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Zweiter Teil.
Das Drama des theatralischen Handwerks

Wir können und sollen das unliterarische Drama der Franzosen kollektiv behandeln, weil die Unterschiede innerhalb desselben unwichtig sind und obendrein durch die modernen Autoren, wie Gottschall richtig erkannt hat, verwischt werden. Ferner empfiehlt sich die Zusammenfassung aus der gemeinschaftlichen Berufung dieser Schauspielklasse auf eine spezifisch theatralische Technik und aus dem gemeinschaftlichen Gegensatz zum literarischen Drama.

Stellen wir zunächst die Identität auf Grund der Namen fest.

In Frankreich pflegt die betreffende Klasse einfach als Lustspiel ( comédie im weitern Sinn) angesehen zu werden. Und das hat vom stilistischen Standpunkt seine Richtigkeit. Denn die Salontragödie, das Konversationsstück, das bürgerliche Trauerspiel und das Rührstück gehören ja, wie wir öfters beobachtet, nach dem stilistischen Prinzip allerdings zum Lustspiel. Für den Deutschen dagegen, dem die stilistische Einteilung nicht geläufig ist, dürfte der Titel ‹Lustspiel› zu Mißverständnissen Anlaß geben, indem mancher Leser bei diesem Namen nur an einen Teil des betreffenden Repertoires denkt. Bei uns ist der etwas unbestimmte, aber einfache Name ‹modernes Drama der Franzosen› gebräuchlicher, und ich wüßte gegen denselben nichts einzuwenden, wofern man das Wörtchen ‹modern› richtig, das heißt als Bezeichnung des jüngsten Ursprungs, auffaßt und nicht etwa damit die alleinige Gegenwart behaupten will, neben welcher das literarische Drama als das Drama der Vergangenheit erschiene. Da ich übrigens dem letztern Irrtum zur Genüge vorgebeugt, werde ich mich des Titels ‹modernes Drama› seiner Kürze und seiner Gebräuchlichkeit wegen gerne und oft bedienen. Bezeichnend wäre auch der Name ‹Aktualitätendrama›, doch lautet derselbe etwas fremdartig und schwerfällig. Noch besser, weil das Wesen der Sache treffend, dürfte der Titel ‹Feuilletondrama› sein, wie denn die Franzosen selbst mit Vorliebe ihr modernes Drama mit dem Zeitungsfeuilleton vergleichen. Nur fürchte ich, diese Zusammensetzung möchte dem deutschen Ohr mehr auffallend als verständlich klingen. Ich habe für die Überschrift diejenige Eigentümlichkeit bevorzugt, welche den Stolz und den Ruhm des betreffenden Dramas ausmacht: die Bühnengerechtigkeit. Demgemäß werde ich auch im Text von einem ‹bühnentechnischen Drama› oder, mit einem kürzern und deutschern Ausdruck, von einem ‹Handwerksdrama› reden. Alle die genannten Titel nehme ich für gleichbedeutend und gebrauche demgemäß bald den einen, bald den andern, mit Vorliebe jedoch, aus den angeführten Gründen, die Bezeichnungen ‹modernes Drama› und ‹Handwerksdrama›.

 

Das Kunstziel des modernen Dramas ist ein bescheidenes, was ich nicht von seinem Gebaren behaupten möchte. Auf Poesie erhebt das moderne Drama in der Regel gar keinen, ausnahmsweise einen mäßigen Anspruch. Für Frankreich liegt das Geständnis dieser Entsagung schon in der äußern Form enthalten, indem Rhythmus und Reim zu den Seltenheiten gehören. Der Begriff einer Poesie ohne poetische Form nämlich ist dem Franzosen nicht geläufig, und von einem ‹Bühnendichter› weiß er nichts. Man ist entweder Dichter, oder man ist kein Dichter. Ist man Dichter, so schreibt man Verse, ob nun lyrische oder epische oder dramatische, auf ein Papier und läßt dieselben, falls man einen Verleger findet, drucken. Ist man aber kein Dichter, so ist man auch kein Bühnendichter. Der Theaterstückschreiber heißt dramaturge oder auteur dramatique.

Die Stoffwahl ist für das moderne Drama bezeichnend. Phantasie- und ideenhaltige Stoffe werden gemieden, nicht etwa, weil der Franzose einen Eifer für das ‹vollpulsierende Leben der Gegenwart› verspürte   wir haben vielmehr beobachtet, daß derselbe eine Schwäche für die Antike bekundet  , sondern einesteils, weil die Traditionen des Lustspiels reale Stoffe begehren, und andernteils, weil die Autoren sich bewußt bleiben, in einer niedern Kunstform zu arbeiten. Demgemäß beschränkt sich das Stoffgebiet auf das Alltägliche; genauer bestimmt, auf die Feuilletongeschichte, auf die Zeitungsanekdote, auf das fait divers (Vermischte Nachrichten). In diesem engen oder wenigstens niedrigen Rahmen jedoch erstrebt der französische Autor, von Molière beschämt und von der gesellschaftlichen und literarischen Bildung der Nation gemahnt, nach der größten innern wie äußern Vollendung, und das selbst nach der literarischen Seite hin. Die Entsagung auf ewigen Buchgehalt bedingt nämlich nicht einen Verzicht auf sprachliche Tüchtigkeit. Sogar das Handwerksdrama der Franzosen mißt trotz seinem Bretterkultus der Diktion im Drama immer noch mehr Wert bei als unser modernes deutsches Trauerspiel. Freilich entsprechen, wie wir das durch das Urteil der Franzosen beweisen werden, die sprachlichen Leistungen des modernen Dramas nicht dem Wunsch und Willen. Hauptsächlich um diesen Fehler zu verbergen und auf Umwegen in der Schätzung der Nation einen Rang zu erschleichen, den zu verdienen man verzweifelt, erfanden die modernen Autoren jene Lehre von einer spezifischen Theaterkunst (Bühnentechnik), welche mit der Literatur nichts gemein hätte, aber ihr ebenbürtig zur Seite stände. Jene Lehre bedeutet mithin für Frankreich die Apologie einer vorgefundenen Tatsache, und nicht wie für Deutschland Poetagogie. Das vergißt man denn auch dort nicht ganz, und man erlaubt sich, mitunter daran zu erinnern. Montégut zum Beispiel bedeutet die Herren Sardou und Kollegen, sie möchten doch nicht gar soviel Aufhebens von ihrer Bühnentechnik machen, da man wohl merke, sie seien nur deshalb so bühnentechnisch, weil sie zum literarischen Drama nicht das Zeug hätten.

Was die einzelnen Dogmen jener Lehre betrifft, so kennen wir dieselben in Deutschland nur zu wohl, freilich in abgeschwächter Form. Bei den französischen Vorkämpfern der Bühnentechnik lauten nämlich die Sätze viel unumwundener, um nicht zu sagen frecher. «Das einzige Gesetz des Dramas ist das Belieben des Publikums und der alleinige Richter über ein Stück der Erfolg. Dem Publikum gefallen heißt dramatisch und theatralisch richtig arbeiten, und was hundert Aufführungen erzielt, mag es sein wie es will, ist ein Meisterwerk. Die Kritik ist dazu da, zu schweigen; doch bleibt es ihr keineswegs benommen, ein Stück vor der Aufführung zu preisen und nach der Aufführung zu loben. Der Autor selbst bekümmert sich um keine Kritik, er erkundigt sich über den Wert seines Werkes an der Theaterkasse. Da nun der Hauptheld jedes Dramas der Zuschauer ist (der spectateur lui-même, wie ihn Sardou nennt), so besteht die Hauptsorge des Autors darin, die Wünsche desselben zu erraten. Die oberste Tugend eines Dramatikers heißt deshalb Schlauheit. Es gilt aber auch, folgerichtig zu arbeiten. Um das zu können, genügt kein Talent, kein Genie, kein Fleiß und keine Erfahrung. Es ist eine besondere Inspiration dazu vonnöten, die sich indessen nicht wie andere Inspirationen dem Geiste, sondern dem Handgelenk des Menschen offenbart. Diese Inspiration ist ein Gnadengeschenk Gottes an seine dramatischen Lieblinge und heißt le don, auf deutsch: ‹Bühnenblut› oder ‹Vollblut›. Woran ersieht man, ob jemand den don hat? An der hundertsten Aufführung.»

Man kann diesem Bekenntnis Aufrichtigkeit nicht absprechen. Warum, diesen frechen Prinzipien zum Trotz, das betreffende Drama noch eine ansehnliche Stufe der Vollendung erreicht, haben wir schon erwähnt.

 

Das Handwerksdrama hat seine Vorzüge und seine Schäden. Die Vorzüge sind hauptsächlich formaler Natur: geschickte Zubereitung der Spannung durch Verwicklungen, Gleichgewicht der Teile; dann im einzelnen: szenische Feinheiten, teils durch Tradition und Erfahrung, teils durch Intuition, größtenteils durch Klugheit und Nachdenken gewonnen. Inhaltlich kommt in Betracht: Scharfblick in die Verhältnisse des täglichen Lebens; ab und zu ein Einblick in das menschliche Herz, vornehmlich in das weibliche, denn die Männer geraten durchschnittlich unmännlich («kleine Leute, die große Gebärden machen»); ferner eine Fülle oberflächlichen Geistes und Witzes; endlich sichere Verwertung einer gebildeten Gesellschaftssprache, welche für jede Lage einen bündigen und geschmackvollen Ausdruck leiht oder doch mühelos finden läßt.

Die Schäden wiederum bestehen hauptsächlich in Mängeln: Mangel an Poesie, Mangel an einem höhern Kunstziel, Mangel an Schwung, Mangel an denkenswerten Gedanken. An positiven Schäden sind zu verzeichnen: oberflächliche, wenn nicht triviale Charakteristik. Das Handwerkstheater ist zugleich ein Marionettentheater. Das darf uns nicht wundern, denn wer nach Rezepten dichtet, der wird auch nach Schablonen zeichnen. Ich will mich nicht damit aufhalten, diejenigen, die an einem französischen Bühnenstück alles vortrefflich finden, überzeugen zu wollen. Ich teile einfach die Meinung der Franzosen mit. Der Großmeister der Bühnentechnik (Scribe) trägt wegen der Lebens- und Wesenslosigkeit seiner Gestalten den Beinamen Shakespeare des ombres chinoises (das heißt ‹der Schattenspielfiguren‹). Und von Anbeginn der Bühnentechnik an (also seit dem ältern Dumas) bis auf den heutigen Tag erhebt die französische Kritik gegen das moderne Drama den Vorwurf: «Eure Helden sind Drahtpuppen ( des pantins).» Daß die Heldinnen nach französischem Urteil ihnen nicht viel vorzuwerfen haben, darüber belehrt uns folgende artige Schilderung: «Alle unsre modernen Dramatiker bieten uns unter der Gestalt von jeunes filles den gemeinsamen Typus eines Mädchens, das gerne heiraten möchte, das heißt eine Marionette, welche durch drei Fäden in Bewegung gesetzt wird. Zieht man den ersten Faden, so macht das Fräulein eine Verbeugung. Zieht man den zweiten, so hält sie das Taschentuch vor die Augen. Zieht man den dritten, so legt sie die Hand aufs Herz.»

Ein zweiter positiver Fehler zeigt sich in der Sprache der Bühnentechniker. Auch das mag manchen befremden. Hat man uns doch die Anweisung gegeben, über den ‹echt dramatischen›, ‹geistsprühenden›, ‹prickelnden› und ‹schnell dahingleitenden› Dialog der neufranzösischen Dramatiker in Entzücken zu geraten. Hören wir dagegen das Urteil der Franzosen: Der Stil Scribes wird ‹unter aller Kritik› genannt, der Stil des jüngern Dumas ‹farblos und mittelmäßig› ( langue quelconque), der Stil Sardous ‹nachlässig›, mitunter sogar ‹schlecht› und ‹abscheulich›, der Stil Augiers ‹zu wenig literarisch durchgearbeitet›. Wie erklärt sich die Verschiedenheit des deutschen und des französischen Urteils? Der Deutsche schätzt an einem Dramatiker die negativen Stileigenschaften, der Franzose verlangt positive literarische Tugenden. Ihm erscheint das Prickeln, das Schnelldahingleiten und das Echtdramatische eines Dialogs an Wert gleich Null, und das Geistsprühen ist er gewohnt, im «Gil Blas» und «Figaro» zu suchen, wofern er es nicht selbst hat. Alle diese Feuilletonstilvorzüge, um welche wir die modernen französischen Dramatiker beneiden, gelten in Frankreich für ein achtbares Drama als zu wohlfeil, zu frivol und zu gering. «Das muß man den Franzosen lassen.»

Betrachten wir jetzt die theatralischen Effektmittel des modernen französischen Dramas, die Bühnentechnik. Bekanntlich rühmt sich dasselbe einer ganz besondern Theaterkunstfertigkeit, und der Erfolg bestätigt diese Behauptung. Ohne im mindesten an der Tatsache makeln zu wollen, muß ich den deutschen Leser daran erinnern, daß die betreffende Theaterkunst weder die einzige noch die geachtetste ist, welche Frankreich besitzt. Es gibt eine doppelte Bühnentechnik der Franzosen. Die eine stammt aus dem Tintenfaß und heißt Vers und Reim. Diese hat ihre Bühnenwirksamkeit seit zwei Jahrhunderten bewährt und gilt noch heute als die höhere. Die andere stammt aus den Kulissen, und ihre Bühnenwirksamkeit hat eine Probe von fünfzig Jahren, und zwar mitunter schlecht, bestanden.

Was nun die Bühnentechnik des modernen Dramas betrifft, so ist dieselbe keineswegs, wie man etwa annimmt, allein oder vorwiegend formaler Natur. Bühnentechnik bedeutet die Kunst, von der Bühne herab mit ziemlicher Sicherheit einen plötzlichen Erfolg bei einem gegebenen Publikum zu erreichen. Sie begreift daher sämtliche Mittel zu diesem Zweck. Unter den Mitteln aber stehen auf französischem Boden, wo keine dramaturgisch-schematische Neigung waltet, wo man ein Drama nicht auf seine architektonischen Eigenschaften prüft, wo selbst ein Beaumarchais nicht nach seiner Intrige, sondern nach seinen Worten gewürdigt wird, die stofflichen obenan. Wie denn die bühnentechnischen Autoren ihre ganze Intrigenkunst beiseite werfen, sobald ihnen ein Bestandteil stofflicher Natur den Erfolg sichert.

Wir haben daher in erster Linie die materielle Bühnentechnik des modernen französischen Dramas zu untersuchen.

Die materielle Bühnentechnik

Unter den materiellen Bühneneffektmitteln steht in oberster Linie die Aktualität der zu behandelnden Geschichte (Fabel: donnée). Da die Menge sich um eine Erzählung nicht nach dem Grade ihres Wertes, sondern nach ihren Beziehungen zur eigenen Person oder zum eigenen Gedankenkreis zu kümmern pflegt, so darf eine Geschichte aus dem Alltagsleben mit ihren Anklängen an jedermanns Sorgen, Beschäftigungen und Stimmungen natürlich auf allgemeinere Teilnahme rechnen als irgendeine andere. Das ist nicht schwer einzusehen. Einige deutsche Dramaturgen haben es denn auch wirklich eingesehen, und vor nicht allzulanger Zeit ertönte plötzlich durch Deutschland eine Bannbulle gegen sämtliche nicht aktuelle Stoffe im Drama. Wir verdanken es Wildenbruch, daß diese Bannbulle verbrannt worden ist. Das eine und das andere Breve desselben Sinnes macht indessen noch immer die deutsche Theaterkritik unsicher. Wie immer beruft man sich dabei auf das Beispiel der Franzosen, und wie gewöhnlich mit Unrecht. Nämlich den Franzosen fällt alles andere eher ein, als dem Dichter des ernsten Dramas Aktualität des Stoffes zuzumuten. Im Gegenteil stellen sie jedem edlen Drama fernliegende Stoffe zur Bedingung, und zwar zur strengsten Bedingung. Die Aktualität verweisen sie an das Drama niederer Ordnung, an das Lustspiel und das mit dem Lustspiel innig verwandte drame. Einzig der comédie unter der vornehmen dramatischen Kunst ist die Aktualität gestattet. Wir müssen daher den Gegnern des deutschen historischen Trauerspiels empfehlen, sich für ihre Angriffe andere Waffen zu suchen als französische. Überhaupt bleibt die Berufung auf die Franzosen immer eine mißliche Taktik. Denn die Franzosen haben in dramatischen Dingen die leidige Gewohnheit, das Gegenteil von dem zu tun, was ihre deutschen Anhänger ihnen nachrühmen.

Enge mit der Aktualität verknüpft sind die ‹Fragen›. Das Drama einer Nation von großer literarischer Vergangenheit kann natürlich selbst in seinen untersten Gebieten sich nicht dazu hergeben, Zeitungsgeschäfte zu besorgen und das erste beste fait divers ohne Rücksicht auf den Gedankenwert desselben einfach der Tatsache wegen zu erzählen. Wer ins volle Menschenleben greift, wird sich immerhin vorbehalten, zu sehen, wohin er greift. Er wird also wählen, beziehungsweise suchen, um einen Stoff zu gewinnen, welcher dem Drama eine entsprechende Aufgabe biete. Als solche Aufgaben nun betrachtet der Deutsche, kraft seiner shakespeareschen Erziehung, Probleme aus der Psychologie der instinktiven Leidenschaften, der Franzose dagegen, seiner Tradition gemäß, bewußte Konflikte, sei es im Gewissen des Helden, sei es gegenüber der Gesellschaft. Der letztere Fall, beim Lustspiel der gewöhnlichere, führt dann den Autor, sobald er in die Gegenwart herabsteigt, von selbst dazu, über die herrschenden Zustände, die den Konflikt hervorrufen, sein Verstandesurteil abzugeben, und so entstehen Fragen oder, wie der Franzose es nennt, Behauptungen ( thèses).

Nicht umsonst pflegen deshalb die deutschen Vorkämpfer der Aktualität zugleich auf die ‹Fragen der Gegenwart› hinzuweisen. Die Fragen der Gegenwart lauten indessen in beiden Ländern wiederum verschieden. Des Deutschen Fragen der Gegenwart fliegen höher, aber auch abstrakter. Das Aktualitätendrama soll nach unserm Wunsch im Lustspiel ‹die Torheiten der herrschenden Stände und Klassen geißeln›, im Trauerspiel sozialpolitische und staatsökonomische Schwierigkeiten erleichtern. Also eine Art Parlamentsdramatik. Ob dem Dramatiker die persönliche Unverletzlichkeit soll garantiert werden, erfahren wir leider nicht. Dieselbe dürfte bei der Geißelung der Torheiten der herrschenden Stände und Klassen nicht überflüssig sein. Der Franzose im Gegenteil   und hierin erweist er sich als überlegener Bühnentechniker   bekümmert sich einzig um diejenigen Fragen der Gegenwart, nach welchen die Frauen fragen, also um die Fragen der Liebe. Es beruht nicht etwa auf unsittlichen Neigungen der Dichter, sondern auf ästhetischer Notwendigkeit, daß die Dramatik aller Völker die ungesetzliche Liebe, vor allem den Ehebruch bevorzugt. Dadurch nämlich gewinnt das Drama die erforderlichen Konflikte, die Tragödie unheimliche und erschütternde, die Komödie erheiternde und spöttische. Das Eigentümliche des modernen französischen Dramas aber besteht darin, daß es den Ehebruch weder tragisch noch leichtfertig behandelt, sondern sentimental. Es nimmt den Ehebruch nicht ernst, aber es nimmt die ganze ehebrechende Gesellschaft ernsthaft; und jeder Liebeshandel, spiele sich derselbe auch zwischen den nichtswürdigsten Persönlichkeiten ab, wird mit einer Wichtigkeit vorgeführt, gegen welche der Untergang Trojas ein Scherz erscheint. Diese Wichtigtuerei ist die Besonderheit des modernen Dramas gegenüber dem ältern Rührstück. Weniger charakteristisch, obschon auf den ersten Blick auffallender, ist der bis dahin noch nie dagewesene Reichtum aller erdenklichen Variationen der ungesetzlichen Liebe mit ihren Folgen. Dieselbe entspringt nicht dem Charakter des heutigen Dramas, sondern den Zuständen der gegenwärtigen Gesellschaft. Warum dem Dramatiker die betreffenden Zustände nicht unwillkommen erscheinen, warum er dieselben vielmehr eifrig benützt, ja bis zum Überdruß ausschöpft, das hat, wie wir gesehen, ästhetische Gründe. Er tut es, um mannigfache Konflikte und Fragen zu gewinnen. Daß diese Fragen deshalb erbaulich, gedankenreich und ehrenvoll lauten, soll nicht behauptet werden. Im Gegenteil. Sie geben uns den deutlichsten Beweis für die seelische Kleinheit, die sich hinter dem blendenden Geist der modernen französischen Autoren versteckt. Ich will dem Leser einige solcher Fragen, wie sie das moderne Drama der Franzosen aufwirft, zur Probe bieten; die genauere Quelle jeder einzelnen zu finden, gebe ich ihm als leichtes ‹Scherzrätsel› auf.

«Muß man eine Klavierlehrerin heiraten, nachdem man sie verführt hat?»

«Was soll ein Bräutigam tun, wenn er erfährt, daß seine Braut den Mutternamen kennt?»

«Was hat ein Ehemann anzufangen, wenn die Angetraute sich am Hochzeitsabend in ihr Zimmer zurückziehen will?»

«In welchem Ton soll ein junges Mädchen zu ihrer liederlichen Mutter sprechen?»

Für solche und ähnliche Fragen der Gegenwart ist das französische Theater das richtige Auskunftsbureau. Es gibt Deutsche, welche die comédie de mœurs empfehlen.

Mit Aktualität und Fragen ist schon viel für die Zugfähigkeit eines Stückes gewonnen. Doch sind die übrigen stofflichen Mittel darum nicht geringzuachten. Unter ihnen steht obenan die Rührung. Es gibt zweierlei Arten von Rührung, eine edle und eine gemeine. Jene gehört zu den heiligsten Gefühlen des Menschen und entquillt den herrlichsten Stellen der vollkommensten Gedichte. Sie ist der Tau der Schönheit. Die zweite ist Plattheit in Moll. Ihre Wohnung ist das Rührstück, dessen Wert sich nach Taschentüchern mißt und dessen Ruhm dem Verfasser zur Schande gereicht. Wo liegt das unterscheidende Moment? Im Charakter der Rührung selbst oder in den Mitteln, durch welche dieselbe erzielt wird? Hierüber ließe sich vieles reden. In welche Klasse aber die Rührszenen des modernen französischen Dramas gehören, das entscheidet der Franzose kurz und bündig mit dem Urteil: mélodrame, das heißt, genau übersetzt: Birch-Pfeiffer.

Nichts Ungerechteres jedoch kann es geben, als den betreffenden Autoren eine Spekulation auf das Publikum durch Unsittlichkeiten zuzutrauen. Jedes Theaterpublikum der Welt ist moralisch aufgelegt und sieht überaus gern, daß andere Leute schön und sittlich handeln. Im Theater will jedermann das Vergnügen der Bewunderung, der Rührung und der Entrüstung genießen, und wer sich selbst am meisten erlaubt, duldet auf der Bühne das wenigste. Vollends das Pariser Publikum urteilt im Theater äußerst streng; eisige Kälte bestraft die mindeste Verletzung der Schicklichkeit, sei es in der Diktion oder in der Handlung oder in der Tendenz. Daß die Paragraphen des moralischen Gesetzbuches in Frankreich mitunter anders lauten als bei uns, das ist eine andere Sache. Endlich wird ja die Rührung des Bürgers durch Tugend und Edelmut ( beaux sentiments) erzielt; indem daher das neufranzösische Drama auf Rührung ausgeht, ist seine Unschuld durch das Alibi unumstößlich bewiesen.

Es bleiben ferner unter den stofflichen Effektmitteln zu nennen: das tragische Element, welches von den modernen Autoren mit genauer Abwägung in jener bestimmten Minimaldosis verabreicht wird, die das hauptstädtische Publikum begehrt. Dasselbe liebt zwar ein sehr starkes Gruseln, aber es darf ja nicht lange währen. Von Pathos kann natürlich keine Rede sein; das macht man heutzutage mit Interjektionen und Gebärden ab. Allen diesen Miniaturanforderungen an die Tragik entspricht nun das Duell. Dasselbe empfiehlt sich dem französischen Autor ausserdem als Nationalsport, für dessen Krisen auch die weiblichen Zuschauer überaus empfänglich sind, so daß ein Duell selbst bei den Frauen auf mehr Erfolg rechnen darf als die Schürzung eines Knotens.

Unter den Effektmitteln des Dialogs heben wir hervor: Die ‹zündenden Worte›, deren ein einziges den Ruhm des Autors durch ganz Frankreich zu tragen vermag, wie zum Beispiel das « Efface!» der Fourchambault. Neben ihnen die kleinern Blitze der Wort- und Sinnspiele ( mots heureux, auf deutsch: Esprit), welche, wenn nicht zünden, doch elektrisieren. Dergleichen verlangt man in Menge; allein selbst wenn sie noch so reichlich geboten werden, entscheiden sie kaum jemals den Erfolg eines Stückes. Ferner Bosheiten, Anspielungen, Ausfälle und dergleichen mehr, die Spezialität Sardous, und ein unfehlbar wirkendes Gebräu, da der Mensch boshaft genug zu sein pflegt, um sich am Spott zu freuen, und einfältig genug, um ihn nicht auf sich zu beziehen. Endlich Paradoxen, die Eigentümlichkeit, genauer ausgedrückt, die absichtliche Gepflogenheit des Jüngern Dumas. Indem man nämlich den Widerspruch herausfordert, erzwingt man, daß die Leute ein Stück leidenschaftlich verhandeln.

Es gibt aber auch stoffliche Effektmittel im merkantilen Sinn des Wortes ‹Stoff›, Effektmittel, welche zollpflichtig sind, mit einem Wort: Effekten. Hieher gehört vor allem das Kleidermagazin. Die Schauspielerinnen stellen in Frankreich nicht allein Rollen vor, sondern zugleich Stöcke. Was für ein Kleid wohl Madame X im dritten Akt auf ihrem Körper zur Schau bieten werde, das ist für ein französisches Theaterpublikum dramaturgisch ebenso wichtig wie für ein deutsches die Peripetie. Denn in Ermanglung von Kaiserinnen wird die öffentliche Kleidermeinung einstweilen von Anstandsmüttern und jugendlichen Naiven geleitet. Die Pariser Kritik bekennt, daß in den Zwischenakten mehr von Satin und Kaschmir als von der Handlung des Stückes geredet wird. Selbst diese Liebhaberei des spectateur lui-même muß den bühnengerechten Autoren, gemäß ihrem Grundsatz, keinerlei Mittel zu verschmähen, für den Erfolg dienen. Zola verrät uns hierüber ein hübsches Zunftgeheimnis: das Vorherrschen des Salonstückes unter den Aktualitäten ist einfach auf das Bedürfnis nach glänzenden Kleidern zurückzuführen. Es verstößt gegen alle modernen Bühnengesetze, ärmliche oder kleinliche Verhältnisse auf die Szene zu bringen, es sei denn, daß man Gelegenheit finde, eine reichbekleidete Dame hineinzumischen. Glücklicherweise bietet sich die Gelegenheit fast in jedem Fall von selbst; es gibt, Gott sei Dank, Damen mit schönen Kleidern, die in jeden Familienkreis, selbst den ärmsten, passen: die Kokotten. Zola behauptet, und behauptet es öffentlich, die Vorherrschaft der Kokotte im modernen Drama beruhe ganz allein auf dem Bedürfnis des Publikums nach seidenen Röcken auf der Bühne. Es gibt Deutsche, welche die Salontragödie empfehlen.

Zum Kleidermagazin paßt der Möbelvorrat des Regisseurs. Ein Sardou gäbe eher seine Mache preis als seine Schränke und Tassen. Dank seiner meisterhaften Belehrung und Leitung hat sich denn auch die französische Bühnentechnik zu einer wahren Mahagonisophie entwickelt. In nicht zu ferner Zeit wird man vielleicht in deutschen Zeitungen Anzeigen wie die folgende lesen können: «Für dramatische Dichter! Eine noch ziemlich neue, gut erhaltene französische Bühnentechnik wegen Todesfalls billig zu kaufen.»

Die formale Bühnentechnik

Die Mache   la facture

Die formale Bühnenfertigkeit der modernen Franzosen erscheint insofern rätselhaft, als ja Frankreich jeder Dramaturgie, also aller ästhetischen Lehren der theatralischen Komposition ermangelt. Da anderseits die Mache mit den Regeln des Aristoteles, diesem einzigen geschriebenen Statut des französischen Dramas, nichts zu tun hat   woher stammt dieselbe?

Gewöhnlich wird sie einfach auf Scribe zurückgeführt. Obschon diese Erklärung keineswegs genügt, so ist damit doch ein Hauptfaktor indirekt bezeichnet. Allerdings haben nämlich die Gewohnheiten und Übungen des nationalen Intrigenlustspiels dem französischen Dramatiker das Handgelenk, welches ja für den modernen ‹Bühnendichter› das wichtigste Seelenorgan ist, biegsam gemacht. Wo ein Beaumarchais entstanden, da kann ein Scribe, und wo ein Scribe, ein Sardou nicht auffallen. Tatsächlich sind denn auch einige der wichtigsten positiven und negativen Eigentümlichkeiten der modernen Mache auf das Intrigenlustspiel als auf ihre Quelle zurückzuführen. Aus dem Intrigenlustspiel stammen: Vor allem das Tempo: der ‹echt dramatische Geschwindschritt›. Dann die Kürze des Stückes. Ferner die fliegende Handlung mit den Überstürzungen und Überraschungen (hier ist übrigens eine Mitwirkung des drame historique im Stil des Lope de Vega bemerkbar). Ferner der ‹prickelnde, geistsprühende, rasch dahingleitende, echt dramatische Dialog›. Endlich die oberflächliche Charakteristik und der unliterarische Sprachstil. Direkt von Scribe wird bezogen: die Anregung durch sein virtuoses Beispiel und das Bühnenhandwerkswörterbuch.

Sind der Molièreschen comédie Einflüsse auf die formale Arbeit zuzuschreiben? Die Frage muß verneint werden. Die Mache Molières steht vielmehr im Gegensatz zu der modernen.

Das hat schon Alfred de Musset empfunden und in geistreichen Versen deutlich und schön ausgesprochen. In seinem anmutigen Gedicht «Ein verlorener Abend» nennt er Molière ironisch «den großen Ungeschickten, der es nicht verstand, den Schluß eines Dramas nach den theatralischen Regeln richtig herbeizuführen». Dann fährt er fort: «Das verstehen wir, Gott sei Dank, besser. Wir kennen und lieben jetzt Theaterstücke, in welchen eine verwickelte Intrige über eine Spule gerollt und abgehaspelt wird.» Der Hieb zielt, dem Datum des Gedichtes gemäß (1840), auf Scribe und den ältern Dumas, die Väter der modernen Bühnentechnik. Er trifft natürlich ebensowohl das heutige Drama. In besonderer Hinsicht auf das letztere gibt es übrigens eine Parallele. Zola, in dem schon früher erwähnten Anfangskapitel seiner Sammlung «Nos auteurs dramatiques», zeigt die gründliche Verschiedenheit der gegenwärtigen Bühnenkunst wie gegenüber Corneille, so auch gegenüber Molière. Seine Erörterung schließt mit der witzigen Fiktion eines Briefes, den ein Theaterdirektor der Gegenwart an Herrn Molière sendet, um ihm mitzuteilen, daß das eingereichte Stück («Der Menschenfeind») ganz und gar unbrauchbar sei, weil es gegen die elementarsten Regeln der Bühnentechnik verstoße. Die Sprache des Theaterdirektors ist trefflich nachgeahmt, und man erhält den Eindruck, als spräche Zola aus Erfahrung. Vielleicht ist auch dieser oder jener meiner Leser in der Lage, die Echtheit des Stils auf Grund der Vergleichung zu prüfen.

Dagegen müssen wir dem ältern Dumas einen überaus großen Einfluß auf die moderne Mache beimessen, einen größern selbst als Scribe, wie man das in Frankreich mehr und mehr einsieht. Dumas gebraucht schon die wichtigsten formalen Bühneneffektmittel der Gegenwart. Er hat die absolute Vorherrschaft der Handlung (le mouvement) eingeführt und zuerst den Wert der Spannung durch geschickte Knotenschürzung (imbroglio, embrouillement) für den Theatererfolg völlig erkannt. Er gab ferner mit seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit das erste glänzende Beispiel der psychologischen Vorbedingungen zu einer guten Mache, als da sind: Abwesenheit aller ästhetischen Ideale und Prinzipien, und Unbedenklichkeit in der Wahl der Mittel zum Erfolg.

Dazu kommt noch jene negative Eigenschaft, die unserer deutschen Kritik als die oberste Tugend eines Theaterschriftstellers gilt: der literarische Unwert seiner Dramen. In dieser Beziehung ist Alexandre Dumas durchaus unverdächtig. Seine Theaterstücke sind für die Literatur wertlos; dagegen erzielten sie beispiellose Bühnenerfolge. Etwas Vollkommeneres kann man sich also gar nicht denken. Wenn wir nun nicht vergessen, daß Dumas ein Sensationsromanschreiber und Kollege des Eugène Sue gewesen und wenn wir damit die Tatsache vergleichen, daß auch der jüngere Dumas, dieser Grundstein der modernen Theatertechnik, ein Sensationsromanschreiber ist, so kommen wir dem innersten Wesen der Mache auf die Spur. Aus den Erfahrungen des Erfolgromans haben die beiden Dumas gelernt, daß die Menge einer Fabel nur stoffliche Teilnahme entgegenbringt, daß das Interesse gerade so lange vorhält, als die Neugierde wachbleibt, mit andern Worten, als der Leser oder Hörer durch Auf- und Abwicklung der Handlung in Spannung versetzt wird. Die Spannung, dieses oberste formale Erfolgmittel der Bühnentechnik, war schon das Hauptgeheimnis eines Eugène Sue. Die berühmte eminent theatralische und angeblich allein theatralische Mache der modernen Franzosen ist also im Grunde die Mache des Romans, wohlverstanden nicht des breit angelegten, analysierenden, sondern desjenigen, welchen wir dramatisch nennen und welchem der Franzose den verächtlichen Titel ‹Feuilletonroman› gibt. Und dabei wundern wir uns, daß der Franzose kein Bedenken trägt, einen Roman auf die Bühne zu stellen!

Fassen wir nun noch einmal die geschichtlichen Hauptfaktoren der Mache zusammen. Sie heißen: der Sensationsroman der dreißiger Jahre, der Kokottenroman des Zweiten Kaiserreichs, endlich die traditionelle Eskamotierungskunst des alten Intrigenlustspiels, verjüngt durch Scribe und verblümt mit Anleihen aus dem spanischen Mantel- und Degenstück.

 

Bei alledem ist folgendes nicht zu übersehen: Die Mache des Franzosen beruht auf Überlieferung, auf Erfahrung und auf persönlicher Liebhaberei; dieselbe ist weder kodifiziert noch stipuliert und durch keine überwältigende doktrinäre Autorität geheiligt. Die Mache hat keinen Aristoteles. Darum fühlt sich der französische Handwerksdramatiker gänzlich frei in seiner Komposition. Und wenn auch sein Intrigenbau manches mit dem Bau des germanischen Dramas, wie ihn unsere Dramaturgie lehrt, gemeinsam hat (obschon lange nicht so vieles, wie man wohl annimmt), so tun wir doch unrecht, einen französischen Autor nach dem deutschen dramaturgischen Gesetzbuch zu loben oder zu tadeln. Der nämliche Autor wird das eine Mal in unsern Augen die größte Bewunderung für den ‹meisterhaften Bau› verdienen, und siehe da, das nächste Mal stößt er einer unserer ersten dramaturgischen Grundregeln vor den Kopf. Das kommt daher, daß die formale Übereinstimmung der traditionellen Intrigenschablone mit dem deutschen dramaturgischen Schema zufälliger Natur ist und daß ferner die französische Schablone, als eine durch Tradition gewonnene, nicht so streng dogmatisch, also nicht so unveränderlich auftritt wie das deutsche Schema. Und hieraus entspringt ein tiefer, das innerste Wesen der Arbeit bestimmender Unterschied zwischen französischer Mache und deutscher Nachmache. Wir möchten unsere Dramen absolut formal arbeiten, so daß eine kunstgerecht geführte Handlung aus sich selbst, auf rein mechanisch-psychologischem Wege die dramatische Schönheit ergeben sollte.

So schematisch verfährt der Franzose nicht. Ihm ist die Meisterschaft der Führung weder Zweck noch Hauptsache. Er ist nicht in die Mache verliebt wie unsere deutschen Bühnendichter und Theaterkritiker. Für ihn bedeutet dieselbe ein bloßes Mittel, und zwar gewöhnlich ein vorbereitendes Mittel. Nicht in der Summe der Intrige, sondern in einzelnen Hauptszenen, meistens sogar in einer einzigen Hauptszene sucht ein Franzose die Theaterwirkung. Eine solche Szene geschickt vorzubereiten, das ist sein Kompositionsziel, und eine durchschlagende Situation zu gewinnen seine Hauptsorge. Daß die Hauptszene durchaus die letzte sein müsse, dafür sieht er keinen Grund vorhanden. Ich glaube es nicht zu oft wiederholen zu können: Kein urweltliches dramaturgisches Grundrecht leitet den französischen Autor; er dient entweder der Poesie wie im grand art, oder dem Erfolg (dem spectateur lui-même) wie im niedern Drama. Da ihm nun für den Erfolg das Lustspielhandwerkszeug tauglich erscheint, so gebraucht er es, aber nach Gutdünken; willkürlich ändernd, was ihm in einem bestimmten Fall nicht paßt. Daraus erklären sich die staunenerregenden ‹Fehler› selbst der besten Bühnenmeister. Ein Sardou bedenkt sich keinen Augenblick, eine Exposition über zwei Akte auszudehnen. Wer sollte ihm das auch verbieten? Welcher Prophet hat dem Menschengeschlecht offenbart, wie lange eine Exposition sein solle oder sein dürfe?

Wie die einzelnen überlieferten Regeln, so wirft dann der französische Schriftsteller sein ganzes Handwerkszeug beiseite, sobald ihm dasselbe unnütz erscheint, denn, um auch das nochmals zu sagen, er ist nicht in die Mache verliebt.

Endlich   und ich mache ausdrücklich auf die Bedeutung dieses Satzes aufmerksam   fällt es keinem Franzosen ein, die Intrigentechnik auf die edle dramatische Kunst, also etwa auf das historische Trauerspiel oder die ideale tragédie übertragen zu wollen.

Die einzelnen Kunstgriffe ( recettes, ficelies: Mätzchen) der formalen Bühnentechnik aufzuzählen, dazu fühle ich mich weder berufen noch befähigt noch aufgelegt. Gottlob gibt es in Deutschland der Bühnendichter genug, welche imstande sind, hierüber eine Konsultation zu erteilen. Wir haben ja ‹von den Franzosen gelernt›. Nur fürchte ich, der Fragesteller möchte mehr pfiffige Mienen als Aufschlüsse erhalten. Denn   vergessen wir das nicht   die Mache ist ein Geheimnis. Entweder man hat sie, oder man hat sie nicht. Lehren läßt sie sich so wenig als lernen. Hingegen will ich den Leser noch mit einigen französischen Schlagwörtern der Bühnentechnik vertraut machen, welche den unsrigen entsprechen, damit nicht etwa der Verdacht entstehe, die französische Sprache entbehre dieses Gutes. Die Bühnentechnik heißt: le métier oder la mécanique (du théâtre), die Mache: la facture, das Bühnenblut oder dramatische Vollblut: le don, bühnengerecht: du théâtre, bühnenwidrig: pas du théâtre, ein meisterhaft geschürzter Knoten der Handlung: une intrigue enlacée und so weiter. Dagegen fehlt merkwürdigerweise das Wort für den dramatischen Geschwindschritt. Es hält schwer, zu begreifen, wie eine zivilisierte Nation ohne den dramatischen Geschwindschritt fortkommen kann. Will man einem französischen Dramatiker zu verstehen geben, es fehle ihm die spezifische Begabung für das Drama, so muß man ihn nicht etwa Buchdramatiker schelten, weil er diesen Titel, vorausgesetzt, daß derselbe für ihn einen Sinn hätte, als ein hohes Lob auffassen würde. Man nenne ihn Romanschreiber (romancier).

Schließlich sei noch des Hauptsatzes erwähnt, mit welchem die französischen Dramaturgen den Unterschied zwischen der dramatischen und der erzählenden Schriftstellerarbeit auszudrücken pflegen (wofern sie überhaupt einen solchen Unterschied zugeben): Das Drama erfordert die Synthese, der Roman die Analyse. Hieraus lernen wir, daß auch der Franzose Latein spricht, wenn er etwas Unklares sagen will.


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