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«Die weiße Dame»

Wenn die «Weiße Dame» in einem deutschen Theater das Publikum zahlreicher als gewöhnlich herbeilockt, dann können wir mit Sicherheit darauf schließen, daß echtes Vergnügen an dieser reizenden Oper der Beweggrund ist, da uns keine überwältigende Ehrfurcht zu Boieldieu verpflichtet; würden uns seine Werke ermüden, so dürften wir es uns gestehen. Wir genießen aber die «Weiße Dame» wie einen Jungbrunnen, in welchem sich alle unsere Seelenkräfte erfrischen. Wollen wir nun unserem Bewußtsein Rechenschaft darüber ablegen, was uns an dem kleinen Meisterwerk immer von neuem entzückt, so werden wir drei Hauptquellen des Genusses anführen. Vor allem das Genie des Komponisten, der die Vollendung bis zu jenem Grade besitzt, welche die Naivität zur Folge hat. Dieses Jauchzen des Gesanges in Oktaven, Terzen, Sexten und Dezimen, diese Spürkraft für die allereinfachsten Motive, dieses Schwelgen in den elementarsten Klängen bedeutet im Grunde ein Wagnis; denn mit so wohlfeilen Mitteln getraut sich bloß derjenige zu wirken, welcher zugleich über die höchste Kunst verfügt. Und die höchste Kunst beweist Boieldieu in der «Weißen Dame» durch das nachhaltige Feuer des Tempos, durch die selbständige Behandlung der Einzelstimmen in den Terzetten, durch die Leichtigkeit in der Ausnützung der Chöre, durch den meisterhaften, klaren Bau der Ouvertüre, durch die Sicherheit der Instrumentierung. Um bei einer solchen gewaltigen technischen Ausrüstung das Streben nach höchster Einfachheit zu finden, bedarf es einer besonders glücklichen Seelenstimmung; und diese schöpfte der Komponist aus einer unsagbaren lyrischen Innigkeit, welche die ganze Partitur verklärt. Die «Weiße Dame» ist eine Elegie über Jugend und Heimat, stilvoll zu Anfang und zu Ende durch unbeschreiblich süß klingende Chöre eingerahmt; selbst die Geistererscheinungen müssen sich dieser Stimmung fügen; statt mit gespenstigen Septimenakkorden naht die weiße Frau mit weicher Hornbegleitung. Nun müssen wir uns vor Übertreibung hüten, und ein Seitenblick von dem ‹französischen Mozart› auf den andern, echten, wird uns hievor schützen. Eine reichere Modulation und Figuration, eine kühnere Instrumentierung, eine größere Melodienführung würde keineswegs geschadet haben; auch erstreckt sich die ewige Jugend des Ganzen nicht bis auf jede Einzelheit; die Abschlüsse der Arien, vor allem derjenige des schönen Liedes «Holde Dame», sind zu lang und nichtssagend, eine gewisse Monotonie im Wohllaut darf nicht als Tugend gelten, und die Koloraturarie der Anna im zweiten Akt ist so frostig und veraltet wie irgendeine; wir sind indessen durch die Kunst und das Gemüt des Komponisten in der «Weißen Dame» so günstig gestimmt, daß wir dergleichen gerne mit in Kauf nehmen.

Dazu kommt nun noch das zweite köstliche Element, die Anmut des Textbuches. Eine seltene Güte und Reinheit, verbunden mit dem ausgesuchtesten szenischen Geschick, belebt die Handlung. Vor allem die weiße Frau selbst, unverkennbar eine Schwester des Asmodeus in «Teufels Anteil», was ist sie für eine gewinnende Figur mit ihrem zugleich stolzen und guten Charakter! Und dann der fröhliche Leutnant, ebenfalls ein Verwandter des kecken Abenteurers in «Teufels Anteil»! Und die neckische, liebenswürdige Jenny Dikson! Das natürliche Eingreifen des Chors in die Handlung kann sogar als mustergültig gelten. Einzig der läppische Bauer, diese unleidliche Stereotypengestalt der ältern Oper, verrät die Schablone. Was für ein Segen, wenn der deutsche Mozart einen deutschen Scribe zur Seite gehabt hätte!

Die dritte und seltenste Vergünstigung bildet endlich die Kongenialität des Librettisten und des Komponisten. Scribe hat nacheinander die größten musikalischen Meister inspiriert; Auber und Meyerbeer verdanken seiner Anregung ihren Weltruhm, und Halévy schwang sich durch seine Vermittlung ein einziges Mal zur Größe empor. Allein so geistesverwandt wie Boieldieu war ihm später keiner mehr; und eben deshalb, wir meinen wegen dieses Zusammenwirkens einer doppelten Naivität, Gutartigkeit und technischen Vollkommenheit verlassen wir eine Vorstellung der «Weißen Dame» mit jener gereinigten Seelenstimmung, als wären wir soeben Zeugen und Mithelfer einer edlen Handlung gewesen.


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