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Isabelle Kaiser

Zu ihrem fünfzigsten Geburtstag

In Isabellens Bannkreis wundert man sich nicht über Wunder. Aber daß sie von den Toten auferstehen kann, hat selbst ihre gläubigsten Anhänger freudig überrascht. Ich saß vor einigen Jahren in Braunschweig mit Wilhelm Raabe zusammen, als er mir plötzlich mitteilte: «Wissen Sie auch, daß Isabelle Kaiser diesen Nachmittag gestorben ist?» Die Nachricht war glücklicherweise falsch, sie war nicht gestorben; aber im Todeskampf lag sie, schon ohne Bewußtsein, in den letzten Zügen, der Arzt gab ihr nur noch wenige Minuten zu leben. Schon früher lag sie einmal auf dem Sterbebett, damals in Leysin, wo ihr das ergreifende Gedicht entquoll: «Wer von den beiden wird früher bei mir ankommen, der Freund oder der Tod?»

Die ganze Isabelle ist eben ein Phänomen. In jeder Beziehung. Ihre faszinierende Persönlichkeit, welche die Frauen nicht minder bezaubert als die Männer, der Reichtum ihrer Talente, der ihr ermöglicht, alles, was sie angreift, spielend zu können (unter anderm die Musik), der heldenstarke Charakter, kraft dessen sie stündliche Bereitschaft zum Sterben mit frohem, fast keckem Lebensmut verbindet und den die grausamsten Schmerzen nicht niederzwingen, ihr weitspannender, elastischer Geist, der ebensogut zu plaudern und zu scherzen vermag, wie in die höchsten Regionen augenblicklich aufzufliegen, der bald durch dichterisch-kindliche Naivität, bald durch Weltklugheit und Witz überrascht, ihr großes, gutes Herz, das ihr in allen Weltgegenden Freunde gewinnt und ihre Feinde entwaffnet, das keinen Harm, keinen Arg kennt, das niemand etwas nachträgt, das alle Kränkungen spurlos verzeiht, endlich, der Urquell ihres Wesens, die Wurzel aller ihrer Vorzüge, das Phänomen der Phänomene, ihre siegreiche, stündlich überströmende, alle Sorgen und Plagen des Alltags wegschwemmende Seele. Als ob sie ewig in einer höheren Atmosphäre lebte als andere Menschenkinder.

Phänomenal wirkt auf mich auch ihre Poesie. Nicht etwa durch ihre scheinbare, rein äußerliche Zweisprachigkeit. In meiner Vorstellung und nach meinem Urteil gehört Isabelle Kaiser klar und einfach zu den Dichtern der romanischen Schweiz. Denn auch da, wo sie in deutscher Sprache auftritt, offenbaren sich Merkmale romanischer Gefühls-, Denk- und Sprachweise. Sondern durch die Wucht des poetischen Dranges, der gebieterisch die Aussprache verlangt, durch die schwungvolle Gebärde des Gedankens und des Rhythmus, durch die stolze Pracht der Vergleiche, durch den lauttönenden Klang des Wortes und des Reimes. Wie uns Schubert selbst in seinen nachlässigsten Stücklein mitunter zu bewunderndem Seufzen zwingt, so geschieht es mir, daß ich oft mitten in einer minder bedeutenden Probe von Isabellens Poesie plötzlich mit dem Fuß stampfe: «Donnerwetter, solch eine Wendung findet doch einzig in der Welt Isabelle!» Poesie verspart Isabelle übrigens nicht auf ihre Bücher, sie trägt sie immer mit sich herum, nur auf den Anlaß gespannt, wo sie hervorbrechen könne. Daher ihre fabelhafte Kunst des Improvisierens. Etwas Ähnliches ist mir noch nicht vorgekommen. Wohlverstanden, es handelt sich bei diesen Improvisationen nicht etwa um niedliche Gedänklein in wohlklingenden Verschen, sondern um wahrhaftige seelenvolle Poesie, vom Geist geistreich geleitet. Wenn man ein Stöcklein in Honig taucht, so klebt nachher Honig daran; ebenso wird der geringfügigste Anlaß zu einer Improvisation von Isabelle flugs mit Seele und Poesie überzogen. Man hat wegen der ständigen Inspirationsbereitschaft und wegen des beredten, vergleichsfrohen Volltones der Sprache an der Echtheit und Tiefe der Gefühle in Isabellens Poesie zweifeln wollen. «Theatralisch», «oberflächlich», «äußerlich» und dergleichen Einwände. O welch ein Unverstand! Als ob tiefe Gefühle bloß zu stammeln vermöchten! Als ob nicht gerade die Tiefe der Gefühle eine ergreifend beredte Sprache mit Naturgewalt hervorbrächte! (Vorausgesetzt, daß der Sprechende überhaupt einer Sprache mächtig ist.) Der Irrtum, Beredtheit wäre ein Beweis von Untiefe und Unechtheit der Gefühle, verrate ‹theatralische›, ‹oberflächliche› Empfindung, ist so weit verbreitet, daß ich mir nicht versagen kann, ein überaus typisches Beispiel mitzuteilen: Ich hatte Isabelle Kaiser einen langjährigen Dank aufgespart dafür, daß sie mir während der lebensgefährlichen Erkrankung meines Kindes eine ganz außerordentliche, mich rührende und tröstende Teilnahme erwiesen. «Das nächste Mal, wo ich sie treffe», schwur ich mir, «werde ich ihr meinen Dank aussprechen.» Endlich nach Jahren bekam ich sie wieder zu Gesicht. In einem Gasthof war es; es gelang mir nicht, sie völlig zu isolieren, denn eine Fremde blieb beharrlich in der Nähe sitzen. «Ach was», sagte ich mir schließlich, «die soll mich nicht hindern, zu sagen, was ich Isabelle zu sagen habe.» Und sprach ihr also meinen wärmsten, aus tiefstem Herzen strömenden Dank aus. Nachher machte sich die fremde Dame an mich heran: «Verzeihen Sie, wenn ich mir als Unbekannte erlaube, eine Frage an Sie zu richten: Haben Sie, was Sie soeben Fräulein Kaiser sagten, auch wirklich gefühlt?» «Wie kommen Sie dazu, daran zu zweifeln?» «Es klang nämlich so schön, daß ich unmöglich glauben kann, es sei wahr gewesen.» Da haben wirs. So, wie ich damals in der Meinung jener Dame Komödie spielte, so ist Isabelle in ihrer Poesie vermeintlich «theatralisch».

Daß ich hier in diesen kurzen Zeilen Isabellens Bücher vornehmen sollte, wird wohl niemand erwarten. Immerhin möchte ich mir eine unmaßgebliche Orientierung erlauben. Nach meiner Meinung sind die unvergänglichen Werte ihrer Poesie in ihrer Lyrik, und zwar in der französisch geschriebenen, zu suchen. Eine Sammlung wie zum Beispiel «Le Jardin clos» ist ein Schatzkästlein. Ferner eine Warnung: Wer in Isabellens Werken zufällig auf unbedeutende Stellen gerät, lasse sich dadurch nicht irre machen. Isabelle hält es nämlich wie der reiche Paktolos, der in der nämlichen Woge Gold und Sand ans Ufer wirft. An euch, es zu erlesen!


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