Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

«Die Familie Selicke»

Im Januar 1889 erschien bei Reißner in Leipzig eine Sammlung von drei Novellen, deren erste, «Papa Hamlet», nach französischem Brauche den Titel für das Buch hergab. Als Verfasser zeichnete Bjarne P. Holmsen, als Übersetzer Dr. Bruno Franzius. Das Buch machte Aufsehen, man begrüßte je nach dem Standpunkt des Beurteilers den bis dahin noch unbekannten norwegischen Dichter mit Abscheu oder mit Bewunderung als ein Zeichen der Zeit und der norwegischen Geistesart; neben der deutschen Presse nahm die französische («Temps»), die holländische («De Leeswijser»), die dänische («Morgenbladet») von der Erscheinung Notiz. Schließlich stellte sich heraus, daß die norwegische Qualität des Verfassers eine satirisch gemeinte Mystifikation war, daß Holmsen mit seinem angestammten deutschen Namen Arno Holz heißt, den die literarische Welt als Verfasser eines «Buches der Zeit» längst kannte. Die Mystifikation war gelungen, denn der Verfasser erreichte vollkommen seinen dreifachen Zweck, erstens die Welt zu verhöhnen, zweitens sein Buch unter norwegischer Flagge zu lancieren, drittens sich über die nach allen Himmelsgegenden auseinanderstrebenden Sprünge der Kritik zu ergötzen. In der Vorrede zur «Familie Selicke» gestattet sich Arno Holz, dem es überhaupt an Humor nicht zu fehlen scheint, das boshafte Vergnügen, sämtliche Urteile der Presse, die vernichtenden nicht minder als die lobpreisenden, zu sammeln, ohne weitere Bemerkung; der Senf liegt in der Nebeneinanderstellung, indem weislich je solche Kritiken zusammengekoppelt werden, deren eine die andere aufhebt; damit sagt er schon durch die Tat, was er später ausdrücklich gesteht, daß ihm jegliche Kritik Schnuppe sei:

«Der eine betrachts,
Der andere beachts,
Der dritte verlachts  
Was machts?»

Ob es wirklich mit der Gleichgültigkeit gegen die Kritik bei Arno Holz so vornehm aussieht, wie er behauptet und meint, ist eine andere Frage. Die Jüngstdeutschen glänzen sonst nicht eben durch stolze Unempfindlichkeit der Presse gegenüber, im Gegenteil; jedenfalls hat Paul Lindaus Spott über die «Familie Selicke» unsern Verfasser über Gebühr in Harnisch gejagt, und überhaupt verweigere ich jeder Nachricht, als ob es einem Dichter gleichgültig wäre, wie man über sein Werk urteile, einfach den Glauben, selbst wenn es sich um einen Namen von europäischer Berühmtheit handelte.

Eine zweite Entdeckung knüpfte sich an die Enthüllung des wahren Autornamens. Für «Papa Hamlet» hatte Arno Holz sich eines Mitarbeiters von seltenem Schlage bedient, eines wahren zweiten Ichs in fremdem Leibe, namens Johannes Schlaf. Wir sind zwar durch die Franzosen längst daran gewöhnt worden, daß zwei Literaten sich behufs eines gemeinsamen Werkes zusammentun; für das Theater bildet dergleichen in Frankreich sogar die Regel, im Gebiete der Novelle liefern die Erckmann-Chatrian ein berühmtes Beispiel (freilich auch dafür, wie man nach langem Zusammenwirken bösartig auseinandergeraten kann). In Deutschland dagegen mißglückten bisher die meisten Versuche, diesen Brauch nachzuahmen, sogar mit einer oder zwei Ausnahmen für Theaterstücke; in der deutschen Belletristik steht der Fall Hedrich-Meißner als abschreckendes Exempel da. Also schon rein äußerlich betrachtet, bedeutet die literarische Firma Holz-Schlaf eine Rarität; noch seltsamer erscheint das Phänomen durch die Art des Zusammenarbeitens. In Frankreich und wo sonst ein Kompagniedichten stattfindet, verteilt man zum vornherein die Gebiete der Arbeit; der eine liefert die Wolle, der andere spinnt sie. Zwischen Arno Holz und Johannes Schlaf dagegen besteht nach der eigenen Schilderung des einen dieser beiden eine wahre Zweieinigkeit des Fühlens, Denkens und Schaffens. In einem Briefe an das «Magazin für die Literatur des In- und Auslandes», datiert vom 1. November 1889, beschreibt dieselbe Arnold Holz folgendermaßen:

«Eine langjährige Freundschaft, verstärkt durch ein fast ebenso langes, nahestes Zusammenleben, und gewiß auch nicht in letzter Linie beeinflußt durch gewisse ähnliche Naturanlagen, hat unsere Individualitäten, wenigstens in rein künstlerischen Beziehungen, nach und nach geradezu kongruent werden lassen! Wir kennen nach dieser Richtung hin kaum eine Frage, und sei sie auch scheinbar noch so minimaler Natur, in der wir auseinandergingen. Unsere Methoden im Erfassen und Wiedergeben des Erfaßten sind mit der Zeit die vollständig gleichen geworden. Es gibt Stellen, ja ganze Seiten im ‹Papa Hamlet›, von denen wir uns absolut keine Rechenschaft mehr abzulegen vermöchten, ob die ursprüngliche Idee zu ihnen dem einen, die nachträgliche Form aber dem anderen angehört, oder umgekehrt. Oft flossen uns dieselben Worte desselben Satzes gleichzeitig in die Feder, oft vollendete der eine den eben angefangenen Satz des anderen. Wir könnten so vielleicht sagen, wir hätten uns das Buch gegenseitig ‹erzählt‹; wir haben es uns einander ausgemalt, immer deutlicher, bis es endlich auf dem Papier stand. Uns nun nachträglich sagen zu wollen, das gehört dir und das dem anderen, liegt uns ebenso fern, als es in den weitaus meisten Fällen auch tatsächlich kaum mehr zu ermitteln wäre.»

Das Innigkeitsverhältnis des gemeinsamen Schaffens fand nun auch bei dem neuesten Werke der beiden Verfasser statt, bei der «Familie Selicke», das uns vor einigen Wochen zur Besprechung zugesandt wurde und das mittlerweile durch die Aufführung an der Berliner «Freien Bühne» am letzten Ostermontag das ganze Interesse der Aktualität und Novität gewonnen hat. Arno Holz gehört, beiläufig gesagt, zu den Vorstehern jenes Instituts, wahrscheinlich Johannes Schlaf ebenfalls. Die Aufführung erzielte, wie ich nach Vergleichung der freundlichen und feindlichen Berichte schließen muß, einen bedenklich fraglichen Erfolg, was freilich für den Wert eines Theaterstückes noch nicht viel entscheidet. Die Autoren wurden von ihren Anhängern hervorgerufen, von den Gegnern ausgepfiffen, das Werk erfuhr Angriffe und Spott von den einen, Verteidigung, wenn auch eine ziemlich kleinlaute, von den andern. Der Prozeß dauert noch fort, das Stück wird noch immer gezerrt und gezaust, eine begründete und eingehende Kritik ist mir noch nicht zu Gesicht gekommen. Die prinzipielle Besonderheit des Standpunktes, auf welchen die Verfasser sich stellen, verbunden mit dem Ernst und dem Talent, die sich nach aller Urteil in der Arbeit offenbaren, lassen mich eine solche Kritik versuchen. Ein Stück, welches zum Beispiel von Neumann-Hofer (in der neuesten Nummer des «Magazins für die Literatur des In- und Auslandes») als eine wahre Reinkultur des vorgeschrittensten Realismus, zudem als typisch für die Geistesart der Herren von der «Freien Bühne» bezeichnet wird, besitzt jedenfalls symptomatische Wichtigkeit.

 

Wenn es sich für den Schriftsteller schickt, das Fundament seines Schaffens zu kennen und zu bekennen, so muß umgekehrt der Kritiker jeden fremden Standpunkt annehmen; er darf zwar gewiß seine Bedenken gegen denselben äußern und seine diesbezüglichen Warnungen aussprechen, allein darum noch keineswegs das Urteil über ein gegebenes Werk von seinem eigenen Sehwinkel aus fällen. Er muß vielmehr, will er anders über das Können und das Talent, die in dem Werke entwickelt werden, eine wahrhaftige Anschauung gewinnen, den Stoff und das Kunstziel des Verfassers unangetastet lassen. Das Gegenteil ergibt eine doktrinäre Kritik.

Obschon ich also für meinen Teil weder mit dem Stoff noch mit den literarischen Grundsätzen noch mit dem Stil der «Familie Selicke» sympathisiere, werde ich, um mir eine feste Überzeugung über die Baukunst der beiden Verfasser zu bilden, mich auf ihren steinigen Boden stellen müssen.

Die «Familie Selicke» will nach den Gesetzen des Realismus einen Abschnitt des natürlichen Lebens tale quäle auf die Bühne bringen. Das ist eine Aufgabe wie eine andere, wenn auch, wie wir Idealisten glauben, eine niedrige. Jedenfalls steht sie höher als das Ziel, mit vorhandenen Schablonenfiguren nach pfiffigen Mätzchen ein zugfähiges Theaterstück zu fabrizieren; wie ich denn gerne gestehe, daß ich diesem Versuch ein ungleich regeres Interesse entgegengebracht habe, als ich das einer Novität der Franzosen oder ihrer deutschen Nachahmer gegenüber zu tun pflege. Es wird sich nur fragen, was für ein Stück Leben die Verfasser sich ausgewählt haben, ferner, ob sie dasselbe treu darstellten, drittens, was für erfreuliche Dinge sie etwa daraus gewannen und was für Talente sie dabei bekundeten, und zu allerletzt, wie sich das alles auf dem Theater ausnehmen muß.

Behufs Beantwortung der ersten Frage ist eine summarische Wiedergabe des Inhaltes unentbehrlich. Eine arme, in jeder Beziehung verkommene Familie steht im Begriff, Weihnachten zu feiern; der Vater sitzt im Wirtshaus, die Seinigen erwarten ihn umsonst; die Mutter, eine unfähige Märtyrerin, schimpft und klagt; der ältere Sohn, ein ekelhafter blasierter Taugenichts, macht sich unnütz; der kleinere, eine breiige, klebrige, sentimentale Persönlichkeit, vermehrt den Jammer; das Töchterchen, ein gutartiges Kind, liegt im Sterben; die erwachsene Tochter hält alles durch ihre mutige und hochherzige Persönlichkeit notdürftig zusammen. Im Verlauf des Stückes kehrt der Vater heim, kompliziert das Elend durch sein täppisches und rohes Benehmen; mitten in dem Streit stirbt das Kind; die Tochter opfert sich abermals auf, indem sie, um ihre Eltern zusammenzuhalten, im Hause bleibt, statt einen von ihr geliebten Kandidaten der Theologie zu heiraten.

Was sollen wir nun hiezu sagen? «Eine unerfreuliche, peinliche Handlung!» Das ist kein Urteil, denn Trauerspiele sind meistens unerfreulich und peinlich. «Eine miserable Gesellschaft, die ins Spital oder ins Korrektionshaus gehört!» Auch das ist kein stichhaltiger Vorwurf, denn die Gesellschaft des Trauerspiels gehört meistens nicht bloß ins Korrektionshaus, sondern ins Zuchthaus. Zudem stellt die Tochter für sich allein ein solches kondensiertes Präparat der Tugend dar, daß man mit ihr bequem fünf Akte zu süßen vermöchte, geschweige denn drei. Zu der Tochter aber kommt noch das gute sterbende Kind, ferner der biedere alte Hausfreund Kopelke. Auch der Tadel, es fehle dem Stoff an Handlung, trifft nur halb zu. Der Tod eines Menschen, der Ruin einer ganzen Familie, die verzweifelten Versuche eines Kindes zur Versöhnung streitender Eltern, das Liebesbekenntnis und die Verlobung der Heldin, gefolgt von der Auflösung des Verlobungsverhältnisses, ist für die Poesie mehr als genug der Handlung. Ob auch für Drama und Theater, ist eine andere Frage. Ganz und gar ungerecht, weil einfach unwahr, sind die Bezeichnungen «ekelhaft» und «stinkend», die hinsichtlich dieses Stoffes und seiner Darstellung in der Presse gefallen sind; denn es kommt kein unflätiges Wort in dem ganzen Stücke vor. Was aber die Roheit der Ausdrücke betrifft, so sind wir in den Dramen der Alten noch ganz anderen Dingen dieser Art begegnet als bei der «Familie Selicke».

Gewiß, die Wahl des Stoffes ist verfehlt, aber aus einem ganz andern Grunde als dem von den Gegnern behaupteten; er ist verfehlt, nicht weil er zu «unerquicklich» oder «gemein» wäre, sondern weil er zu sentimental ist. Arno Holz und Johannes Schlaf haben gegen ihren Willen und gegen ihre Grundsätze ein theatralisches Rührstück geschaffen, welches darum, daß es in realistischer Manier ausgearbeitet ist, nicht weniger Rührstück bleibt. Rührstück aber will nicht sagen, die Rührung sei in einem Werke unecht, sondern sie sei mit wohlfeilen Mitteln aufdringlich aufgetragen. Wohlfeil nun ist in der «Familie Selicke» vor allem die Weihnachtssituation, würdig der ersten besten Modezeitung, wohlfeil ferner das Glockengebimmel hinter den Kulissen, wohlfeil ebenso das während dreier Akte hindurch fortwährend sterbende Kind, wohlfeil endlich die übertugendhafte Tochter. Der Realismus der Herren Verfasser hatte, wie es scheint, nicht den Mut oder nicht die Kraft oder nicht den Geschmack, dem Verführungsblick einer solchen ‹Birchpfeiferei›, die sie bei andern so streng verdammen, selber zu widerstehen; sie verfahren realistisch nur in der stilistischen Ausführung; dagegen in der szenischen Erfindung erweisen sie sich so melodramatisch als nur möglich.

Über die Charakteristik läßt sich streiten wie immer. Die gemütlich-komische Nebenfigur des Kopelke ist jedenfalls gelungen, ebenfalls wie immer; dergleichen beweist noch keine besondere Kunst. Gegen den Selicke und seine Frau, gegen die beiden Rangen, gegen das sterbende Kind läßt sich schwerlich etwas einwenden. Die Tochter ist im ersten Akt meisterhaft aufgebaut, eine Figur, welche weit über das Gewöhnliche emporragt, die schwere Aufgabe, Natur, persönlichen Charakter und Glaubwürdigkeit in die Tugend zu bringen, glanzvoll löst und überhaupt den Wunsch erregt, sie auf der Bühne lebendig zu schauen. Später fällt sie ab, und ihr Schlußopfer riecht mehr nach einem letzten Akt als nach der Natur. Der Kandidat endlich muß wohl als verfehlt gelten, da er sich weder in seinem Benehmen noch in seiner Sprache von einem Gipserlehrling unterscheidet.

Sehr bedeutend sind die Einzelschönheiten und die Einzelkunstbetätigungen in dem Stücke. Zunächst darf man die Kunst, sämtliche Menschen fortlaufend so natürlich reden zu lassen, wie das im wirklichen Leben geschieht, ja nicht unterschätzen. Das ist allerdings bis zu einem gewissen Grade eine bloße Photographie oder Phonographie; aber man versuche nur einmal, eine solche Photographie herzustellen! Sie gelingt nicht dem ersten besten. Auch in diesem Kunstgebiet gibt es wie in jedem andern allerlei Klippen; und der Pfuscher scheidet sich von dem Meister so gut wie anderswo. Hier aber bewähren sich unsere Verfasser als Meister. Gewisse kleine Erfindungen (‹Beobachtungen› nenne ich das mit Vorbedacht nicht), wie diese, auf Fragen die Antwort erst nachträglich, nach weit abliegenden Zwischensätzen zu geben oder diese, daß das sterbende Kind plötzlich ruft: «Nicht wahr, Lieschen Ehlus ist dumm?» kommen einem nicht aus dem Gedächtnis in den Mund geflogen. Namentlich das Tun und Sprechen der Tochter im ersten Akt ist von überwältigender Stilwahrheit; zum Beispiel wie sie sogleich nach ihrem Eintritt zu arbeiten beginnt oder wenn sie ihrem Geliebten zwar die längste Zeit ein lächelndes Gesicht und eine mutige Besinnung bietet, aber bei der Frage, ob sie ihm folgen wolle, plötzlich in Tränen ausbricht, ohne ein anderes Wort als: «Ach». Eine vorzügliche Vorstudie des Stils ist der Realismus der Sprache, wenn er, wie hier, ernst gehandhabt wird, ohne Zweifel. Der ganze Dialog ist, beiläufig gemeldet, im abscheulichen Berliner Dialekt abgefaßt. Hierüber ließe sich vieles in zustimmendem wie in verneinendem Sinn bemerken, namentlich aber in verneinendem.

Es bleibt noch übrig, die theatralische Wirkungsfähigkeit des Stückes erratend zu prüfen. Selbst die Freunde der Verfasser haben zugegeben, daß es hier entmutigend hapert. Mir scheint beinahe, sie haben zuviel zugegeben. Denn die eine Hälfte, die schlechtere, ist nicht bloß theatralisch, sondern allzu theatralisch geraten, die andere aber, die bessere, muß bei tüchtiger Aufführung nach meiner Überzeugung sogar durchschlagen, namentlich der Schluß des ersten Aktes. Daß die Handlung nicht ‹dramatisch› ist, das will sagen, sich nicht zielmäßig von innen entwickelt, würde noch nichts gegen die Theaterwirksamkeit beweisen. Fatal jedoch mußte dem Stücke die Klebrigkeit der Szene und des Dialogs werden. Nämlich das ganze Stück bildet eigentlich eine einzige Szene, welche unnützer-, ja schädlicherweise hinter den Höhepunkten der Rührung durch den Vorhang zweimal zerschnitten wird. Noch schlimmer: der erste Akt beginnt damit, daß man den Vater vergeblich erwartet, der zweite damit, daß er noch immer vergeblich erwartet wird. Der Begriff ‹noch› aber ist überhaupt ein gefährlicher; denn die Langeweile führt ihn im Wappen. Die Verfasser haben offenbar übersehen, daß der chronologische oder vielmehr der horologische Fortschritt von sechs Stunden auf dem Theater, wo der Gesichtssinn die Oberherrschaft hat, gleich Null wirkt. Ähnlich verhält es sich mit dem Anfang des letzten Aktes. Von der völligen Unerfahrenheit und Naivität der Verfasser in Hinsicht auf Bühnenwirksamkeit sprechen am deutlichsten mehrere kleine Züge in den umklammerten Anweisungen für den Schauspieler; zum Beispiel der, daß sie allen Ernstes einmal vorschreiben, das Licht, das durch eine Spalte der Bühnenwand angeblich leuchtet, solle jetzt verlöschen!

Auf den wirklichen oder vermeintlichen untheatralischen Charakter des Stückes lege ich übrigens das allergeringste Gewicht. Es hat noch kein pfiffiger Mensch, und wäre er noch so prosaisch und hohl und unselbständig, die Bühnentechnik verfehlt, wenn er sichs einige Zeit und Aufmerksamkeit und Beobachtung kosten ließ, wohl aber mancher vornehme Dichter. Wenn einer nur an diesem Gliede krankt, so kann er nichtsdestoweniger einmal ein großer Dramatiker werden; der andere dagegen wird es jedenfalls nie. Es ist daher leicht möglich, daß angesichts unserer gegenwärtigen Theaterverhältnisse der Weg, sich so wenig als möglich um die ‹Bühnentechnik› zu kümmern, noch der einzige ist, welcher unter günstigen Umständen zu einem literarisch wertvollen Drama führt. Mögen daher andere den Verfassern raten, nach ihrem ersten Mißerfolg unter das Kreuz Sardous zu kriechen. Ich rate ihnen im Gegenteil, vor allem ganz zu sein, das heißt: wenn sie doch einmal dem Realismus huldigen, auch die letzten Spuren der dramaturgischen und bühnentechnischen Schablone auszumerzen. Warum lassen sie mich zum Beispiel voraussehen, daß der Kandidat und der Kopelke im letzten Akt wieder erscheinen werden? Gehört das nicht zum überwundenen Trödel?

Ich meine das durchaus nicht mephistophelisch; ich glaube wirklich, jeder solle seine Prinzipien konsequent durchführen, zur Förderung eigener und fremder Erkenntnis. Fällt dabei auch ein Werk unter den Tisch, so hat es sich wenigstens für spätere geopfert. Realistische Dramen, mit ebensoviel Ernst und Talent ausgearbeitet wie das vorliegende und mit noch größerer Konsequenz angepackt, werden ohne Zweifel mit der Zeit die Theaterluft von dem schmählichen Götzendienst der Bühnentechnik reinigen; hernach wird dann vielleicht nach langer Zeit wieder der verspottete Dichter dort oben Platz finden, vorausgesetzt, daß dannzumal zufällig Dichter vorhanden sind. Einstweilen begrüße ich die Konfusion, welche der Realismus unter den orthodoxen Dramaturgen anrichtet, mit unverhohlener Schadenfreude. Denn es ist immer ein Gewinn, wenn neben der Skylla auch eine Charybdis gurgelt; man hat dann doch wenigstens eine Auswahl.


 << zurück weiter >>