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Gottfried Kellers «Salander» im Spiegel der deutschen Kritik 1887

Als die «Deutsche Rundschau» zu Anfang des vorigen Jahres einen Roman von Gottfried Keller ankündigte, geriet die gesamte literarische Welt Deutschlands in freudige Aufregung. Den großen Novellisten einmal in dem weiten, bequemern Gewande eines Romanschriftstellers zu schauen, das war den Verehrern Kellers, welche die Elite des geistigen Deutschlands bilden, ein hoher Festtag.

Nicht ganz so einstimmig mehr lautete die Anerkennung, nachdem die ersten Nummern des Werkes in der genannten Zeitschrift erschienen waren. Es zeigte sich jetzt die merkwürdige, übrigens keineswegs unerwartete, sondern von vielen vorausgesagte Erscheinung, daß die Zeitschriftliteratur, welche, wie niemand mehr leugnet, gegenwärtig das Buch überflügelt hat, nachgerade ihre Spuren im Lesepublikum zurückgelassen, daß mit andern Worten ein wirklich originelles Werk einer bedeutenden Individualität unangenehm überraschte, vornehmlich, da das betreffende Werk seinerseits in einer Zeitschrift hervortrat. Vergebens suchte man alle Künste der Selbstbestechung, welche in Deutschland angesichts eines berühmten Namens sehr groß sind, hervor, um sich weiszumachen, daß einem «Salander» gefalle. Ein beängstigendes Gefühl bemächtigte sich der Verehrer des Dichters, und man durfte darauf gespannt sein, wie sich die Kritik demgemäß darüber äußern werde.

Nun, die Kritik hat ihres Amtes gewartet, wie sie es heutzutage zu tun pflegt: nämlich unfrei, unwahr und klug. Kein Mensch hat gewagt, seine wirkliche Ansicht auszusprechen; der Tadel, den man meinte, wurde so gedreht, bis der Tadel ins höchste Lob übersprang und womöglich noch zur Verunglimpfung andersartiger Meister diente. Und was Gottfried Keller selbst als einen bittern Kontrast empfinden muß und was ihm schwerlich zur Achtung der öffentlichen Meinung verhelfen wird: während seine ersten großen Meisterwerke, seine lyrischen Gedichte, seine Novellen («Romeo und Julia»), sein «Grüner Heinrich» dreißig, ja vierzig Jahre unbeachtet liegen blieben, ohne daß auch nur ein Mensch davon Notiz nahm, ohne daß dieselben während eines Dritteljahrhunderts eine zweite Auflage erlebten, stürzt jetzt, nachdem Keller ‹entdeckt› worden ist, die gesamte Kritik bataillonsweise im Laufschritt daher, um ein Werk in den Himmel zu heben, das ihr im Grunde höchlichst mißfällt und das allen ihren Lehren widerspricht.

Wir gehören persönlich zwar nicht zu den Kellerfanatikern, welche meinen, alle Poesie sei von nun an in Hottingen monopolisiert und alles, was nicht jenen Stempel trage, sei deshalb unwert oder minderwertig, und indem wir uns gegen diese leidige Einseitigkeit aussprechen, handeln wir im Sinne des Meisters selbst, der in seiner echten Künstlerseele das Schöne in seinem ganzen Umfang, in jeder Erscheinungsform und an jedem Ort innig liebt und herzlich anerkennt. Aber zu den Freunden der Kellerschen Poesie zählen wir uns, und «Martin Salander» hat uns keineswegs eine Enttäuschung bereitet, weil wir Keller niemals für einen unfehlbaren Propheten, sondern für einen Meister gehalten haben, also für einen Menschen, der neben hoher künstlerischer Vollkommenheit seine Eigentümlichkeiten hat, die deshalb nicht sämtlich unvergleichliche Tugenden zu sein brauchen. Keller ist, kurz gesagt, ein Romantiker der reichsten Phantasie, die er gemäß seiner Individualität in realistischer, lokalisierender Legierung offenbart. Jenes zweite Element nun, das wir keineswegs geringschätzen, das wir aber nicht für den poetischen Kern, sondern für eine, wenn auch organische, Hülle halten, wurde von der deutschen Lesewelt als das Nonplusultra aller Poesie ausposaunt, bis ihr schließlich Keller selbst in «Martin Salander» das Dementi erteilte. In diesem Roman tritt das Lokale und, sagen wir offen, das Außerpoetische (das Moralische, das Kernhafte, das Mannhafte und das Politisch-Patriotische) so sehr in den Vordergrund, daß sich die Frage nach dem Selbständigkeitswert dieser Legierung jedermann aufdrängte. Bei literarischer Ehrlichkeit würde man daraus allerlei haben lernen können. Statt dessen zieht man den Rückzug seiner Überzeugung angesichts eines nunmehr berühmten Namens vor.

Die schweizerische Kritik dagegen hat mit Recht den Akzent auf die sittlichen und spezifisch schweizerischen Momente des Buches gelegt, und hier, sowie in der Bemerkung, daß ein bedeutender Mensch in jedem seiner Werke erfreulich zu lesen ist und ein echter Meister überall interessant bleibt, stimmen wir mit ihr im Lobe des «Salander» überein.


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