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Mademoiselle Nolimetangere

Typus eines russischen Edelbackfisches

Passen Sie auf, daß Sie nicht zu nahe kommen! Denn das ist zart, das ist blumig, das ist aus lauter Wohlgezogenheit zusammengesetzt, und wo die Kenntnisse ein Plätzchen übrig gelassen, da hat es die Unschuld eingenommen.

Alles, was mütterliche Sorgfalt erdenken kann, das ist für Mademoiselle Nolimetangere geschehen. Von frühester Jugend an wurden französische, deutsche und englische Gouvernanten nicht gespart; sogar Lehrer kommen täglich ins Haus und erteilen Unterricht vor den Augen der Mama. Klavier wird jeden Abend zwei Stunden geübt, Tanzkurse im elterlichen Hause erhält Nolimetangere nun schon den sechsten Winter, kurz, Natalja Michajlowna, die gewissenhafte Mama, hat das Menschenmögliche getan und ihre Zeit, ihre Bequemlichkeit, ihre Vergnügungen, ihre Toilette, mit einem Wort alles und alles ihrer lieben Sonja zum Opfer gebracht.

Um den vielen wirklichen und vermeintlichen Übeln zu entgehen, welche die Erziehung in den adeligen ‹Stiften› (Staatspensionaten) mit sich bringt, hat Natalja Michajlowna ihr Töchterchen ganz zu Hause ausbilden lassen, und erst seit dem dreizehnten Jahr besucht Nolimetangere täglich eine ausgewählte Privatschule; um drei Uhr erwarten sie häusliche Privatstunden, und des Abends überwacht Mama die Aufgaben.

Im Sommer auf dem Lande gelten für Sonja keine Ferien wie für die Knaben; sie tut keinen Schritt, ohne daß eine französische Gouvernante vor und eine englische hinter ihr geht; die Instruktionen in den guten Sitten und Manieren aber erteilt Mama selbst; und sie ist es auch gar wohl imstande. Nolimetangere schläft mit Mama im selben Zimmer   denn Natalja Michajlowna ist Witwe, und sie legt ihren Stolz darein, einst dem Bräutigam sagen zu können, daß seine Braut seit dem zehnten Jahre ohne eine einzige Ausnahme immer unter den Flügeln ihrer Mutter geruht hat. Um dieses einen Satzes willen darf Nolimetangere auch keiner Einladung einer Freundin folgen.

Dabei wird die Sorge um die Gesundheit des Kleinods nicht außer acht gelassen; angemessene Erholung ist angeordnet, und bei Schnee und Regen begleitet Natalja Michajlowna ihr Töchterlein auf einem großen, anderthalb Stunden langen Spaziergang, so sauer es sie auch ankommen mag; denn Madame ist etwas korpulent und sehr bequem.

Und diese Erziehung hat auch wirklich Früchte getragen: Sonja ist ein gründlich gebildetes Mädchen geworden, und da sie schon von Natur ein gutes, liebes Kind war, so ist sie durch die mütterliche Pflege zu einer außerordentlich sittigen und bescheidenen Jungfrau herangewachsen. Der Umstand, daß sie zeitlebens nur mit gebildeten und wohlerzogenen Menschen zusammengekommen ist, indem sie von der ‹Welt› wie von dem ‹Pöbel› gleich fern gehalten wurde, hat ihrem ganzen Wesen eine eigentümliche Zartheit und Weichheit gegeben. Übrigens ist Nolimetangere sehr, sehr hübsch, von tief braunem Teint und rabenschwarzen Haaren und Augen; sie stammt eben, wie alles Gute in Rußland, aus dem Süden.

In die ‹Gesellschaft› kommt Sonja nie. Nur in ausgewählte befreundete Familien, wo Natalja Michajlowna sicher zu sein glaubt, daß kein Geck, kein gewissenloser Courmacher je auftaucht, wird Nolimetangere mitgenommen, und wenn sie da erscheint, dann ist es nicht, um gesehen, sondern um ignoriert zu werden.

Heben Sie ihre Blicke nicht zu ihr empor, denn nicht für Sie oder mich hat sie Mama so sorgfältig behütet; tun Sie überhaupt, als wäre sie nicht da, und vergessen Sie morgen, daß Sie ihr heute vorgestellt worden sind. Ist Sonja gesund, um so besser; wird sie krank, so fragen Sie nicht nach ihrem Befinden, denn sie ist nicht für Sie krank. Das alles überhebt Sie nicht der Pflicht, gegen Nolimetangere höflich und aufmerksam zu sein, wenn Sie zufällig mit ihr zusammentreffen. Glaubt man sich Ihres Taktes und Ihrer Diskretion, mit einem Wort, Ihrer Erziehung sicher, dann dürfen Sie ihr vielleicht gar den ‹Hof machen›, das heißt, ihr die Langeweile vertreiben und sie unterhalten. Was aber in aller Welt soll man mit solch einem übermenschlichen, blumigen Wesen sprechen? Wie vermeiden wirs, daß wir nicht an irgendeinen unsichtbaren Staubfaden ihrer Seele stoßen? Sich lächerlich zu machen, indem man eine gebildete Diskussion über ein interessantes Thema einleitet, wäre allerdings das Sicherste; aber wir ziehen gewöhnlich die Gefahr anzustoßen der drohenden Lächerlichkeit vor. Ich glaube, das Beste ist, wir lassen Nolimetangere selbst den Faden spinnen und ziehen nur ab und zu ein bißchen, wenn er beim Abwickeln stocken will. Und wirklich, bei der echten Unschuld und Unbefangenheit dieses achtzehnjährigen Kindes, der auch jeder Hauch von Affektation fremd ist, hält es nicht schwer, ihre rosigen Lippen zu erschließen, und wir gewinnen nun einen kleinen Einblick in das Innere der braunen Blume.

Sie liebt die Pferde grenzenlos   begreiflich, sie stammt aus der Steppe. Sie haßt die Deutschen   das hätte ich ihr voraussagen können. Sie findet die deutsche Literatur geziert und Gretchen lächerlich   auch das habe ich erwartet; zudem ist Gretchen blond, Sonja aber braun. Sie schwärmt für alles Russische   das ist mir schon interessanter; das halbe Dutzend Gouvernanten ist also vor dem Nationalgeist wie Spreu zerstoben. «Die Ausländer kennen und schätzen die russische Literatur noch lange nicht genügend»   das ist unverantwortlich, zumal die Russen ihrerseits eine so große Pietät für nachbarliche Literatur an den Tag legen. «Ich werde mir auf den Sommer ein russisches Nationalkostüm bestellen»   das muß unserer braunen Weißrussin reizend stehen. Wie doch die Frauen Patriotismus und Ästhetik zu vereinen wissen!

Sie liebt zu tanzen   unglaublich. Vor allem die Mazurka   aha, slawisches Blut. In der Schule gibt es eine Lehrerin, welche sie nicht ausstehen können   das kommt auch in Westeuropa vor. Darum machen sie ihr auch das Leben sauer, und Nolimetangere ist die Anführerin bei allen Possen   wirklich? Sonjuschka! mit deinen seidenen Wimpern und deinen samtnen Blicken! Das hätte ich nicht von dir erwartet! Sie haben aber auch einen Lehrer, für den sie alle ohne Ausnahme schwärmen   natürlich; schwärmt einmal eine, dann schwärmen bald alle.

Noch vieles liebt Sonja, und vieles verabscheut sie   denn ein Backfischchen hat nun einmal die Gewohnheit, alles in der Welt in Weiß und Schwarz einzuteilen  , bis wir schließlich auf die Musik zu sprechen kommen. Da haben wir endlich das Feld gefunden, auf welchem unsere beiderseitigen Gedanken und Gefühle sich am liebsten bewegen, und die Zeit vergeht uns im Fluge. Dabei wollen wir uns ein für allemal merken, daß gebildete Frauen und Mädchen aller Stände und aller Nationen für Kunst so empfänglich sind wie die Blumen für den Tau, und wer daher zu irgendeiner der Künste ein echtes, das heißt gemütliches Verhältnis hat, wird sie eine Viertelstunde für seine Lieblingsmuse zu interessieren vermögen.

Wir sehen aus dem Inhalt dieses Gesprächs und mehr noch aus der harmlosen Art, mit welcher es vorgetragen wurde, daß Natalja Michajlowna ihre Absicht erreicht hat: Nolimetangere ist ein gutes, bescheidenes und unschuldiges Kind geblieben, dessen Herz noch als Chrysalide, in zarte Schleier gesponnen, schlummert; ab und zu mag zwar die Chrysalide ein bißchen zucken und sich dehnen, aber sie erschrickt selbst vor ihren unwillkürlichen Bewegungen und zieht sich in ihre duftige Unschuld zurück. Nun handelt sichs nur noch darum, den Schmetterling ein einziges Jahr oder zwei vor dem Ausschlüpfen zu bewahren, dann ist das schwere Spiel gewonnen: Mademoiselle wird als reines, braunes, ländliches Blanc-manger verheiratet. Was später geschieht, das hat Mama nicht mehr zu verantworten.

Zum Gespräch mit Nolimetangere vermag man verhältnismäßig leicht durch einen glücklichen Zufall des gesellschaftlichen Lebens zu kommen. Aber auch nur einmal ihr Begleiter oder, um es mit einem sonoren Wort zu nennen, ihr Kavalier heißen zu dürfen, dazu gehört sehr viel.

Ein größeres Zeichen von Achtung kann Ihnen in Rußland niemand geben, als wenn Ihnen eine Dame von Stand ihr Töchterchen anvertraut; da müssen Sie schon sehr gut bei ihr angeschrieben stehen. Kavalier eines solchen unschätzbaren Kleinods zu sein, ist in jeder Beziehung ein Ehrenamt, vor allem in der Beziehung, daß ohne andern Dank als das Prädikat eines wohlerzogenen Menschen einem recht bedeutende Verpflichtungen auferlegt werden. Wenn Sie Nolimetangere zu Pferd begleiten dürfen, riskieren Sie sogar ein bißchen Ihr Leben. Tollkühnheit im Reiten liegt nun einmal den Slawinnen im Blut, und da die Gesetze der Höflichkeit jede korrigierende Bemerkung gegenüber der Dame verbieten und Sie sich zudem immer haarscharf an der Seite Ihres Schützlings halten müssen, um im Notfall die Zügel zu erfassen, ist solch ein Ritt kein harmloses Spiel. Wenn es dem Strudelköpfchen gefällt, einen steilen Hügel im Galopp hinunterzurennen, so rennen Sie in Gottes Namen mit; saust sie auf schmalem Fußweg durch den Wald, so brauchen Sie sich nicht darum zu kümmern, ob Sie sich den Kopf an den Ästen zerschlagen oder die Beine an den Stämmen zerschinden; denn geschieht Ihnen ein Unglück, so sind Sie entschuldigt, man verzeiht es Ihnen. Aber seitwärts sitzen Ihre Sorgen: daß dem Bijou zu Ihrer Linken nichts geschehe, darauf kommt es an. Und wahrlich! sie macht Ihnen Sorgen genug. Nolimetangere reitet vielleicht heute erst zum dritten Mal; aber schon läßt sie ihr Pferdchen fliegen, als hätte sie zeitlebens im Sattel gesessen. Über Stock und Stein jagt sie ventre à terre und kennt überhaupt kein Hindernis: was kann schließlich auch geschehen? Höchstens das, daß sie mit dem Pferd einen Purzelbaum schlägt. Aber mit diesem Bilde ist sie schon vertraut; es gehört zu ihren frühesten Erinnerungen, wie sie einst Mama unter einem Pferde liegen gesehen, welches mit den vier Hufen in der Luft herumzappelte. Warum soll sie es nicht auch einmal versuchen? Ein besonderes Vergnügen macht es ihr, wenn sich die Pferde bäumen, und Sie bekommen vielleicht die direkte Einladung, das Ihrige auf die Hinterbeine zu stellen. Um ihr eigenes Pferd kümmert sie sich nur so viel, daß sie es immer mit der Peitsche antreibt, das übrige mögen Sie für Mademoiselle besorgen. So läßt sie plötzlich sämtliche Zügel fahren, um ihr Haar zurechtzuknüpfen, und während die Pferde durchgehen, fängt sie an, vom Mondenschein zu sprechen, oder fragt Sie, ob Sie die russische Sprache schön finden. Gott behüte Sie davor, daß ihr ein Unglück geschieht, denn die mindeste Verletzung des Bijou bringt Ihnen unauslöschliche Schande.

Wenn wir aber gesund und fröhlich zu Hause ankommen, erwarten wir vergebens, die geängstigte Mama mit pochendem Herzen unter der Tür stehen zu sehen; sie sitzt ruhig und zufrieden am Kartentisch und sticht Pik-As mit einem Trumpf. «Sie haben doch nicht etwa um Ihre Tochter Angst gehabt?» «Durchaus nicht; wenn sie reitet, habe ich nie Angst, so sehr ich sonst immer für sie zittere. Übrigens», fügt sie artig hinzu, «wußte ich sie ja in guten Händen.» Darauf werden wir konsultiert, ob sie auf die Zehn die Dame oder das As legen soll, machen unsere Verbeugung, erhalten vier schwarze Blicke, und unser Amt ist aus.


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