Beispiel oder mit der aragonesischen Jota Glinkas fällt sehr zuungunsten der «Carmen» aus. Wie wird dort die Szene durch die Üppigkeit der Erfindung mit südlichem Sonnenlicht erfüllt, und wie spürt man hier den gestachelten Willen, der in fremdartigen Modulationen und haschenden Sprüngen sucht, was er in der Phantasie nicht findet. Wahres, lebendiges Feuer läßt sich eben ohne den himmlischen Strahl der Melodie nicht anzünden; da hilft alles rhythmische Gefunkel nichts. Es gibt Autoren, die sich kitzeln, um ein Lustspiel zu schreiben, es gibt aber auch Komponisten, die emporhüpfen, um Tänze hervorzubringen. «Carmen» gehört ihrem ganzen Kunstklima nach, wir meinen wegen ihres rückhaltlosen, dreisten und schlauen Erfolgkultus, zur Operette. Den edlen Namen einer Oper führt sie mit Unrecht.


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