Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

«Die Regimentstochter»

Gibt es ‹Jugendzeiten› im Leben der Völker und in der Entwicklung des europäischen Geistes? Wenn ja, dann gehört die «Regimentstochter» in das Backfischalter und hat mit dem letztern den unvergleichlichen Reiz der Naivität. Dem Umfange nach zählt man die «Regimentstochter» zu den kleinen Opern. Zwischen den kleinen Opern aber walten bedeutende Unterschiede. Es gibt derselben einige, die durch die unmittelbare Aneinanderrückung einer Fülle von bezaubernden Melodien gewinnen und nebenher an innerem Feuer den pompösen Opern wenig nachgeben, also Kleinodien im wahren Sinn. Andere wiederum bekunden trotz der Anmut ihrer Melodien eine Mattigkeit, welche von vornherein jede Hoffnung auf irgend etwas Bedeutendes niederschlägt. Typisch für die erste Gattung sind die Opern Aubers (die «Stumme» natürlich ausgenommen), namentlich «Fra Diavolo»; für die zweite Gattung «Martha» oder «Undine». Donizetti schweift in beiden Gebieten hin und wieder. Wenn «Elisir d'amore» uns durch Geist und Witz der Erfindung trotz einem «Fra Diavolo» entzückt, so gähnt uns «Linda di Chamounix» mit idyllischer Langeweile an, welche durch das fortwährende Harfengekneip nur gereizt, nicht aber gehoben wird. Etwas Altväterliches oder Großmütterliches beweisen übrigens selbst seine großen Opern; in denselben ist es Donizetti nicht geglückt, mit einem großen Schwung über sich selbst hinaus ins Hochdramatische zu springen, wie das Bellini in der «Norma», Rossini im «Tell» und Auber in der «Stummen» so überraschend gelang. «Lucia» und «Favorita» tragen bei all ihrem Zauber das Gepräge einer Namenstagsmusik, und nicht selten wird die gewollte Größe durch Prätention (zum Beispiel in den nicht enden wollenden Abschlüssen der Arien) ersetzt. Die «Regimentstochter» ihrerseits ist ein Unikum; so bescheiden wie möglich und doch so reich und liebreizend, daß man ihr einige Viertelstunden Unsterblichkeit voraussagen kann; nach menschlicher Uhr berechnet, heißt das ungefähr fünfzig, höchstens achtzig Jahre. Der Stoff kommt uns heutzutage etwas fade vor; das sentimentale und in seinen Ansprüchen an Geist genügsame Zeitalter Scribes ist dahin, und die ‹Väter› der «Regimentstochter», deren Unsumme noch durch beständige Wiederholungen des Witzes multipliziert wird, erregen nur mehr unser Achselzucken. Auch die allzu aufdringliche, unfeine Kondeszendenz an den Militärenthusiasmus eines hauptstädtischen Publikums, das in seine Garden verliebt ist, stößt uns eher ab. Europa hat jetzt Säbel und Gewehre und Tornister par-dessus le dos, das heißt mehr als ihm lieb ist, und die Last, welche dergleichen Geräte fühlbar macht, läßt unser Herz beim Anblick gefärbter Hosen nicht besonders hoch hüpfen. Dagegen gehört die musikalische Erfindung zu dem Schönsten, was im Gebiet der Melodie je geleistet worden ist. Zweierlei Arten der Melodie sind in der «Regimentstochter» zu unterscheiden: die eine ist militärisch-französischer Natur, das heißt, sie nähert sich mehr oder weniger dem Marsch und wirkt vornehmlich durch den Rhythmus. Das Vaterlandslied (As-Dur; Dreiviertel) und das Finale der Ouvertüre bieten wahre Musterproben dieser Gattung und zugleich eine Quelle unversiegbaren Vergnügens. Die andere Melodienreihe schöpft aus dem Born italienischer Schönheit, und zwar der klarsten, köstlichsten Schönheit. Wir erinnern nur an jene unvergleichlichen Larghetti mit Fagott- und Oboenbegleitung, welche das Herzensgeheimnis Donizettis sind und die ihm Spätere vergebens nachzuahmen versuchten. In allen seinen Opern streut er dieselben ein, so einfach, so gleichartig und doch jedesmal wieder so neu und ergreifend. Die Romanze (F-Moll; Sechsachtel) der «Regimentstochter» bildet hievon eine ganz besonders wertvolle Probe. Kurz, die Oper wurde zur guten Stunde, das heißt zur Stunde des Gemüts komponiert, darum bleibt sie auch den Menschen, wenigstens den Menschenkindern, lieb. Gemein ist fast einzig das Andante in F-Dur (Dreiviertel) am Schluß des Stückes. Doch hier dürfen wir sagen: Einmal ist keinmal.


 << zurück weiter >>