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Joseph Viktor Widmann

Zu einzelnen Werken

§§§ «Spaziergänge in den Alpen»

Man öffne diese Sammlung auf Geratewohl, und sogleich wird der Blick an der Stelle, wo er zufällig hintrifft, haften bleiben; die Seiten prickeln von Geist, und die Buchstaben sind entweder durch den kristallklaren Sinn oder durch das farbige Bild gleichsam ihrer monotonen Schwärze beraubt. Fängt man dann irgendwo zu lesen an, so schmiegen sich die Sätze so elastisch und bequem um unser Verständnis, daß jeder, der einmal selbst zu schreiben versucht hat, inne wird, er hat einen überlegenen Stilisten vor sich. Und in der Tat sind diese Aufsätze meisterhaft und musterhaft geschrieben, wahrhaft klassische Proben des Feuilletonstils; ohne jemand zu nahe treten zu wollen, glaube ich behaupten zu dürfen: es gibt in der deutschen Schweiz keinen Schriftsteller, der sich in diesem Gebiet mit Widmann messen kann. Schon die Einleitungsworte, wie sind sie elegant gedrechselt und gefeilt! Worin nun das Geheimnis dieses Stiles liege, wird man sich und soll man sich fragen; die Antwort aber wird hier wie überall lauten: dasselbe liegt in der eigentümlichen Durchbildung der Persönlichkeit; auf anderem Wege hoffe niemand etwas Außerordentliches zu schaffen. Zur direkten Nachahmung sind denn auch diese «Spaziergänge» nicht anzuraten; Widmann hat zu viele originelle Kreuz- und Querzüge des Geistes und der Phantasie, als daß die Nachahmung nicht sogleich auffiele. Hingegen ist jedem Prosaiker für seine indirekte Erziehung zu empfehlen, diese so glatt dahinfließenden Erzählungen und Plaudereien aufmerksam zu lesen; es scheint mir unmöglich, daß er nicht daraus lerne, wäre es auch nur, um fortan höhere oder vielmehr feinere Anforderungen an sich selbst zu stellen. Und dieses ‹nur› ist sehr viel.

Doch ich rede, als ob ich ein Publikum von Schriftstellern vor mir hätte! Ich muß also für das Leserpublikum hinzufügen, daß die Vollendung des Feuilletonstils gerade darin besteht, sich mit dem größten Genuß und mit dem denkbar geringsten Minimum von Mühe und Unbehagen lesen zu lassen. So viel von der Form, welche freilich in dem betreffenden Gebiet von eminenter Wichtigkeit ist.

Was den Inhalt betrifft, so läßt sich überall ein Geist erkennen, der mit vollen Händen um sich streut, hier eine scharfsinnige Beobachtung, dort einen feinen Witz, und nicht am seltensten eine sinnige Betrachtung, wie sie nur dem Dichter gegeben ist.

Die Grenzen der Bedeutung sind durch den Titel bezeichnet; auf ein eigentliches Opus macht die Sammlung keinen Anspruch; es will kein tiefgehendes Panzerschiff vorstellen, sondern ein anmutig schaukelndes, hübsches Segelschiffchen, das mit spielender Nachlässigkeit gesteuert wird und der Nachbarn, welche langsam und schwerfällig nebenherrudern, schelmisch zu spotten scheint.

«Der Sturm»

Operntexte von Widmann sind für unsereinen nicht zum Beurteilen, sondern zum Lernen da. Wie ein Libretto klingen und tändeln soll, ohne in Blödsinn auszuarten, das erfahren wir an diesen mustergültigen Beispielen. Es gehört freilich der Geist eines Widmann dazu, um das Rezept gebrauchen zu können; denn ein anderer könnte schwerlich so haarscharf mit dem Witz, dem Reim und dem Rhythmus an den Klippen des Kindischen vorüberspielen. Den letztern von weitem aus dem Wege zu gehen, das böte allerdings keine Schwierigkeit, aber damit geriete der Textdichter zugleich an der Musik vorbei. Daß übrigens mit einem solchen Opus ein eigentliches Kunstwerk geschaffen werde, erwartet niemand, auch der Verfasser nicht; es bleibt immerhin ein Libretto, das heißt ein Produkt, das für einen höhern Wert von anderer Seite nur den Anlaß und den Rahmen liefern will.

Wollen wir nun dem Verfasser seine Geheimmittel verraten, mit welchen er mehr als jeder andere Librettist dem Musiker die Töne auf die Zunge zu legen weiß und das Gesamtwerk mit einer feinen Atmosphäre zu umhauchen versteht, so müssen wir eben auf die drei Elemente zurückkommen, deren Verbindung die Eigentümlichkeit Widmanns ausmacht: Poesie, Formgewandtheit und Witz. Das sind die Voraussetzungen solcher Arbeit; wer dieselben hat, dem wird ein gutes Libretto leicht; leider ist es schwer, dieselben zu haben.

Im einzelnen fallen die wechselnden, meist kurzen Metren und die gehäuften, stets scharf betonten Reime auf. Die Diktion bewegt sich um die Lyrik herum, wie die Pflanze um den Schaft, und an jedem Ast befindet sich ein Knöspchen, ab und zu auch eine volle schöne Blume, wie zum Beispiel das Lied des Prospero im Beginn des dritten Akts. Noch mehr Beachtung als diese Vollschüsse des Sonnenscheins, die schließlich ein jeder findet, wenn auch nicht so vollkommen, verdienen die Mittel des Dialogs von minderer Tonschwingung.

Um hier nicht in Prosa hinunterzusinken, wie fängt es der Dichter an? Abgesehen vom Rhythmus, Metrum und Reim, die äußerlich heben, ist es die ununterbrochene Kette leuchtender, malender oder wenigstens darstellender Substantive und Adjektive, welcher der Rede die gewünschte Süßigkeit verleihen. Ich sage absichtlich Süßigkeit: denn ohne Zucker gedeiht so wenig eine Poesie als eine Blume. Die heutige Mode mag sich noch so sehr anstrengen, Meerrettich für das wahre Wesen der Dichtkunst auszugeben, über den Sonnenschein und seine Lieblinge kommt man doch niemals weg, und der kräftigste aller Dichter, Shakespeare, wurde von den Zeitgenossen ein Süßling gescholten. «Bleibts dabei», hieß es in den alten Basler Beschlüssen. «Bleibts dabei», sagt auch die Kritik über die Poesie. Kindlichkeit, Weiblichkeit und Kunst begehren Honig, die Kümmel und die Bitter taugen für Feld- und andere -weibelei.

«Gemütliche Geschichten»

Das Schauspiel, daß ein Dichter erst in mutiger Unternehmungslust auf sämtlichen Gebieten der Poesie seine Kraft versucht, ehe er sich sein eigenes Heim und Gärtchen abzirkelt, ist weder unnatürlich noch unerfreulich. Selbst in dem Falle, daß einzelne solcher Explorativarbeiten statt zu den Akten der Literatur zu den Dokumenten der Biographie müßten gerechnet werden, kann man kaum von verlorener Zeit und Mühe reden. Denn jedes ernstlich unternommene Werk ist eine Studie, hinterläßt Erfahrungen, erweitert den Horizont, belehrt über den Charakter und Umfang des eigentümlichen Talentes, schützt vor Verwechslungen und, was die Hauptsache ist, befähigt den Künstler, später in seinem speziellen Fache um so freier und überlegener aufzutreten. Es ist eine Schule für die geistigen Gliedmaßen, wie das Turnen für den Körper.

Nachdem unser geistreicher und origineller Mitbürger Joseph Viktor Widmann Lyrik, Epos und Drama während einer langen Reihe von Jahren gleichmäßig zum Ziel seiner Tätigkeit erwählt und in jeder dieser Gattungen, namentlich aber im Epos, Werke geliefert hat, welche über das Gewöhnliche emporragen, konzentriert er sich in neuerer Zeit auf die seinem Talente am meisten zusagenden Unterarten, auf das Feuilleton, in welchem er mit den geistreichsten Franzosen wetteifert, auf das Opernlibretto, wo er in der deutschen Schriftstellerei der Gegenwart seinesgleichen sucht, und auf die idyllisch-humoristische Erzählung.

Glänzender Geist begründet in der deutschen Ästhetik kein günstiges Vorurteil für den Dichter; man mißtraut dem Witz, selbst dem feinsten, auf Grund der Theorie von dem rein plastischen Charakter der Dichtkunst; ferner auf Grund von allerlei Erfahrungen mit semitischen Spöttern, endlich vielleicht auch, weil einem die springlustige Beweglichkeit des Gedankens ein wenig unheimlich vorkommt. Es läßt sich auch in der Tat nicht bestreiten, daß Widmann öfters im Erzählen über seinen Geist strauchelt, der ihm plötzlich blendend in den Weg hüpft, ein Fehler, vor welchem wir übrigens, mehr als nötig ist, geschützt sind. Demungeachtet verdient Widmann nach den Proben, die er hier in den «Gemütlichen Geschichten» ablegt, den Titel eines Humoristen im besten Sinne, nämlich in dem Sinne, daß er die Widersprüche der Individualitäten und der Situationen durch das Gemüt und die Phantasie in Poesie umzuwandeln versteht. Man müßte entweder blind oder voreingenommen sein, um diese schöne Tatsache zu leugnen. Hier, in diesen Heimatidyllen, deren wiederholte Stoffähnlichkeit weder einer Phantasiearmut noch einem barocken Eigensinn zugeschrieben werden darf, hat Widmann rückwärts über die Stationen «Pfarrhausidyll» und «Der geraubte Schleier» schreitend sein eigenes Gebiet im Reiche der Poesie aufgefunden; hier bewegt er sich leicht, anmutig und siegreich, ihm und seinen Lesern zur Erquickung.

Damit haben wir zugleich gesagt, daß er auch Eigentümlichkeiten des Humors aufweist. Als solche erscheinen uns namentlich seine neckische, zuweilen sogar lose Schalkhaftigkeit, welche mit sich selbst und mit seinem Stoffe ironisierend spielt, wie das bei den humoristischen Epikern des Cinquecento Brauch war, und seine unbefangenen stilistischen Interventionen in die Geschichte, wir meinen die muntern Apostrophierungen des Lesers. Man darf Widmanns Erzählungen nicht mit grämlichem Geiste und mit empfindlicher Selbstliebe lesen; ebenso wie der Dichter ohne Eitelkeit seine persönlichen Jugendschwächen dem poetischen Frohsinn zum Opfer bringt, ebenso trägt er nicht das mindeste Bedenken, seine heimatlichen Gespielen und Lebensgenossen zur Aufheiterung des Gemäldes zu benützen. Eine große Täuschung, ja eine Ungerechtigkeit würde es sein, wenn die Modelle sich über das humoristische Gewand, das ihnen der Dichter umgeworfen, beklagen wollten. Denn nicht Spott, sondern im Gegenteil Verklärung bedeutet diese Art Humor. Verklärung im freundlichen Scheine der Poesie; und wer Widmanns Motiv unter diesen Erzählungen richtig zu spüren weiß, wird finden, daß eine warme Heimatliebe, um nicht zu sagen ein tiefes Heimweh, ihn immer und immer wieder dazu drängt, seine Jugendeindrücke zu zeichnen. Warum der Dichter dieses Heimatsgefühl nicht lieber direkt und unmißverständlich in der Sprache der Sehnsucht dem Leser gesteht? Eben weil er ein Dichter ist, weil er weiß, daß die Darstellung derjenigen Figuren, die ihm selber das Heimatsbewußtsein wecken, wertvoller und wirksamer ist, als es die Mitteilung seines Gemütszustandes sein würde. Wenn einst weder der Dichter noch seine Modelle mehr unter den Lebenden sein werden, dann wird das von ihm geliebte Weidling dank seinen gemütvoll-humoristischen Schilderungen noch manchen Freund in weiter Ferne besitzen. Eines freilich möchten wir dem Verfasser doch anraten: die allzu durchsichtige Namengebung samt der allzu peinlichen Aktentreue in der Schilderung der wirklichen Begebnisse und Persönlichkeiten gegen eine etwas freiere Behandlung zu vertauschen. Nicht bloß würde er dadurch etwanigen Empfindlichkeiten ohne Mühe vorbeugen, sondern überdies noch in poetischer Beziehung gewinnen, indem die überzeugendsten Bilder keineswegs auf photographischem Wege erzielt werden, sondern auf einem Wege, den ein Dichter wie Widmann gar wohl kennt.

Die «Gemütlichen Geschichten» enthalten zwei längere, untereinander nur örtlich und zeitlich zusammenhängende Erzählungen: «Die Rosenbrüder» und «Die Löwen im Landstädtchen». Die erstere, eine einzige Anekdote in geschlossener und auf das Ende hin stetig zielender Komposition mitteilend und nur so viel epischen Stoff mitnehmend, als in den Rahmen paßt, hat die Vorzüge der Einheit und der berechneten Spannung, läßt aber die richtige Proportion zwischen Thema und Ausführung vermissen; wir meinen, für eine spielende Anekdote sei der aufgewendete Apparat zu stark und der Umfang zu groß, ein Übelstand, welchen freilich die geist- und kunstvolle Einzelbehandlung übersehen läßt und welcher uns auch erst durch die gefährliche Nachbarschaft der «Löwen im Landstädtchen» zum Bewußtsein kam. Diese «Löwen» habens uns angetan; hier herrscht die echte freie epische Lebens-, Gestaltungs- und Sonnenlust, hier gedeihen unvergeßliche Szenen auf den verschiedenartigsten Gebieten in der Schilderung behaglicher Volksfeste wie des ‹Äpfelhauet›, und des Konzertes in der Kirche, aber auch in heimlichen lauschigen Winkeln wie zum Beispiel in der köstlichen Badeszene des Apothekers mit dem Pfarrerssohne. Humor und Witz werden aus einem geradezu unerschöpflichen Füllhorn über die Ereignisse ausgegossen; wo diese Feuerwerke einmal schief fahren, entschädigt entweder eine Wendung des Satzes oder ein geschicktes Wort; auf allen möglichen Pfaden werden wir geleitet, niemals auf den ausgetretenen Geleisen der Allerweltsstraße. Die Charakteristik bleibt sich treu und schafft namentlich in den Männerfiguren ergötzliche Originale. Bezaubernd durch die vollkommene Stilschönheit sind die Naturschilderungen geraten; da waltet eine Meisterschaft, die keine Vergleichung zu scheuen braucht. Und nicht etwa nur einzelne Knalleffekte der Natur, sondern jede einzelne Szene, die dem Dichter beliebt, tritt warm und wahr, innig und schön vor unser Auge, nicht anspruchsvoll, sondern herzlich, durchzittert von Seele und Gemüt und mitunter sogar im Tonfall der Satzperiode den Dichter unwillkürlich offenbarend.

Journalist und Poet

Anläßlich von Joseph Viktor Widmanns Tod ist in der Presse ein Brief des Verstorbenen an Gottfried Keller abgedruckt worden. Der hatte ihm Erlösung vom Journalistenberufe gewünscht, und Widmann legte ihm in diesen Zeilen dar, warum er ein solches Erlösungsbedürfnis nicht verspüre, vielmehr aus persönlichen Gründen recht wohl mit seinem Berufe zufrieden sei. Als Parallele und Verstärkung zu diesem Bekenntnis wurde eine Auslassung Fontanes beigedruckt, die im wesentlichen auf den einen Satz hinauslief, ein guter Zeitungsartikel sei mehr wert als ein schlechtes Drama, und die sich bei diesem Anlaß das Vergnügen des Spottes über die Kolumbusdichter erlaubte, das heißt über die unreifen, weltfremden, bühnenunkundigen und poesieverlassenen Jambenfexe nach den Regeln der alten Schablonendramaturgie. Den Satz vom Mehrwert eines guten Zeitungsartikels gegenüber einem schlechten Drama wird jeder unterschreiben; ob aber der Spott angebracht war, darüber kann man verschieden empfinden. Spott über eine ernst gemeinte, mit ehrlichem Fleiß durchgeführte Arbeit, wäre sie auch noch so unbeholfen und nutzlos, ist wenigstens nicht nach meinem Geschmack; ich finde ihn auch ein bißchen wohlfeil, denn worüber ist in den letzten vier Jahrzehnten mehr gespöttelt worden als über das alte Buchdrama?

Es ist begreiflich, daß die Presse das gute Zeugnis, das ihr von zwei berühmten Schriftstellern erteilt wurde, gerne veröffentlichte, und anerkennenswert, daß sie sich dabei selbstgefälliger Nutzanwendungen enthielt. Allein wir leben in einer Zeit, die ohnehin geneigt ist, den Wert der Journalistik, namentlich der journalistischen Kritik, zu hoch und den der schöpferischen Arbeit zu tief einzuschätzen; deshalb ist mit jenen Worten immerhin ein Sämchen gesät, das möglicherweise zu Unkraut auswachsen kann. Da überdies das Zeugnis Widmanns mißverstanden worden ist, glaube ich das Mißverständnis berichtigen zu sollen.

Widmann wollte keineswegs im allgemeinen die Tagesschriftstellerei eines Feuilletonisten hochheben; es war ihm einzig darum zu tun, zu erklären, warum ihm persönlich, vermöge seiner Individualität, diese tägliche Zeitungsarbeit willkommen und bis zu einem gewissen Grade sogar Bedürfnis sei. Nicht preisen, entschuldigen wollte er für seinen Fall die Zeitungsschriftstellerei. Er konnte und mochte sie nicht entbehren, war aber durchaus nicht blind gegen die Gefahren, Schädigungen und Hemmnisse, welche die Journalistentätigkeit dem Dichter bringt. Sein «Aretin» ist ja geradezu die Tragödie des Journalisten. Von Herabsetzung dichterischer Arbeit zugunsten der geistreichen Kritik, war er, der geistreiche Kritiker, weit entfernt, vollends aber davon, über einen braven, talentlosen, fleißigen Buchdramatiker zu spotten. Das war so sehr seiner Natur und Überzeugung fremd, daß ich überzeugt bin, wenn er Fontanes Spott über die Kolumbusdichter gelesen hätte, würde er ein Wort für sie eingelegt haben. Er war ja selbst in seiner Jugend ein Kolumbusdichter gewesen; doch das hinderte ihn nicht, später erstens geistreiche Kritiken zu schreiben trotz einem und zweitens echte poetische Werke wie die «Maikäferkomödie» und den «Heiligen und die Tiere». Also auf Widmann darf man sich nicht berufen, wenn man das Lob der geistreichen Tageskritik gar zu hohen Tones singen will. Überhaupt werden sich zwei kleine Wahrheiten nicht gut beseitigen lassen. Kunstwerke dauern, während selbst die geistreichsten Feuilletons leider nur Blätter im Winde sind. Und dann: der Beruf eines Redaktors und Zeitungsschreibers vereint sich schwer mit dichterischem Schaffen; nicht wegen innerer, seelischer Unverträglichkeit (eine innere, seelische Unverträglichkeit der beiden Tätigkeiten ist eine durch Tatsachen widerlegte Befürchtung), sondern einfach wegen der Überbürdung mit Arbeit und wegen der mechanischen Verstopfung des schöpferischen Stromes durch die Unmasse von Wust. Setzen Sie einen Dichter, der seine Werke keimen, wachsen und reifen lassen will, ehe er sie schreibt, in das Zeitungsgetriebe hinein, so werden Sie hören, wie er seufzt.

Widmanns literarische Verjüngung im letzten Lebensjahrzehnt

Von vielen Dichtern muß die Literaturgeschichte beklagen, daß sie nicht früh genug starben, daß sie sich selbst überlebten. Bei Widmann verhält es sich umgekehrt. Wäre Widmann statt in seinem siebenzigsten in seinem fünfzigsten Lebensjahre gestorben, so würden nicht bloß manche gegen seine poetischen Leistungen skeptisch geblieben sein, sondern er, dem jetzt die Liebe des ganzen Volkes nachtrauert, wäre als einer der am meisten gehaßten Menschen von uns geschieden. Haß gegen Widmann, das klingt heutzutage unglaublich und unbegreiflich   und doch war er Tatsache. Widmann hatte nicht bloß eine Menge Feinde, sondern seine Feinde waren von ganz außerordentlicher Erbitterung besessen; es gab Leute, ja sogar Gruppen von Leuten, zum Beispiel die jungen Münchner Dichter der Zeitschrift «Gesellschaft», die ihn mit Pamphleten bedachten und ihm grimmige, zähe Rache schwuren. «Ja wieso denn? warum denn?» Dies zu erklären wird Aufgabe der schweizerischen Literaturgeschichte sein; ich habe die angenehmere und ersprießlichere Aufgabe, den Umschwung durch Verjüngung festzustellen, der sich in Widmann im letzten Lebensjahrzehnt vollzog und der um so bewundernswerter ist, als Widmann eine Zeit lang, um 1890 herum, greisenhafte Züge in seinem Schaffen verraten hatte.

Der Umschwung setzte ein mit einer ernsteren Auffassung der Dichtkunst, die ihn nötigte, größere Ansprüche an sich selber, vor allem an seine Arbeitsmühe zu stellen. Er hatte vorher zeitlebens aus dem Handgelenk, mit der Begabung, mit dem Einfall, mit dem Geist, mit der Verskunst unbekümmert und schnellfreudig geschaffen, aus Naturanlage und Gewohnheit; und seine jedesmalige Umgebung, in veralteten Genieanschauungen befangen, hatte ihn noch in dem Glauben bestärkt, der angenehme und leichte Weg wäre zugleich der richtige. Jetzt, im Alter, durch das Beispiel großer Schriftsteller belehrt, die er bewunderte und deren Vergleich ihn, den Bescheidenen, beschämte, begann er einzusehen, daß auch dem Begabtesten, will er ein bleibendes Werk schaffen, sorgenvolles Ringen mit dem Stoffe nicht erspart bleibt. Gleichzeitig verspürte er Sehnsucht, vor seinem Hinscheiden noch sein Bestmögliches zu vollbringen, mithin die Nötigung, seine Kräfte zusammenzuraffen; die tausend kleinen süßen Eitelkeitsbefriedigungen, welche das Vielschreiben einbringt, genügten ihm nun nicht mehr; wie sein Aretin seufzte er nach Höherem.

Hiemit war der Grund zur Selbsterhöhung urbar gemacht.

Zu der ernstern Kunstauffassung gesellt sich ein größerer Ernst der Weltanschauung. Nicht eine neue Weltanschauung zwar schuf er sich; es war die nämliche, die sich schon im «Buddha» geoffenbart hatte, und ihr Inhalt, die Elegie über das Dasein, das Mitleid mit der Kreatur ist ja auch etwas so Natürliches und Einfaches, daß man sich nur darüber wundern muß, daß sie nicht allgemein ist; Widmanns Weltanschauung war die Weltanschauung jedes ehrlich denkenden Menschen, der zugleich ein fühlender Mensch ist. Allein früher interessierte sich Widmann nicht in dem Maße für seine eigene Weltanschauung wie später; erst im Alter begann sie ihn stetiger zu beschäftigen und tiefer zu bewegen.

Aus diesen beiden Motiven des Ernstes, der strengern Kunstauffassung und der tiefer gespürten Weltanschauung wurde dann Widmann ein nach Ausdruck und ein nach einem Stoffe für den Ausdruck Suchender. Und hier wieder, in dem Suchen nach einem Stoffe, führte ihn sein nunmehr besser beratener, weil gewarnter Instinkt richtiger als früher. Das Aufspüren des angemessenen Stoffes ist überhaupt für einen Dichter zugleich das Entscheidendste und das Schwierigste in seinem ganzen Beruf. Im «Buddha» hatte Widmann so etwas gefunden, allein damals entsprach dem kosmischen Pathos noch nicht ein ebenbürtiger Kunstwille. Und mit Ausnahme dieses einen ernsten Epos suchte unser Dichter für seine pathetischeren Empfindungen das Heil in einer seiner Natur nicht angemessenen Kunstform, in der Tragödie. Zur Tragödie verführte ihn eine gewisse Geübtheit und Gewandtheit im äußern Aufbau des Dramas; er hatte sich frühzeitig, schon mit zwanzig Jahren eine Geschicklichkeit in der dramaturgischen Anordnung der Akte und Szenen angeeignet und übertrug dann diese Ordnung als ein für allemal feststehendes Schema auch in die Dramen seiner Mannesjahre. Aus diesem Grunde haben Widmanns Tragödien bei allen Vorzügen einen kleinen Beigeschmack von Schuldramatik. Für Operntexte erwies sich die dramaturgisch-technische Gewandtheit als ein Vorteil, für die Tragödie hat sie ihm mehr geschadet als genützt. Endlich, im hohen Alter, fand er die richtige Form für den Ausdruck dessen, was ihn jetzt bewegte, eine ihm auf den Leib passende Ausnahmsform, und so konnten ihm zwei Werke gelingen, die nach meinem Urteil alles, was er früher geschaffen, in den Schatten stellen, die «Maikäferkomödie» und «Der Heilige und die Tiere». Nach diesen beiden Werken mußte jeder Zweifel verstummen. Widmann trat hiemit für jedermann in die Reihe der ernsten Dichter. Nach der «Maikäferkomödie» und dem «Heiligen» durfte er getrost und versöhnt die Augen schließen.

Und noch eine andere Alterserneuerung.

Widmann war, bemerkenswerterweise, niemals ein Lyriker gewesen. Weder die Liebe noch die Natur, noch persönliche Stimmung vermochten ihm Lieder zu entlocken. Jetzt, in den allerletzten Lebensjahren, erwachte der Lyriker; der Wecker aber war das erlebte Pathos der Vergänglichkeit alles Irdischen. Als Elegiker entpuppte sich Widmann, und in der Elegie-Stimmung fand er rührende und ergreifende, echt lyrische Akzente, die ihm früher ganz abgegangen waren. Seine letzten lyrischen Gedichte sind zugleich die schönsten. Auch trug er sich mit dem Gedanken, seine zerstreuten Gedichte zu sammeln.

So hat sich Widmann im letzten Jahrzehnt auf dem Gebiete der Poesie über sich selbst emporgefunden. Durch Vertiefung gewann er Verjüngung. Denn ein Dichter erscheint um so jünger, je mehr er an seelischem Inhalt und an Kunst gewinnt.

Mit alledem gewann Widmann schließlich ein unbestrittenes Ansehen als Schaffender und hiemit auch allgemeine Ehrerbietung und Liebe. Wer dem Kritiker und Journalisten von früher her etwas zu verzeihen hatte   und mancher hatte ihm etwas zu verzeihen  , opferte versöhnt seinen Groll dem Dichter. Aber auch der Kritiker und Journalist wurde in den zwei letzten Lebensjahrzehnten ein anderer. Die früheren Zickzacksprünge des Kritikers mäßigten sich mehr und mehr und näherten sich allmählich einer gewissen geraden Linie; die stochernde Angriffslust des Journalisten, die einst unberechenbar und unversehens nach allen möglichen und unmöglichen Seiten zu jucken gepflegt hatte, konzentrierte sich nunmehr auf einen einzigen Gegner, die Pfaffen, und ließ die übrige Welt unbehelligt. Endlich taute in seinem kritischen Herzen ein Strom der Milde auf, der alles Literarische, was da ankam, wenn es nicht gar zu schlimm war, mit Wogen des Wohlwollens überschwemmte. Hiemit verpflichtete er sich eine ganze Generation jüngerer Schriftsteller zu Dank.

Dazu reiften allmählich die Früchte seiner persönlichen Tugenden und beruflichen Verdienste. Sein Geist, seine Güte, sein Fleiß, seine Gewissenhaftigkeit kamen mit jedem Jahre mehr zur Geltung und Anerkennung; seine persönlichen Bekanntschaften fingen an sich zu summieren, und da jeder Mensch, der Widmanns persönliche Bekanntschaft schloß, ihn lieb gewann, hatte er am Ende seines Lebens ungezählte Tausende von Freunden und Verehrern und nirgends einen Feind. Darum wohl ihm und wohl uns, daß er sein Leben bis nahe an die siebzig Jahre fristen durfte.


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