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Zirkus und Theater

Das Kriterium zwischen Zirkus, Ballett und Konzert einerseits und dem Theater anderseits liegt darin, daß die erstern uns aufrichtigen und unvermischten, wenn auch einseitigen und teilweise niedrigeren (sinnenfälligen) Genuß verschaffen, während das Theater von der Metaphysik bis zu den gemeinsten Knalleffekten alle Tasten miteinander anschlagen will. Um speziell vom Zirkus zu reden, so wendet er sich einzig und allein an die Schaulust; diese aber befriedigt er im höchsten Grade, indem er dem Auge eine Fülle von bewegten Schönheiten in reicher Abwechslung darbietet; er ist gleich dem Ballett und der Féerie eine Augenweide, gerade so, wie wir das Konzert eine Ohrenweide nennen können. Daß das Theater hofft, durch Dekorationen und Kostüme mit dem Augenmenu der besagten Institute konkurrieren zu können, ist eine jener erblichen Illusionen, welche die Menschheit mitunter durch lange Generationen verblendet. In jedem Appell an unsere Sinne, speziell an unsere Augen, findet das Theater heutzutage einen Mitbewerber, der dasselbe in Schatten stellt. Diese Beobachtung zielt nicht speziell auf die Schweiz, im Gegenteil, sie trifft noch weit mehr die Weltstädte. Wo wir nur hinhorchen, überall hören wir denselben Jammer: «Die Operette tötet das Drama!» «Ballett, Zirkus, Féerie und Elefantenprozessionen bringen das Theaterstück um!» Ob wir in Wien oder in Paris nachfragen, überall vernehmen wir dieselbe Antwort. Mag das Theater Hunderttausende für Ausstattungsstücke verausgaben, die «Eden» und «Alcazar» wagen halbe Millionen; und da sie an kein Pathos gebunden sind und genau wissen, was sie wollen, erzwingen sie immer beim Publikum den Vorrang. Kein Wunder, wenn hie und da Entmutigung sich einstellt und verdüsterte Geister den nahen Untergang des Theaters und der dramatischen Kunst prophezeien, wie das zum Beispiel Goncourt in Paris tut.

So viel aber dürfte nach allen Erfahrungen nicht mehr zweifelhaft sein: das Wettrennen um die Augenlust ist für das Theater eine verlorene Mühe; und die vielen Konzessionen, welche dasselbe dem ‹Zeitgeist› macht, sind umsonst. Eitel Enttäuschung ist der Lohn und neben der Enttäuschung Schmach und neben der Schmach Verlust am selbsteigenen Charakter. So oft nämlich das Theater, um die Menge zu fesseln, sich zu Kapitulationen hergegeben, so oft hat es an Existenzkraft nicht gewonnen, sondern eingebüßt; natürlich, denn wer Dinge betreibt, die nicht seine Sache sind, und darüber seinen Beruf vernachlässigt, wird schlechte Geschäfte erzielen. Das Geschäft des Theaters aber ist die Poesie; alles andere ist wertloser Hokuspokus. Statt mimischer und optischer Künste die Poesie offen und ehrlich wieder zur Alleinherrscherin auf der Bühne einzusetzen, das scheint mir die einzige Rettung für das Theater. Freilich kann sich ein ängstliches Gemüt der Befürchtung hingeben, die Poesie für sich allein besitze heutzutage nicht mehr die Anziehungskraft, um eine beträchtlichere Menge wiederholt zu fesseln; um so weniger, als die dramatische Poesie auch im Buch kann genossen werden. Nun, da muß die Erfahrung noch etwas länger das Wort behalten; jedenfalls gibt es keinen andern Ausweg; und auch der Zuschauer wird sich gefügiger zeigen, wenn er zum vornherein weiß, was er vom Theater zu erwarten hat, nämlich nicht Erholung, denn diese wird er anderswo weit besser finden, sondern einen poetischen Ideengenuß, der ihm sehr große Seelenkonzentration, mithin geistige Anstrengung zumutet, aber dafür unvergeßliche Früchte sui generis einbringt.

Das ist ins allgemeine gesagt: denn selbstverständlich will ich damit nicht unserm Lokaltheater Verhaltungsmaßregeln vorschreiben, das froh sein darf, wenn es nur ohne Schaden in dem nicht eben günstigen Klima fortleben kann. Vielmehr möchte ich mir erlauben, an den Leser einige Worte zu richten, die jedoch keineswegs als Ermahnungen wollen aufgefaßt sein, da ich nichts Unleidlicheres kenne als Ermahnungen zum Kunstgenuß. Jeder genieße, was er mag, das heißt, wozu er ein inneres Bedürfnis empfindet; eine Verpflichtung zu einem Genuß, also zum Beispiel zum Konzert oder zum Theater oder zum Absuchen von Gemäldegalerien ist eine der lächerlichsten Anmassungen, die ein Mensch gegen seinen Nächsten verüben kann. Gesetzt, einer habe für gar keine Kunst Sinn und Verständnis, so ist es immer noch sowohl der privaten als der öffentlichen Wohlfahrt zuträglicher, er bleibe zu Hause und spiele Domino, als daß er sich gewissenhaft langweilt und den ästhetischen Katechismus aufsagt.

 

Nach dieser Verständigung bringe ich folgende Tatsachen in Erinnerung: Das Theater ist gegenwärtig der einzige Ort, wo ein erwachsener Mensch noch Poesie vernimmt; denn, Hand aufs Herz, wir lesen keine Poesie mehr. Und dabei kommt es gar wenig in Betracht, ob eine besondere Truppe ‹gut› oder ‹schlecht› sei; denn wen es aufrichtig nach Poesie verlangt, der nimmt an einer unzulänglichen Darstellung kaum mehr Anstoß als ein gläubiger Christ an einer unvollkommenen Predigt; hier wie dort tut die Andacht das meiste.

Ferner: Unser Theater bietet uns nicht allein die dichterische Tragödie, sondern zugleich die Oper. Der musikalisch Veranlagte aber findet in der Oper Genüsse, die ihm kein Konzert ersetzen kann. Zwar herrscht in der Oper ein anderer Kompositionsstil, der italienische und französische, das heißt der absolut melodiöse, welcher in den deutschen Konservatorien nicht eben gut angeschrieben steht. Immerhin, Stil hin, Stil her, gibt es eine ungeheure Ernte von Schönheit aufzulesen. Allerdings sollten die Opern eigentlich gesungen werden, und das läßt sich nun einmal auf kleinern Bühnen des Nordens, sowohl des deutschen wie des französischen, schwer herstellen. Indessen auch hier wieder wird der wahre Freund einer Kunst lieber mit der unvollkommensten Interpretation vorliebnehmen, welche trotz allen Mängeln stets noch vermag, die Intentionen des Meisters vor dem Geiste vorüberzuführen, als daß er sich gänzlich enthielte. Wir haben ja alle die großen Opern schon unendlich vollendeter gehört, aber ich kenne einen Pariser, der auf Reisen selbst das kleinste Theater besucht und auf verwunderte Einwendungen gelassen antwortet: «Ich bin heute nicht in Paris.»

Das Theater bietet uns ferner zugleich die Operette; über diese ist viel Übles gesagt worden, und ich wüßte nicht ebensoviel Gutes zu erwidern; das Neue, was Deutschland seit einigen Jahren hierin hervorgebracht, dürfte wahrscheinlich zu den albernsten Erzeugnissen des menschlichen Geistes gehören; und von den meisten modernen Lustspielen möchte dasselbe gelten. Aber es müßte doch mit sonderbaren Dingen zugehen, wenn von Shakespeare und Schiller über Beethoven, Mozart und Rossini bis hinunter zu Millöcker, Strauß, Moser und L'Arronge nicht jeder das seinige finden sollte. Vorurteile freilich und Bühne gehen nicht gut zusammen; hingegen paßt zu unsern beschränkten theatralischen Mitteln und Verhältnissen vortrefflich die Anspruchslosigkeit und die Nachsicht.


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