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Die Strafe der Isoliertheit

Dezember 1885

Jedes Menschenalter verfügt über gewisse Glanzwörter, welche als höchste Beweise anerkannt werden und vor welchen jedermann die Flagge streicht wie vor dem Sküs und Bagat im Tarokspiel; bis eines Morgens plötzlich das allmächtige Ding außer Kurs gesetzt wird, um fortan zum allgemeinen Gespött zu dienen, während zur Linken schon ein anderes Unkraut derselben Familie emporwächst und sich anschickt, die Presse zu überwuchern. So schwur man ehedem nicht höher als beim ‹europäischen Gleichgewicht›; und das ist nicht eben lange her. Noch ums Jahr 1866 liebte man das europäische Festland als eine Schaukel darzustellen, worauf die Nationen sitzen, also daß, wenn an irgendeinem Punkt eine Gewichtsverschiebung vor sich geht, alles Volk durcheinanderpurzelt. Daß dieses heitere Genrebild gegenwärtig keine Käufer mehr findet, sahen wir neulich an dem Beispiel Serbiens, welches den unglücklichen Versuch machte, von einem ‹Gleichgewicht der Balkanstaaten› zu reden. Eitel Spott und Hohn war die Antwort. So ergeht es denen, die nicht merken, wann ein Lied ausgesungen ist. Andere Lieder sind jetzt im Schwang: die Berechtigung der Nationalitäten und die Politik der Interessen. Neuestens, unter dem Einfluß der geräuschvollen Kongresse und Konferenzen, beginnt das stimmungsvolle Tongemälde eines ‹europäischen Konzertes› Augen und Ohren zu halluzinieren, und mit ihm als Gegenbild die Strafe der Isoliertheit. Während man nämlich das vereinte Europa Harmoniemusik spielen läßt, denkt man sich eine störrische Macht zur Strafe ausgeschlossen und in den Winkel gestellt, wo sie nun von den übrigen mit vorwurfsvollen kalten Blicken gemessen wird, bis sie reumütig ihr Instrument wieder ergreift und husch im Takte weiterspielt. So soll sich eben jetzt nach der Sage der Zeitungen England ‹isoliert› haben, indem es in der Konferenz eigenmächtige Politik trieb, oder Österreich, indem es ohne Erlaubnis dem Fürsten von Bulgarien Einhalt gebot. Und nach dem tragischen Stil zu urteilen, in welchem diese ‹Isoliertheit› gemeldet wird, müßte man vermuten, daß die betreffenden Staaten sich dadurch in ein verhängnisvolles Unheil gestürzt hätten, in eine Art internationaler Exkommunikation, welche den Delinquenten früher oder später nach einem demütigenden Canossa führen werde. Erkundigt man sich dagegen in den offiziösen Organen isolierter Mächte, so nennen dieselben ihre Isoliertheit ‹Aktionsfreiheit›, wodurch die Sache ein wesentlich anderes Ansehen gewinnt.

 

Was zunächst das ‹europäische Konzert› betrifft, so darf man nicht vergessen, daß dasselbe nur alle zwanzig Jahre einmal große Symphonien, nämlich Kongresse aufführt, und dann nicht einmal sonderlich gern. Für gewöhnlich begnügt man sich mit dem Quintett der Großmächte; und selbst dieses kommt nicht regelmäßig zustande, sondern nur ausnahmsweise, nach Art der Dilettantenvereine. Und dabei täten die geehrten Mitspielenden nichts lieber, als dem Nachbar heimlich das Notenpult umstürzen; denn was da gespielt wird, ist kein Kanon und kein Choral, sondern eine in der Gegenbewegung fortschreitende, kontrapunktisch durchgeführte thematische Arbeit. Deutlich gesprochen: in jeder europäischen Konferenz sitzen Feinde einander gegenüber, welche nur darum freiwillig zusammenkommen, weil sie fürchten, sonst notwendig aneinanderzustoßen.

Dabei wollen wir der löblichen Gesinnung, welche die Mächte zu gemeinsamen Beratungen hintreibt, volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ein anerkennungsvolles Gefühl beseelt gegenwärtig die europäischen Großstaaten: die Friedensliebe. In ihr aber dürfen wir nicht allein die egoistische Scheu vor den Gefahren des Krieges sehen, sondern ebensosehr den humanen Widerwillen gegen den barbarischen, grausamen und kulturfeindlichen Charakter jenes letzten Auskunftsmittels politischer Zwietracht. Das darf der Wahrheit gemäß zu ihrer Ehre gesagt werden. Wo daher die Interessen mehrerer Großmächte sich heillos zu verwickeln drohen, also daß ein Krieg am Horizont auftaucht, da sucht man mit allseitigem guten Willen und mit Zuziehung neutraler Vermittlung die Gefahr zu beschwören, indem man sich bemüht, einen mit Zugeständnissen erkauften Status herzustellen, der jedermann zur Not befriedigen könne. So entstehen Konferenzen; dieselben haben keinen andern Zweck als den, einen gefährlichen Brand, der um sich zu greifen droht, gemeinsam zu löschen.

Gänzlich falsch jedoch ist die Anschauung, als ob sich in ihnen eine Einigkeit in den Hauptfragen der Politik oder gar eine Art europäischer Gesamtpolitik darstelle, welche denjenigen, der sich oppositionell verhält, in Nachteil bringe. Eine europäische Gesamtpolitik gibt es nicht, und ein ‹europäisches Konzert› ist eine naive Fiktion für kindliche Gemüter. Unter der momentanen Einheit des Willens oder vielmehr des besondern Zweckes, eine bestimmte Gefahr, die allen an die Nägel brennt, zu beseitigen, bleiben nämlich die separaten Interessen und die separaten Bündnisse in voller Kraft bestehen; ja das Verhalten eines Staates im europäischen Konzert verändert nicht im mindesten seine Lage zu den andern Mächten im privaten diplomatischen Verkehr. Nach wie vor bleibt jede Macht den andern gegenüber in denjenigen Beziehungen, welche ihr die Staatsklugheit befiehlt; eine nachhaltige Entfremdung zweier befreundeter Staaten deswegen, weil der eine sich auf der Konferenz schlecht aufgeführt, wäre nur dann möglich, wenn die Geschicke der Völker von Knaben geleitet würden. Es gibt in der großen Politik keine Schmollwinkel.

 

Der Vorwurf der ‹Isoliertheit› beweist ferner, daß der Schreiber oder Redner über die Existenzbedingungen einer Großmacht keine klaren Gedanken vorrätig hat. Was will das Wort ‹Großmacht› sagen? Eine Macht, welche unabhängig zu handeln vermag und die Motive ihrer Politik aus sich selbst holt, ohne erst andere zu fragen und ohne den Einspruch anderer, und wäre es selbst der Einspruch mehrerer Verbündeten, zu scheuen. Furchtlos isoliert nicht nur dastehen, sondern vorgehen zu können, das ist das Kriterium einer Großmacht. Was soll es also heißen, wenn man eine Großmacht ‹isoliert› nennt? Das isolierte England hat einst dem gesamten napoleonischen Europa standgehalten, das isolierte Frankreich ganz Europa unterjocht. Die Meinung, als ob selbst ein Großstaat ohne Bündnisse nicht gedeihen könne, ist ungegründet, der Glaube aber, daß ein einseitiges kriegerisches Vorgehen Entrüstungskoalitionen hervorrufe, ein Aberglaube. Die Mehrheit der Großmächte schafft links und rechts Interessenkomplikationen und -verschränkungen, welche, solange die Mehrheit nicht Vielheit wird, eine Vereinsstrafe für Friedensbruch nicht gestattet.

Wenn man freilich unter ‹Isoliertheit› die Verdammung durch die öffentliche Meinung Europas versteht, dann kann dieselbe gar wohl einen Staat treffen, ohne ihm übrigens nur die Haut zu ritzen. Niemals ist wohl ein Staat von der öffentlichen Meinung schimpflicher isoliert worden als Preußen in dem Augenblick, da es denjenigen Krieg vom Zaune brach, der ihm seine dominierende Stellung in Europa begründete, oder Rußland, während es den polnischen Aufstand erwürgte. Nicht allein ernteten sie trotz dieser Isoliertheit die schmackhaftesten Vorteile, sondern sie sind eben dadurch später sogar Schoßkinder der öffentlichen Meinung geworden.

Geradezu burlesk nimmt es sich dann aus, wenn, wie das gegenwärtig geschieht, gleichzeitig die eine Zeitung Österreich, die andere England und eine dritte Rußland ‹isoliert› nennt. Isoliert von wem? isoliert von was? Nachdem aus einem Konzert von fünf Mitgliedern zwei oder drei sich abgesondert haben, kann man ebensowohl die übrigbleibenden für ‹isoliert› ansehen als die Dissidenten. Und so schlage ich denn vor, lieber gleich das ganze Europa ‹isoliert› zu nennen und das Konzert in fünf Soli aufzulösen, was der Wahrheit auch näher kommt.

Ich kenne nur einen Fall, wo das Wort ‹Isoliertheit› für einen Großstaat Sinn hat, den Fall nämlich, wenn derselbe von gefährlichen Feinden umgeben ist, ohne einen kräftigen und sichern Verbündeten als Rückhalt zu besitzen. Gibt es aber gegenwärtig einen solchen Staat, so heißt er, wie paradox es klingen mag, Deutschland. Von einer ‹Isoliertheit› Frankreichs oder Englands zu reden, bleibt jedenfalls ein leeres Wort. Denn nach Frankreich gravitieren sämtliche deutschfeindliche Elemente Europas, und dieselben sind zahlreicher, als man wohl annimmt. England aber hat die politische Vereinzelung niemals gescheut, vielmehr von jeher zu einem Sprungbrett seiner einzigartigen Größe zu benützen verstanden.


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