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Adolf Freys Gedichte

Die gebührende Würdigung einer neuen und bedeutenden Erscheinung erfordert für jeden, der nicht durch zufällige Geistes- und Sinnesverwandtschaft vorbereitet ist, eine gewisse Zeit. Das Befremdende will erst überwunden sein, an die Eigentümlichkeiten muß man sich gewöhnen, und der Wert von Gedichten, welche sich nicht durch Klang einschmeicheln, hat sich vor der Erinnerung durch Unwillkürlichkeit und Nachhaltigkeit zu erproben. Unmittelbar nach dem Erscheinen des Buches (im Jahre 1886) äußerte sich die schweizerische Kritik einmütig dahin, daß dem Verfasser Auszeichnung unter den heimischen Lyrikern zukomme. Keller und Meyer erkannten in privaten, aber keineswegs zurückhaltenden Aussprüchen diesen Jünger als echt an; der literarische Leiter des «Bund» mit seinem ebenso feinen als weitherzigen Urteil begrüßte Freys Gedichte mit der größten Wärme: der einzige, der damals einige Vorbehalte formulierte, war derselbe, der heute diese Empfehlung schreibt. Mittlerweile hat sich mir nämlich der hohe Wert jener Gedichte durch die Erfahrung bestätigt. Erfahrung nenne ich hier, daß einem das Gelesene nicht aus dem Gedächtnis schwindet, daß einzelne Stücke einem fortwährend in der Seele leuchten, daß man sich in der Erinnerung immer mehr und mehr mit den Eigentümlichkeiten befreundet. Ich bin überzeugt, daß es jedem Leser ähnlich ergehen wird wie mir. Welche Bedenken man auch ursprünglich hegen mochte, kommt man auf das Buch zurück, so tut die Präzision des sprachlichen Ausdrucks und der poetischen Bilder ihre Wirkung. Ja die herbe, ungeschminkte Wahrheit wird einem schließlich so teuer, daß man bald die übliche Glätte nicht bloß nicht vermißt, sondern kaum mehr ertragen würde. Mit einem Wort: es weht von jenem Geist in den Blättern, welchen Deutschland an Kellers und Meyers Lyrik hochschätzt. Wie unbequem es nun auch sein mag, neben bekannten Namen neue hinzuzulernen, und wie sehr eine solche Notwendigkeit der Gewohnheit dilettantischen Rühmens widerstrebt, der Gewohnheit, alle zu berauben, um einen zu schmücken, so gebührt schließlich jedem Verdienst seine Ehre, und das Vergnügen an Freys Gedichten kann geradezu als Prüfstein für die Echtheit der Begeisterung an Kellers und Meyers verwandter Eigenart gelten.

An dieser Stelle eine Analyse oder auch nur eine Übersicht zu geben, geht nicht an; der Inhalt ist zu reich und zu vielseitig, um mit Andeutungen fürlieb zu nehmen. Allein für sich der erste Abschnitt («Gesichte»), obgleich er kaum mehr als den zwanzigsten Teil ausmacht, würde eine förmliche Abhandlung beanspruchen. Es ist eben alles bei Frey individualisiert, nicht häufchenweise zusammengedichtet, sondern einzeln gewachsen, gepflegt, gereift und eingeheimst. Das Ganze erscheint nicht als eine einmalige Ernte, sondern als ein durch jahrelange Arbeit erstelltes Kornmagazin, aus welchem das Stroh säuberlich entfernt worden ist.


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