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«Glockenlieder»

Gesprochen am 2. März 1918 in Luzern

Wenn unter meinen Gedichten die «Glockenlieder» sich einer gewissen Bevorzugung erfreuen, so verdanken sie das zu einem großen Teil ihrem Thema. Alle Menschen lieben den Glockengesang von den Türmen. Begreiflich! Schon aus musikalischen Gründen: der starke metallene Wohlklang, über Tal und Höhen fliegend, die wundersame Reinheit, wo kein Ton um die kleinste Schwingung von der Linie abweicht. Dann aus Gründen des Gefühls: die Glocken singen uns ins Herz, indem sie dem Einzelnen einen Gruß seiner Mitmenschen bringen. Ein Kranker, der in finsterer Winternacht die Frühglocke vernimmt, fühlt sich minder einsam, spürt ein Schlücklein Trost. Und welch ein Reichtum der Verschiedenheit im Klang! Vermehrt durch die verschiedene Wirkung auf unser Gemüt, je nach Anlaß und Stimmung. Anders tönt ja die nämliche Glocke, wenn sie zur Beerdigung, als wenn sie zur Trauung ruft. Auch der Ort, wo wir stehen, ist nicht ohne Bedeutung. Besonders wonnig, nach meinem Gefühl, singt das Geläute, wenn die Töne durch blumige Wiesen streichen. Nicht umsonst heißt der Titel des Büchleins «Glocken- und Graslieder». Und, was mir das Liebste von allem ist: die paar leisen Töne, die, wenn das Geläute schon zu Ende scheint, unerwartet noch nachsummen. Von diesen ‹Nachzüglern›, wie ich sie nenne, ist im Text mehrmals die Rede; zum Beispiel in den «Glockenjungfern».

Aus den mannigfachen Verschiedenheiten nun ergeben sich für den Dichter eine Unzahl von Möglichkeiten. Ein sachlicher Grund, warum einer nicht Hunderte von Glockenliedern dichten könnte, ist nicht vorhanden. Warum wählte ich aus den Hunderten bloß wenige zwanzig? Nun, Sie wissen, man dichtet nicht, was man wählt oder will, das gäbe taube Nüsse, sondern was das Herz begehrt, mit andern Worten, was man innig erlebt hat. Allein das Erlebnis braucht keineswegs mitgeteilt zu werden. Ein schönes Wunder lautet: Alles, was aus dem Herzen kommt, wirkt auf andere Herzen, selbst dann, wenn es unausgesprochen bleibt. Offenbar führen unsichtbare Leiterlein von Mensch zu Mensch. Ein Beispiel: In dem Gedicht «Die Betzeitglocke» geistert eine ganze Wolke inniger Erlebnisse: meine früheste Kindheit, meine Heimat, meine Eltern und Großeltern. Von alledem steht im Text kein einziges Wort. Aber das Leiterlein steht dabei. Und ich hoffe, daß wir, von beiden Seiten kommend, in der Mitte zusammentreffen.

Anderseits darf man nicht jedesmal, wenn etwas in der ersten Person erzählt wird, auf ein tatsächliches äußeres Erlebnis zurückschließen. Wenn es zum Beispiel heißt: «Wann wars, daß wir lagen im grünen Gras?   Im Juli ferne», so will ich damit nicht behaupten, ich hätte leibhaftig im vergangenen Juli im Grase gelegen. Das lasse ich bleiben. Sondern dergleichen ist freie Erfindung. Freie Erfindung ist bekanntlich des Dichters Recht.

Noch ein anderes Recht hat er: die Personifikation. Was hat Personifikation für einen Zweck? Sie hat gar keinen Zweck, bloß einen Grund. Der Grund ist der, daß der Mensch nicht anders kann als personifizieren. Sie alle tun das im alltäglichen Leben. Wenn Sie sagen: «Die Sonne lacht durch die Wolken», so personifizieren Sie. Wenn Sie sagen: «Die Heimatberge grüßen mich», so personifizieren Sie. Ganz dasselbe tut der Dichter. Nur in gesteigertem Maße. Von der Erlaubnis der Personifikation habe ich in den «Glockenliedern» reichlich Gebrauch gemacht. Die Glocken «singen», da werden sie denk wohl auch sprechen können. Durch die Personifikation entstehen mitunter sonderbare Personen, wo der Verstand und der Unverstand einander verwundernd anschauend fragen: «Glockenjungfer», das geht noch an. Aber «Münstergeist»: wer ist das, weißt dus? «Mittagskönig»: wer ist das? Unter anderm auch eine Frühlingsfee, namens «Chlorophyllis». Befremdet Sie die Frühlingsfee Chlorophyllis? Aber wenn ich statt «Chlorophyllis» gesagt hätte: «der Lenz»? Sagen Sie offen, mögen Sie eigentlich den Frühlingsbuben Lenz? Ich nicht. «Der Lenz ist gekommen.» Ja, aus der lateinischen Grammatik ist er gekommen. Kurz, ich halte es lieber mit seiner Cousine, der Chlorophyllis. Und ich glaube, Sie werden sich auch mit ihr befreunden. Die reitet auf einem Schimmelein aus dem Wald. Und wenn sie über die Fingerspitzen haucht, sprießt ringsum Leben. Und wie die Chlorophyllis macht es der Dichter: er haucht bloß über die Fingerspitzen, so wird sofort alles lebendig. Das Stärkste an Personifikation leistet sich das Gedicht «Die Nachzügler». Da erhalten drei Glockentöne nicht bloß Leben, sondern sogar Namen: der Kündig, der Findig, der Fein. Angesichts solcher Kühnheiten kann man sich verschieden verhalten. Entweder ärgerlich den Kopf schütteln oder vergnügt lächeln. Die Wahl ist frei.

Die Glockenlieder, beiläufig gemeldet, sind sämtlich hier in Luzern entstanden. Das Gras der Graslieder ist in der Gesegnetmatt gewachsen.

Wer das gedruckte Büchlein zur Hand nimmt, wird darin einen Anhang finden, der mit den Glockenliedern nichts zu tun hat, betitelt: «Engel, Gespenster und andere Gespenster». Damit verhält es sich so:

Ich hatte zwei besondere Büchlein beabsichtigt: eines mit den Glockenliedern, ein zweites mit den Engeln und Gespenstern. Da hätte aber jedes der beiden bloß vierzig Seiten ergeben. Und das erschien dem Buchhandel gar zu dürftig. So sind die Engel und Gespenster zu den Glockenliedern zu Gast gekommen. Diese haben sich über die Nachbarschaft nicht beschwert. Und die Leser auch nicht.


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