Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Pfingstfest in Petersburg

Wenn wir am Pfingstsonntag in der Richtung nach Jekaterinenhof fahren, fällt uns zuerst die Menge der Polizeisoldaten auf, welche an den Brücken und Kreuzstraßen dutzendweise stationiert und in kleinern Posten überall am Wege hingestreut stehen. Dazwischen patrouillieren und galoppieren unaufhörlich die blauen Gendarmen, und die allmächtigen Polizeioffiziere sammeln sich zu flüsternden Gruppen, ein sicheres Zeichen, daß entweder eine allerhöchste Persönlichkeit erwartet oder eine Feierlichkeit in Szene gesetzt wird. In letzterm Falle ist die Polizei einzig dazu herbeordert, um die Ordnung aufrecht zu erhalten, und deshalb ist sie auch niemand unwillkommen, es sei denn dem nichtsnutzigen Iswostschik, welchen sie in gewisse Bahnen und Schranken zwingt.

Wer den Weg nach Jekaterinenhof nicht kennte, brauchte heute bloß der Polizei nachzugehen, er würde nicht irren; übrigens leitet uns auch die ungewöhnliche Masse des niedern Volkes, welches, in seinen schönsten Kleidern festlich aufgeputzt, vor uns her zieht. ‹Schwarzes Volk› kann man es heute unmöglich nennen, denn wir sehen alle Farben der Palette leuchten, gelb, blau, rot und rosa, am häufigsten immer rot, was uns bei einer Nation, die für ‹rot› und ‹schön› dasselbe Wort hat, nicht wundern darf. Übrigens wollen wir hierüber nicht lächeln, stammt doch unser ‹schön› auch von ‹scheinen›.

Am Jekaterinenhofpark angekommen, erblicken wir zunächst in der Mitte des Gartens auf der großen Landstraße zwei lange Reihen schöner Wagen mit prächtigen Pferden, wahren Rassentieren, eines herrlicher und graziöser als das andere, überdies geschmackvoll angeschirrt, ein Anblick, der allein schon unsere Fahrt belohnt. Ein Fremder würde schwören, daß er hier die vornehme Welt beisammen gefunden; aber er würde sich dadurch eines Meineids schuldig machen, denn alle diese glänzenden Equipagen, alle diese kostbaren Pferde gehören den feisten, reichen Kaufleuten, welche wir alle Tage im Kaftan hinter dem Ladentisch Tee schlürfen sehen. Auch heute hat der Kaufmann seine Nationaltracht nicht abgelegt; da sitzt er ja im Wagen mit seiner blauen Mütze, seinem blauen Rock und seinem stattlichen Bart, ein schöner Kerl! Neben ihm thront die Frau Kaufmann, herausgeputzt wie eine asiatische Prinzessin, mit Kostbarkeiten überladen, im übrigen nach europäischem Stil gekleidet. Sie bildet mit ihrem funkelnden und strahlenden Schmuck einen starken Kontrast zu ihrem einfachen Gemahl, ähnlich wie die Sonntagsjüdin zum Sonntagsjuden, und man ist geneigt, den Kerl, der neben ihr sitzt, für ihren Kutscher zu halten. Madame Kaufmann ist oft sehr hübsch, noch öfter ist es deren Töchterlein; Töchterlein hat große Augen und schönfarbige Lippen und Wangen, aber ihre Mienen sind leblos, und ihre ganze Person gleicht einer gemalten Wachsfigur oder einem flimmernden Heiligenbild. Zudem sitzt sie regungslos in den Wagen eingepflanzt, als wäre sie das Objekt einer Schaustellung. Und das ist sie im Grunde auch, denn der Papa fährt zu den Volksfesten, um mit seinen Pferden und seinen Weibern zu paradieren. Man sagt, daß diese Ausstellungen immer zahlreiche Heiraten nach sich ziehen. Das Töchterlein führt also aus der schönen, starren Maske heraus ihre Blicke lebhaft promenieren.

Haben wir uns an den Kauffahrteiwagen satt gesehen, und das mag geraume Zeit dauern, so ruft uns ein wildes Durcheinander von Musik und Gesang nach der weiten Wiese, wo sich die Masse des niedern Volkes belustigt. Bald kommen wir in das dichteste Gedränge, aber wir haben keinerlei Roheit zu befürchten; das schiebt sich alles lautlos oder ruhig sprechend durcheinander, und nirgends hören wir ein Gebrüll oder einen frechen Jauchzer; wir befinden uns in einem Haufen bärtiger Kinder und glattwangiger Kinderinnen. Dort aus dem Zentrum einer dichten Gruppe erschallt Blechmusik. «Was ist da zu sehen?» «Soldaten musizieren.» Und wirklich, es ist nichts anderes. Gehen wir weiter. Hier steht ein Gerüst, welches mit Menschen so dicht besetzt ist, daß, wenn einer stieße, alle herunterpurzeln müßten; unter dem Gerüste hält sich, Kopf an Kopf gedrängt, eine große Volksmasse still und andachtsvoll. Kinder und Halbwüchslinge sitzen auf den Schultern der Eltern. Da muß etwas Interessantes vorgehen! Laßt uns schauen! Vergebliche Mühe, wir dringen nicht durch! «Was gibts denn hier zu sehen?» «Soldaten singen.» Und richtig, jetzt gelingt es uns, durch ein Menschenpförtchen hindurch die verwitterten, pockennarbigen Gesichter zu erblicken, deren Haut mit Stiefelfarben gemalt zu sein scheint; wir verstehen auch einige Worte des Gesanges: «Wie herrlich ist 's Soldatenleben!» Gehen wir weiter. Aus einem weiten Kreise ertönt unbändiges Gelächter. «Was gibts denn da?» «Nationalspiele». Ein paar Schlingel turnen am Riesenschritt und purzeln übereinander. Ein neuer Kreis; wiederum ‹Nationalspiele›. Knaben amüsieren sich auf einem Schaukelbrett. Ein dritter Kreis, und zum dritten Male ‹Nationalspiele›. Bauern und Soldaten klettern an einer Stange empor. Wir haben nun genügend Nationalspiele genossen; wir bekommen jetzt als Sauce dazu auch Nationalmusik: vier Hausknechte spielen gleichzeitig Harmonika und suchen, indem sie sich gegenseitig das Gesicht zuwenden, einen Kreis zu bilden, denn ohne Kreis kein Vergnügen. Das Vergnügen ist in Rußland rund. Vergeblich, meine Lieben, die Quadratur des Zirkels werdet ihr nicht lösen! Was ist aber dort für ein gewaltiges Rund? Das muß viel Vergnügen enthalten! Etwas bewegt sich darin herum; wir vernehmen auch einen eigentümlichen, klagenden Kirchengesang. «Sagen Sie mir, Bruder, was tut man da?» «Man spaziert.» Das möchte ich doch wahrlich mit ansehen, wie ein Mensch tragödisch spaziert; lassen wir uns nicht verleiden, ein bißchen warten zu müssen. Jetzt sind wir vorn. Da wandelt langsam und gemessen ein Reigen von Männern und von Frauen aus dem Krämerstand, sie fassen sich aber nicht an der Hand, sondern am Taschentuch. Jeder hält einen Zipfel desselben zwischen den Fingern, und der Nachbar ergreift das andere Ende. So ziehen sie feierlich einher, bald paarweise, bald Männer und Weiber getrennt, bald in verschlungenen Figuren. In der Mitte steht der Chorführer, ein glattrasierter blauer Kaufmann, welcher die Prozession dirigiert. Jetzt hebt er die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Höhe, blickt bedeutsam um sich und singt langsam und mit klarer, wohlartikulierter Stimme eine Strophe her, indem er zugleich mit der Hand das Maß akzentuiert. Sobald er geendet, setzt er sich in Gang, ihm nach die Gemeinde, welche nun im Chor dieselbe Strophe wiederholt. Einen bessern Beweis für die Gutmütigkeit des russischen Volkes kann man kaum finden als diesen rührenden, harmlosen ‹Spaziergang›.

Während wir noch dastehen, kommt etwas des Weges daher, was wir vor der Volksmenge nicht erkennen können; aber ein Birkenzweig, der über den Köpfen in der Luft herumfuchtelt, belehrt uns bald, daß hier getanzt wird. Doch wir kennen schon den russischen Tanz, wir wissen, daß sein Wesen in gymnastischen Spreizübungen liegt, die in derjenigen Stellung ausgeführt werden, welche die schöne deutsche Turnsprache ‹Sitzhocken› nennt. Wir wollen uns also des Tanzes wegen nicht bemühen; gehen wir vielmehr nach einer andern Richtung, ob sich uns etwas Andersartiges zeigt. Aber wir müssen vorsichtig auftreten, denn schon liegt es um uns und unter uns im Gras: Männer, Frauen und Kinder. Der Branntwein hat gewirkt. Da legt ein Bauer seinen bärtigen Ziegenkopf auf seines Weibes Schoß, sucht ihr mit der Hand die Wangen zu streicheln, verfehlt aber das Ziel und läßt den Arm schwer auf das Gesicht des Kindes niedersinken; dadurch verliert er das Gleichgewicht und gleitet von dem Schoß zur Erde. Sorgsam hebt ihn die Frau Liebste wieder auf, bettet abermals das schwere Haupt auf ihr Knie, während das Töchterlein dem Papa die Mütze zurechtschiebt. Kaum ist er aber geborgen, so übermannt ihn die Zärtlichkeit von neuem; nochmals fegt sein Arm über seinem Weibe, und abermals rutscht derselbe auf die Nase des Kindes. Das könnte sich ins Unendliche wiederholen: wir ziehen weiter. Immer behutsam schreitend, damit wir nicht einen Kopf oder einen Leib zerquetschen, bemerken wir ein großes weißes Zelt, das sich zu drehen scheint und aus welchem eine der europaläufigen niederträchtigen Melodien, von einer kreischenden Orgel abgehaspelt, zu uns herübertönt. Das kann wahrlich nur ein Karussell sein; wenden wir uns davon ab. Aber was hebt sich nebenbei wie ein Mühlrad in die Höhe und sinkt jenseits schwerfällig wieder hinunter, ein wahres Ungetüm an Größe? Das ist gewiß die berühmte russische Schaukel; die müssen wir uns ansehen. Und wir haben uns nicht getäuscht; jetzt unterscheiden wir schon die Kästchen, aus denen Menschenköpfe hervorgucken. Dieser oberste Kopf muß einer dicken Köchin angehören, der nebenbei einem Soldaten; über dem untern Kasten schwebt eine blaue Mütze, da sitzt ein Krämer darin. Aber diese Köpfe verschwinden, und neue tauchen auf. Plötzlich stockt die Maschine. Die Kasten schwanken ein paarmal heftig vorwärts und rückwärts, dann stehen sie still. In dem obersten Verlies sitzt jetzt ein Liebespärchen. Er hält den Kopf weit hinausgebeugt und gestikuliert heftig mit den Armen, um sich bemerkbar zu machen; er hat es ja doch bezahlt. Sie aber knackt Nüsse wie ein Eichhörnchen und wirft die Schalen unbefangen auf die Köpfe des Volkes; dabei verzieht sie keine Miene, nur guckt sie ab und zu nach ihren Freundinnen, ob sie auch sehen, wie sie sich amüsiert. Da schwanken wiederum die Kasten verzweifelt hin und her, die Balken krächzen, und das Paar verschwindet in der Tiefe. Die Maschine ist in Gang gekommen.

Wir stellen uns nun so nahe als möglich und schauen eine gute Stunde zu; denn man kann nicht so bald daran sich satt sehen, wie jemand zufrieden ist. Das ist ein seltener und hoher Genuß. Dabei drängt sich uns aber die Frage auf, worauf wohl der Spaß dieses Schaukelns beruht, und wir überlegen, was man wohl bieten müßte, ehe sich unsereiner dieser Marter unterzöge. Diese Gedanken beschäftigten mich, als neben mir zwei Knaben sich zu streiten anfingen, weil der eine schaukeln wollte, während dem andern der Mut dazu fehlte. «So muß ich denn wegen deiner Feigheit um mein Vergnügen kommen, denn allein kann ich ja doch nicht fahren.» «Nun, so werde ich mich neben dich setzen», antwortete ich halb zum Scherz. Das Anerbieten wurde höchst bereitwillig aufgenommen, und da ich mir grundsätzlich nie erlaube, ein Versprechen, das ich einem Kinde gegeben, zurückzunehmen, mußte ich mich opfern. Allgemeine Freude entstand, als wir uns einsetzten, und nachdem ich einige Trinkgelder gegeben, ging es mit besonderem Eifer los. Erst treibt es uns rückwärts in die Höhe, ein abscheuliches Gefühl, das nur durch den Gedanken gemildert wird, daß uns noch das schlimmere Vornüberfallen bevorsteht; unterwegs schaute ich nach meinem kleinen Kameraden: er war bleich wie ein Tischtuch. «Halte dich fest und schließe die Augen!» Am Kulminationspunkt angekommen, kann man sich einer Herzbeklemmung nicht erwehren; das Gefühl, vornübergeworfen zu werden, läßt sich nicht wegräsonieren, und der Moment, da man zum ersten Mal in die Tiefe fällt, ist so unangenehm als möglich. Man wird hiebei an die vordere Wand geworfen, was die Illusion bedeutend verstärkt. «Und wenn der Käfig an der Axe anhielte und wir wie Krebse aus dem Topfe gestürzt würden?»

Übrigens haben wir nicht Zeit, unsere Betrachtungen länger fortzusetzen, denn wir fliegen, dank den Trinkgeldern, in rasender Geschwindigkeit ein dutzendmal herum. Plötzlich aber stockt der Schwung, als wir gerade oben schweben. Was ist geschehen? Nichts, der Maschinist knüpft eine Konversation an und läßt uns einstweilen über dem Abgrund hangen. Während des Gesprächs läßt er ab und zu ein wenig los, und wir fallen ein paar Schritte rückwärts; dann zieht er wieder an, und wir stürzen einige Ellen vornüber; endlich setzt der Mann seine Arbeit fort, und bald sind wir erlöst. Mein kleiner Kamerad nimmt dankend Abschied von mir, und wahrlich, er hat Ursache zu danken; ich aber finde die grünen, festen Wiesen anmutiger als je und entferne mich, um eine Erfahrung und ein gutes Gewissen reicher. «Mich wundert, daß Sie nicht seekrank geworden sind?» «Wahrhaftig, Sie haben recht; ich hatte nicht daran gedacht.»

Wir mögen noch ein Stündchen bei dem Fest verweilen, aber um neun Uhr ziehen wir langsam heim; die Sonne nähert sich dem Horizont, und zu Hause wartet der Tee.

In dichten Strömen flutet das Volk mit uns; aber die Ströme sind unregelmäßig, und die Fluten sind wacklig, denn der Geist des Alkohols hat sie erregt. Doch ertönt kein Gebrüll, kein Geschrei, kein roher Ruf. Friedlich und lautlos taumelt die Menge einher, und wenn einer auf uns fällt, nimmt er die Mütze ab, entschuldigt sich und sagt: «Verzeihen Sie, mein Herr, ich bin betrunken wie ein Schwein, darum kann ich nicht mehr geziemend gehen.» Sprichts, schwankt auf die Seite und fällt über unsern Nachbar.


 << zurück weiter >>