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Dramaturgie


Die Stilarten des französischen Dramas

Einleitung.
Der dramaturgische Standpunkt der Franzosen

Die Ausdrücke, mit welchen unsere Kritik die Gewandtheit der Franzosen in der theatralischen Arbeit preist, lassen mitunter zweifelhaft erscheinen, ob dieselbe mit den dramatischen Verhältnissen Frankreichs allseitig vertraut sei. Nicht selten treffen wir zum Beispiel auf die Voraussetzung, das gesamte französische Drama werde von gemeinschaftlichen Prinzipien der Bühnentechnik beherrscht, ähnlich wie das deutsche von einem kompositorischen Grundschema. Oder wir preisen die Franzosen wegen ihrer vermeintlichen Vorliebe für den Prosadialog und für aktuelle Stoffe. Oder man schreibt ihnen einen nationalen Instinkt für das spezifisch Theatralische zu und stellt diesen Instinkt in Gegensatz zu jener Geistesrichtung, welche unsere Buchdramen erzeugt. Auf Grund der Tatsache endlich, daß Frankreich eine dramatische Literatur, die sich von der Bühne fernhielte, nicht kennt, waltet allgemein die Ansicht, als müßte einem Franzosen das deutsche Buchdrama über die Maßen lächerlich vorkommen.

Das gerade Gegenteil ist der Fall.

Jenseits der Vogesen wird das Theater zwar leidenschaftlicher geliebt als bei uns, aber weniger aus der Literatur hervorgehoben und weniger von ihr unterschieden. Das Theater gilt dort nicht für eine Anstalt von eigentümlicher Weihe, sondern einfach für die Pflegestätte der Literatur, und zwar besonders des Stils und der Sprache, des Rhythmus und des Reims. Die Bretter bedeuten in Frankreich nicht die Welt, sondern die Poesie; in Ermanglung derselben die Abendunterhaltung. Zwischen dem Theatralischen und dem Literarischen, zwischen dem Dramatischen und dem Epischen (oder Rhetorischen oder Lyrischen) werden die Grenzen nicht strenge gezogen, ja mitunter   und nicht von den schlechtesten Denkern   ausdrücklich bestritten. Was den ersten Punkt, die Verschiedenheit der theatralischen von den literarischen Werten, betrifft, so begegnen wir in Frankreich der Behauptung: «Alles, was schön ist, wirkt gleicherweise überall, auf der Bühne wie im Buch» kaum seltener als in Deutschland der Behauptung des Gegenteils. Wie wenig aber das Dramatische als etwas Besonderes gegenüber dem Epischen (oder Lyrischen) empfunden wird, das ergibt sich aus folgender ungemein bedeutsamen Tatsache. Dem Franzosen fehlt sogar der Begriff eines spezifisch Dramatischen, also jener Begriff, mit welchem wir gewisse kompositorische Eigenschaften (den geschlossenen Bau, die Gipflung der Handlung, die Mechanik der Stimmung, die Steigerung der Spannung, die Ökonomie der Wirkungsmittel und so weiter) als Eigentümlichkeiten eines normalen Dramas bezeichnen wollen. Das Wörtchen dramatique enthält nichts dergleichen; es bezeichnet entweder die Eigenschaften einer bestimmten untergeordneten Klasse (der Schauerstücke) oder eine bloß allgemeine äußerliche Beziehung zur Bühne. Ein anderes Wort aber, das jenem Begriff entspräche, gibt es nicht. Was für eine Menge von wichtigen Rückschlüssen dieses einzige kleinphilologische Symptom ermöglicht, darauf brauche ich nicht erst aufmerksam zu machen. Innerhalb der dramatischen Poesie wiederum wird dem Theater kein so hoher Wert für das Drama beigemessen wie in Deutschland, geschweige denn, daß man ihm Unentbehrlichkeit zuschriebe. Für die Ansicht, daß nicht die Aufführung, sondern die Lektüre über die Tüchtigkeit eines dramatischen Werkes entscheide, ließe sich eine ganze Sammlung von Aussprüchen herstellen. Ja der größte Literarhistoriker der Nation (Sainte-Beuve) verschmähte es sogar, die Dramen, die er besprach, überhaupt im Theater anzusehen. Mehr noch: wir stoßen in Frankreich auf die verächtlichsten und feindseligsten Urteile bedeutender Autoritäten über das Theater im allgemeinen. Der Patriarch des Realismus (Goncourt) betrachtet das ganze Bühneninstitut als veraltet; der namhafteste Vertreter des historischen Trauerspiels (Parodi) hält es für selbstverständlich, daß ein künftiger dramatischer Meister zunächst ein Buchdramatiker werden müsse; der gelesenste Schriftsteller der Nation (Zola) gibt dem dramatischen Dichter den Rat, nur ja niemals ein Theater zu besuchen; die erste Zeitschrift Frankreichs (die «Revue des Deux Mondes») lehrt, die Personen eines Dramas verlören durch die Aufführung, und ein gelehrter Spezialkenner und Freund der Regie und Kulissentechnik (Becq de Fouquières) nennt jede Aufführung, wie vollendet dieselbe auch sein möge, eine «Verballhornung» (outrage) des betreffenden Werkes.

Da sich mithin das französische Theater, das seine Würde allein von außen, durch den Besuch der Poesie, empfängt, keines eigentümlichen Wertes und keiner Kulturmission bewußt ist, gebärdet es sich auch weit unbefangener und freier als das unsrige. Es kennt weder nach oben noch nach unten hin Schranken für das Aufführbare, mit andern Worten keine ästhetischen Verbote.

Nach unten hin gilt nichts Ergötzliches, wenn es anders nicht gegen Sitte und Recht verstößt, für zu schlecht, um auf die Bühne gebracht zu werden. Der Begriff einer Entweihung der Bühne ist unbekannt, weil die Voraussetzung desselben, der Glaube an geweihte Bretter und an einen heiligen Beruf des Schauspiels, fehlt. Daher jene sonderbaren Erscheinungen, welche unsere Anhänger der französischen ‹Mache› befremden und verblüffen: notdürftig zurechtgeschnitzte Romane, ‹Bilder›, Spektakelstücke mit Pulver und Blei, Neujahrsrevuen und Karnevalscherze, endlich weltberühmte Bühnentechniker und Akademiker, welche hohle Ausstattungsstücke mit Mulattinnen und Elefanten vom Stapel laufen lassen. Wo liegt bei diesen Herren, so fragt sich der Deutsche entrüstet, das künstlerische Gewissen? Nun, es liegt genau an demselben Fleck wie bei uns. Allein das Theater ist dem französischen Gewissen nicht vorgestellt, es hat nichts von demselben zu begehren. Das Theater mag sein, was es will und kann. Das Drama (als Literatur) allein ist dem Franzosen heilig; ihm gegenüber aber verfährt er, wenn wir genau zusehen, mit peinlicher Gewissenhaftigkeit. Dieselbe zeigt sich vornehmlich darin, daß der Dichter jedesmal, wenn er zu einer höheren Stufe hinaufsteigt, die Gewohnheiten der niedern Arbeit, sowohl hinsichtlich des Sprachstils als der Theatertechnik, ablegt, um den Gesetzen der Tradition und der Vorbilder, wie sie gerade hier herrschen, zu gehorchen,   daß er vor allem dem Gipfel der Leiter ( tragédie und comédie) jederzeit mit heiliger literarischer Ehrfurcht naht. Dagegen erlaubt ihm sowohl die öffentliche Meinung wie sein Gewissen, in den untersten Gebieten so dreist zu verfahren, wie es die betreffenden Gattungen gestatten oder wünschen.

Nach oben hin ist ebenfalls kein Ende abzusehen. Hier leitet das Drama unmerklich zum Buch über. Nichts ist für das Theater zu literarisch empfunden, zu lyrisch oder rhetorisch ausgeführt, wofern es nur gute Literatur und echte Lyrik oder Rhetorik ist und überdies die unerläßliche dialogische Form aufweist. Das ist denn auch die einfache Erklärung der Tatsache, warum Frankreich kein Buchdrama besitzt. Alles das nämlich, was unsere Theater ablehnen und daher ins Buch verbannen, führt die französische Bühne auf, und zwar mit großem Stolz. Frankreich hat dafür eigene Buchbühnen (scenes littéraires), und diese Buchbühnen sind die ersten der Nation.

Weit entfernt, Rhetorik und Lyrik für bühnenwidrig auszugeben, würde der Franzose einen Menschen, der solches versuchte, für einen Barbaren halten. Selbst der eifrigste Verteidiger des spezifisch Theatralischen gegenüber dem Literarischen, Sarcey, gesteht der poésie (das will im Französischen sagen: der Versschönheit) eine «erstaunliche szenische Zauberkraft» zu. Im Gegenteil gibt es in Frankreich für einen Dramatiker keinen höhern Ehrentitel, als das Beiwort ‹lyrischer Dichter›. Aber auch das Theaterpublikum schätzt als den denkbar höchsten dramatischen Genuß ein rein literarisches Werk, welches die Bühne mit ihren täglichen Gewohnheiten und Erinnerungen soviel wie möglich vergessen läßt, also dasjenige, was wir Buchdrama nennen. Ein solches Buchdrama wird als eine fête littéraire enthusiastisch begrüßt. Die edelste Gattung des französischen Dramas, die tragédie, wird überhaupt vorwiegend nach ihrem lyrischen Sprachwert beurteilt. So sagt etwa die Kritik über eine Novität im Gebiet der Tragödie: «Die Sprache des Autors ist leider bloß korrekt und vermag sich nicht zur Lyrik emporzuschwingen.» Und in was für ideale Höhen und Fernen wagen sich die literarischen Einakter (fantaisies) der Franzosen! Da ist zum Beispiel die «Cynthia» des Louis Legendre. Sie behandelt unter griechischen Hirtennamen die Liebesgeschichte zwischen Diana und Endymion mit dem Gotte Merkur als handelnder Person. Und dieses Stück erzielte wegen seiner «lyrischen Schönheit» einen großen Theatererfolg («un succes très vif»). So geschehen nicht etwa zur Zeit Franz I., sondern im Winter 1885 auf 86. Das Gesicht eines deutschen Theaterdirektors möchte ich sehen, wenn ihm ein Dichter ein Stück aus der griechischen Mythologie anböte! Der Mann würde jedenfalls rufen: «Gehen Sie hin, mein Lieber, und lernen Sie von den Franzosen. Das sind Kerle! Die verstehens, was für die Bühne paßt!» Mit welcher Begeisterung das französische Publikum solchen lyrischen Einaktern lauscht, zeigt folgende Schilderung: «Das Publikum war hingerissen von Entzücken, übermannt von süßen Wollustschauern, es rief unaufhörlich ‹Ah› und ‹Oh› vor Wonne.» So wirkt die Lyrik von der Bühne auf ein französisches Publikum. Und wie wirkt sie auf die Kritik? Hören wir einen der bissigsten Kritiker, Jules Lemaître, denselben, der an unserm geliebten «Hüttenbesitzer» (Ohnet) kein gutes Haar läßt, wie er über den «Sokrates» des Théodore de Banville urteilt: «Endlich einmal wieder echte Verse eines lyrischen Dichters! Wahre Blumen mit erschlossenen Kelchen, voll Farbe, Glanz und poetischem Wahnsinn (déraisonnables), bald schmetternd wie Trompeten, bald schimmernd wie asiatische Teppiche, bald duftend wie Rosen! Diese prächtigen Verse gossen in unsre Adern eine beinah körperliche Wollust, sie entflammten den Blick im tränenfeuchten Auge und ließen die schönen festlich geputzten Frauen noch einmal so schön erscheinen. Während einer halben Stunde wurde jedermann klar, daß von allen irdischen Dingen einzig die Poesie wert ist, die Aufmerksamkeit des Menschen zu fesseln, daß es nichts Ernsteres, nichts Erhabeneres gibt als jene melodischen Silbenreihen, welche uns schaukeln, uns trösten und in die Traumwelt versetzen, jene Reihen, die man mit einem Wort ‹Alexandriner› nennt.»

Mit diesen lyrischen Theaterstücken ( fantaisies und tragédies) geben sich indessen einzelne noch nicht zufrieden. Sie möchten das Drama noch höher in die idealen Phantasieregionen heben. So empfiehlt Parodi dem dramatischen Dichter als zukunftsreiche Gattungen des Dramas die Allegorie und das Märchen. Und Zola, der Apostel des Realismus, stimmt ihm, was das Märchen betrifft, bei.

Der nach unten wie nach oben hin unbegrenzte Spielraum der französischen Theaterarbeit, vom gemeinsten Spektakel- und Ausstattungsstück durch den dialogisierten Roman über die Intrigentechnik bis in die höchsten rhetorisch-lyrischen Regionen hinauf, macht es nun natürlich dem Autor verhältnismäßig leicht, bühnengerecht zu schreiben. Wir werden das noch deutlicher fühlen, wenn wir wissen, daß das französische Theater niemals gegen ein Stück ein Veto aus dogmatisch-ästhetischen Gründen einlegt, und wenn wir nicht vergessen, daß auf der französischen Bühne nicht der Direktor oder der Regisseur (auch nicht der Professor), sondern der Dichter gebietet. Es gibt verschiedene Ursachen der auffallenden Leichtigkeit der Franzosen für die theatralische Arbeit. Lindau in seinen «Dramaturgischen Blättern» hat einige derselben mit Scharfsinn ausgespürt. Andere wären noch zu nennen, zum Beispiel die Entfesselung des modernen französischen Dramatikers von erdrückenden oder störenden Vorbildern und von dramaturgischen oder   wie sonderbar das klingen mag   von bühnentechnischen Vorschriften. Die Hauptursache bleibt indessen die Freiheit, zwischen rein literarischer buchdramatischer Arbeit, zwischen bühnentechnischem Aufbau und zwischen schlottriger Szenenführung beliebig nach Geschmack und individueller Anlage wählen zu dürfen, ohne aus dem Rahmen der Kulissen zu fallen. In Deutschland heißt es: So und nicht anders muß jedes Drama in den Grundzügen gebaut sein. Freytag in seiner «Technik des Dramas» kennt für alle dramatischen Werke nur einen einzigen Zuschnitt. Frankreich dagegen hat für jede erdenkliche Ware jeder Form einen besondern Markt. Was die Vorstadttheater nicht brauchen können, weil es ein Buchdrama ist, das ist den vornehmsten Theatern aus demselben Grunde im höchsten Grade willkommen. Deshalb darf man sich nicht darüber wundern, wenn es in Paris nach der Rechnung des «Figaro» nahezu an dreihundert Autoren gibt, welche das Jubiläum ihrer hundertsten Aufführung gefeiert haben.

 

Überschauen wir vom französischen Standpunkt das Gesamtdrama der Franzosen, so zeigen sich uns auf den ersten Blick zwei gewaltige, durch eine weite Kluft getrennte Hälften, von denen die eine auf einem hohen Sockel steht, die andere zu ebener Erde. Der Franzose unterscheidet ein hohes und ein niederes Drama (das Drama des grand art und das Drama des theatralischen métier). Auf den zweiten Blick entdecken wir überall eine Menge Unterabteilungen, welche zahlreicher und im ganzen genommen auch schärfer getrennt erscheinen als die Unterabteilungen des deutschen Dramas.

Beschäftigen wir uns zunächst mit dem Höhenverhältnis. Hier gilt als Grundregel: Je bedeutender der literarische Wert, mit andern Worten der Buchgehalt eines Dramas, desto höher steigt dasselbe in der Schätzung der Franzosen. Das ‹Bühnenblut› hat in Frankreich nicht im entferntesten jenen Preis wie an den deutschen Theaterbörsen. Ein Tröpfchen Poesie gilt dort (auch bei den Bühnenbehörden) für kostbarer als ganze Eimer voll dramatischen Vollbluts. Zu bedauern, daß Schiller seinen ursprünglichen prosaischen «eminent dramatischen und theatralischen» Dramenbau zugunsten einer literarischen Versdramatik verlassen hat, das zu bedauern, wie es Freytag sehr vorsichtig und Lindau sehr kühn getan, das ist so unfranzösisch als möglich, das ist deutsch.

Neben der literarischen Arbeit kommt dann ferner die Wahl des Stoffes für die Wertschätzung in Betracht, und zwar wiederum in umgekehrter Weise, als man in Deutschland anzunehmen pflegt. Während nämlich die deutschen Vorkämpfer der Aktualität sich auf das Beispiel der Franzosen berufen und hiemit den Glauben verbreiten, als wären die Franzosen historischen Stoffen abhold, steht nach französischem Urteil ein Drama, das einen historischen Stoff behandelt, schon allein um dieses einzigen Umstandes willen höher als ein solches mit modernem Vorwurf. Hekuba gilt den Franzosen mehr als Antoinette. In Frankreich ist man daher weit davon entfernt, über ‹Römerdramen› zu spotten, wie wir das in Deutschland im Überfluß tun. Dort zieht man vor einem Römerdrama den Hut ab, dem Autor zu seinem hohen Kunstziel Glück wünschend. Es gilt dort der Spruch: «Großes auch nur zu wollen ist schon ein Verdienst.» Man vergleiche mit den Sarkasmen der deutschen Presse über die «Konradine» und «Heinriche» den ehrerbietigen Ton, den selbst der oberste Schutzpatron des Feuilletontheaters, Sarcey, anschlägt, wenn er einer historischen Novität begegnet. So viel von dem Prinzip, welches die Subordination des Dramas beherrscht. Sagen wir es um der Wichtigkeit willen noch einmal: Das literarische Element entscheidet. Wo ein literarischer Wert waltet, da stehen wir in der hohen dramatischen Kunst; alles andere wird zur theatralischen Handwerks- oder Fabrikarbeit gerechnet.

Sehen wir uns nun die Unterabteilungen des französischen Dramas an. Hier gilt es vor allem, um den elementarsten Mißverständnissen des französischen Dramas vorzubeugen, zu betonen, daß das Unterscheidungsprinzip ein von dem deutschen gänzlich verschiedenes ist. Wir unterscheiden die Gattungen der dramatischen Poesie nach der Gefühlsskala, indem wir von einem Trauer- und einem Lustspiel reden und das Schauspiel oder Drama im engern Sinn als ein Mittleres von minder scharf ausgeprägtem tragischem Charakter zwischenhinein in die Nähe des Trauerspiels schieben. Diese Gefühlsskala nun kennt der Franzose nicht. Ob ein Stück versöhnlich oder schrecklich oder wie sonst klinge und ausklinge, das scheint ihm nicht charakteristisch. Eine comédie kann traurig, eine tragédie harmonisch verlaufen, das kommt gar nicht in Betracht, und für unsern mittlern Gefühlstitel ‹Drama› (im engern Sinn) hat die französische Sprache nicht einmal das Wort. Derselbe ist unübersetzbar. Anderseits erscheint ihm die Verschiedenheit des Kunstwillens und des literarischen Ziels, ferner der verschiedene Grad der seelischen Erhebung, die ein dramatisches Werk vom Dichter und vom Zuschauer begehrt, entscheidend. Deshalb trennt er die dramatischen Kunstgattungen nach dem stilistischen Prinzip, wobei wir das Wort stilistisch in seiner weitesten Bedeutung verstehen müssen, welche sowohl die Komposition als die Sprache begreift. Die literarische Feinfühligkeit des Franzosen bringt es dann mit sich, daß die stilistischen Unterschiede deutlich zum Bewußtsein gelangen, wodurch eine Vielzahl von dramatischen Gattungen entsteht, von welcher ausländische Literaturen keine Ahnung haben. Sein pünktlicher Ordnungssinn und seine Pietät vor der Tradition wiederum verlangen, daß jede Gattung innerhalb ihrer Grenzen bleibe und ihr eigentümliches Gesetz nicht mit den Nachbarn vertausche. Das erklärt die für einen Deutschen verwirrende Tatsache, daß ein und derselbe französische Dramatiker gänzlich verschieden arbeitet.

Daß durch die Gefühlsskala unser Drama weniger eingeschnitten, also gegliedert wird als das französische, daß es große kompakte Massen gegenüber den vielen französischen Variationen vorstellt, haben wir schon berührt. In der Tat kennen wir bloß da, wo wir eine französische Schule durchgemacht, im Lustspiel, die Gliederung. Das Trauerspiel sehen wir als eine einheitliche und unteilbare Gattung an. Und das bekennen wir auch in unserm ganzen dramatischen Tun und Lassen. Es kommt uns nicht einmal als Möglichkeit in den Sinn, daß es verschiedene Arten von Trauerspielen mit verschiedener Rechtsverfassung geben könnte, die gleichzeitig und gleichberechtigt friedlich nebeneinander wohnten. Eine gemeinsame Ordonnanz soll das gesamte Trauerspiel regieren; wer sich ihr nicht fügt, wird von der Bühne gestoßen. Wenn sich bei uns verschiedene Richtungen des tragischen Kunstwillens offenbaren, so heißt es jedesmal: Entweder   oder. Hat der eine recht, so muß der andere unrecht haben, und was nicht zusammenpaßt, sucht sich gegenseitig zu vertilgen. Die Verfechter des bürgerlichen Trauerspiels erklären die Historie für eine Lächerlichkeit, die Bewunderer der Salontragödie verhöhnen den Dichter der Jambentragödie, die Nachahmer Schillers zerren sich mit den Nachahmern Shakespeares herum, um einander in das gefürchtete ‹Buch› zu werfen. «Raum für alle hat die Bühne.» Diesen Satz kennt der Deutsche wahrlich nicht. Wohl aber der Franzose. Anstatt sich gegenseitig das Drama sauer zu machen, stellen sich die französischen Autoren einfach auf ihren Platz. Der Platz aber wird jedem durch die Vielseitigkeit und die Ordnung des französischen Theaters zugewiesen. Den Besitzstreit hebt die Teilung, diese Versöhnerin der Rechtsansprüche, auf.

Geben wir zwei Beispiele, um die Wichtigkeit des Unterschiedes zwischen deutscher und französischer Klassifikation zu illustrieren.

Das erstere betrifft den gewöhnlichen Fall, da der Franzose unterscheidet, wo wir nur Gleichartigkeit sehen. Das zweite zeigt uns umgekehrt, wie dem Franzosen zwei dramatische Kunstgattungen, die wir als Gegensätze empfinden, innig verwandt erscheinen.

Wir kennen nur einerlei Trauerspiele. Mögen wir auch von bürgerlichen, von historischen Trauerspielen und so weiter reden, so meinen wir damit nur stoffliche Schattierungen, keine künstlerischen Verschiedenheiten. Das ergibt sich daraus, daß wir keinen Anlaß erblicken, das bürgerliche Trauerspiel anders aufzubauen als das historische. Für das nun, was wir als einheitliches Trauerspiel behandeln, besitzt der Franzose ein halbes Dutzend verschiedener Kompositionsstile und demgemäß ebenso viele verschiedene Namen. Wir nennen den «König Oedipus», die «Horatier» und den «Cid» Trauerspiele. Gut, das sind tragédies. Wir nennen «Hamlet», «Lear» und «Maria Stuart» Trauerspiele. Wollte jemand diese Stücke tragédies heißen, so würde ein Franzose an dem Verstande des Sprechenden zweifeln. Das sind keine tragédies, sondern drames. Wir nennen die Rührwerke des Diderot und der Modernen Trauerspiele. Dem Franzosen gelten sie als comédies larmoyantes oder sérieuses oder dramatiques. Wir nennen die «Räuber» und «Kabale und Liebe» Trauerspiele. Ein Franzose zuckt die Achseln: das sind mélodrames. Wir hätten Molières «Menschenfeind» ein Trauerspiel genannt (Goethe). Dem Franzosen ist das eine comédie im engern Sinn (Charakterschauspiel).

Nehmen wir nun das andere, umgekehrte Beispiel. Uns scheint das Lustspiel und das bürgerliche Trauerspiel je auf der entgegengesetzten Grenze der dramatischen Kunst zu liegen. Wollte jemand in Deutschland «Kabale und Liebe» zu den Lustspielen zählen, so würden wir an einen unpassenden Scherz denken. Das aber tut der Franzose. Ihm gehört «Kabale und Liebe», wie jedes andere bürgerliche Trauerspiel, zum drame niederer Ordnung, genauer ausgedrückt zur comédie dramatique. Er wird nämlich von der Ansicht geleitet, daß die psychologischen Eigenschaften und der literarische Stil des Autors eines bürgerlichen Trauerspiels von denjenigen eines Tragödiendichters grundverschieden, dagegen mit denjenigen eines Lustspielautors nahe verwandt seien. Und die Erfahrung gibt ihm hierin nicht unrecht, denn von altersher bis auf den heutigen Tag haben die Tragödiendichter nur in den seltensten Ausnahmen, die Lustspielautoren dagegen mit auffallender Vorliebe das bürgerliche Trauerspiel gepflegt. Das bürgerliche Trauerspiel erscheint demnach dem Franzosen gewissermaßen als ein Lustspiel in schwarzer, sei es blutiger oder weinerlicher Sauce, deren Zubereitung demselben Koche wie dem Koch des fröhlichen Lustspiels zukomme. Das schwarze Lustspiel nun nennt er comédie dramatique, kürzer drame.

Nach diesen beiden Beispielen liegt wohl die unermeßliche Wichtigkeit des verschiedenen Klassifikationsprinzips, des französischen stilistischen und des deutschen sentimentalen, auf der Hand. Übrigens dürfte es sich für den Deutschen empfehlen, versuchsweise einmal den Standpunkt zu vertauschen und unser germanisches Drama in der stilistischen Perspektive anzuschauen und zu durchdenken. Viele Verhältnisse werden sich dabei ganz anders und manche einfacher und natürlicher ausnehmen.

Ist nun dieser fundamentale Unterschied, welcher für die französischen und die deutschen Dramaturgen recht eigentlich den Schlüssel zum gegenseitigen Mißverständnis bildet, allseitig bekannt und in seiner ganzen Wichtigkeit gewürdigt? Obschon ich noch eine leise Hoffnung hege, daß hüben und drüben die berufensten Interpreten hierin klar sehen, beweisen mir doch auf Schritt und Tritt die Voraussetzungen, welche unsere Kritik bei der Besprechung des neufranzösischen Theaters verrät, daß die Kenntnis und Würdigung jenes Gegensatzes sich jedenfalls auf einen sehr, sehr engen Kreis beschränkt. Wäre es auch nur der einzige Umstand, daß bei uns von einer ‹Salontragödie› der Franzosen gesprochen werden kann und darf, so müßte ich diesen Schluß ziehen.

 

Welches indessen auch die verschiedenen dramatischen Stilarten mit ihren Kompositionsgesetzen oder -traditionen sein mögen, für gänzlich unerläßlich hält der Franzose in jedem achtbaren Drama oder Theaterstück den literarischen Wert des Redeteils. Er nimmt keine Technik und keinen Bühnenerfolg als Ersatz für einen musterhaften Dialog. Als musterhafter Dialog aber gilt ihm wohlverstanden nicht etwa jener ‹prickelnde›, ‹schnell dahingleitende›, ‹echt dramatische›, welchen wir preisen, sondern wie gesagt der literarische, also derjenige, der auch im Buch die Bewunderung des gebildeten Lesers erweckt. Ein feiner Kunstkenner, Mitarbeiter der «Revue des Deux Mondes», Montégut, tadelt Sardou, weil es fast danach aussehe, als wären seine Stücke mehr darauf berechnet, gespielt als gelesen zu werden. Ein Tadel, auf welchen ein deutscher Dramatiker stolz sein würde. Selbst Augier, den Deutschland wegen seiner ansehnlichen literarischen Gediegenheit mit Recht auszeichnet, wird in Frankreich als noch «zu wenig literarisch durchgearbeitet» empfunden (Duruy). Umgekehrt werden kompositorisch und szenisch vollkommen verfehlte Theaterstücke wie die Dramen Victor Hugos um ihres Buchwertes willen unter die höchsten dramatischen Meisterwerke und zum edelsten Repertoire der französischen Bühne gezählt. Es gibt keinen Franzosen, und wäre er selbst Regisseur oder Theaterdirektor, der, zwischen die Wahl gestellt, entweder die Dramen Victor Hugos oder die vereinten Stücke der Dumas und Sardou entbehren zu müssen, nicht unbedenklich zugunsten der erstern entschiede. Selbst die theoretischen Anhänger der Bühnentechnik geraten in Entzücken, wenn sie einem lyrisch-poetischen Werk auf der Bühne begegnen.

Nach diesen Erläuterungen wird der Leser wohl selbst den Schluß gezogen haben, daß ein Franzose, wenn er über deutsche Theaterverhältnisse urteilt, dies gerade in entgegengesetzter Weise tun werde, als man gewöhnlich annimmt. Und das ist denn auch tatsächlich der Fall. Weit entfernt, über unsere buchdramatischen Dichter zu spotten (der Franzose, beiläufig gesagt, spottet überhaupt niemals über einen Dichter), zeigt er sich vielmehr geneigt, unsere Buchdramen den theatralischen, also «Tasso», «Iphigenie» und «Nathan» dem «Wallenstein» oder der «Emilia Galotti» vorzuziehn. Die eigentümliche Erscheinung, daß es deutsche Autoren gibt (oder wenigstens bis vor kurzem gegeben hat), welche mit absichtlicher Umgehung des Theaters geradezu fürs Buch schreiben, ist ihm freilich aufgefallen. Auch schüttelt er über diese Erscheinung den Kopf, wie wir, allein nach der entgegengesetzten Richtung. Hören wir, wie einer der gründlichsten und wohlwollendsten Kenner der deutschen Literatur, Saint-René Taillandier, diese Erscheinung auslegt: «Die Tatsache eines deutschen Buchdramas», sagt Saint-René Taillandier, «beweist uns, daß das deutsche Theater und Theaterpublikum noch auf einer niedrigen Stufe stehen.» (Sonst würden sie, meint er, das Buchdrama aufführbar und genießbar finden.) So fremd ist dem Franzosen der Gedanke, daß literarische Schönheit und szenische Wirksamkeit zwei verschiedene oder gar unverträgliche Dinge sein sollten.

 

Wollen wir, nachdem wir das Wesen des Unterschiedes zwischen den beiderseitigen nationalen Anschauungen über das Drama kennengelernt, zum Schluß noch den Quellen jenes Unterschiedes nachspüren, so finden wir folgende:

Der Deutsche hegt eine Ehrfurcht vor dem Bühneninstitut als solchem, welche der Franzose nicht kennt und welche demselben mystisch vorkommen würde. Diese Ehrfurcht führt den Deutschen dahin, den Hauptwert der dramatischen Kunst im Bereich der Bühne und ihrer Akzessorien, also namentlich in der Mimik, zu suchen und demjenigen Bestandteil, welchen das Drama mit der Profanpoesie gemein hat, also dem Redeteil, eine untergeordnete Bedeutung beizumessen. Umgekehrt erblickt der Franzose im Drama einfach eine Unterabteilung der Literaturpoesie, deren Beruf für die Bühne nur einen zufälligen, begleitenden Umstand bildet, obschon gerade er aus verschiedenen Gründen besonders geschickt ist, diesem Beruf gerecht zu werden. Da nun außerdem der Franzose auf dem Gebiet der Poesie die formale Schönheit der Einzelheiten, das Wort und den Vers im Vergleich zu andern Nationen ungemein hoch, der Deutsche aber ungemein niedrig schätzt, so wird dadurch der Gegensatz noch verschärft, so daß in Beziehung auf den dramatischen Dialog die Anschauungen der beiden genannten Völker die Extreme bilden.

Merkwürdig dabei bleibt allein das, daß die Tatsache gewöhnlich umgedreht wird. Dieselbe richtigzustellen habe ich hiemit versucht.


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