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Über den Wert des Theaters für das poetische Drama

Die Vorzüge der theatralischen Aufführung

Das Eigentümliche der theatralischen Kunst besteht in der Ersetzung der geistigen Anschauung durch eine sinnliche. Daraus ergibt sich eine Vorzugsreihe, die alle Welt kennt, und zwar diejenige am meisten, die sich im übrigen am wenigsten um Poesie kümmert. Daneben eine Menge von Nachteilen, die zu verschweigen sich gegenwärtig alle Welt scheint das Wort gegeben zu haben. Ziehen wir, wie billig, zuerst die Vorzüge in Erwägung.

Durch die Leibhaftigkeit erzwingt das Theaterstück zunächst die Hingabe an den Stoff, indem es die Sinne für sich gewinnt und die Spaziergelüste der Phantasie durch die auffälligen szenischen Vorgänge im Zaume hält. Um es kurz zu sagen: der Augenschein ist ein unschätzbares Unterstützungsmittel für die seelische Illusion, das heißt für das Mitleben des Genießenden mit den poetischen Gestalten, die erste Bedingung der Teilnahme an einem Kunstwerke. Aus folgenden Gründen wird durch den Augenschein die seelische Illusion vollständiger erzielt als auf anderm Wege: die Illusion ist hier eine ununterbrochene, während die Lektüre die Illusion auf einzelne ekstatische Visionen beschränkt; sie ist ferner eine gleichmäßigere, indem die Übergänge und Nebensächlichkeiten dasselbe volle Licht erhalten wie die Hauptstücke des Dramas; sie ist auch eine leichte und jedermann zugängliche, da es weder Geist noch Einbildungskraft braucht, um sich einen Mann vorzustellen, welcher in drei Dimensionen vor uns gestikuliert; sie ist endlich eine gnädige, indem sie Urlaub und Kontermarken gewährt, die dem Genießenden gestatten, nach einer allfälligen Zerstreutheit, wenn auch nicht den Faden der Ereignisse, so doch die Personen immer wieder rund und fertig vorzufinden. Beliebt es dem Autor, die Erwartung auf das Kommende künstlich zu reizen, um Spannung zu erregen, dann wird ihm in dieser Hinsicht durch die leibhaftige Darstellung vortrefflich gedient, obschon nicht in dem Umfang, wie man gewöhnlich annimmt. Nämlich es muß unterschieden werden: die szenische Spannung, das heißt die Erweckung der Neugierde auf ein Ereignis, das an einem gegebenen Orte unmittelbar erwartet wird, erhält auf der Bühne Zauberkraft, dagegen die kompositorische Spannung, die Erwartung auf den zweckmäßigen Ausgang der dramatischen Fabel, ist im Theater geringer als über der Lektüre, aus Gründen, die zu wichtig und folgereich sind, als daß ich sie hier beiläufig abfertigte. Soll unsere Neigung oder unsere Abneigung hinsichtlich einer Figur in Tätigkeit treten, so wirken natürlich die unbewußten Mächte, welche diese Gefühle zusammensetzen, weit stärker gegenüber geschauten als gegenüber gedachten Handlungen, und wir lieben oder hassen eine Person, die uns jeden Augenblick mit ihren Mienen und Gebärden beleidigt oder anmutet, eifriger als ein Gedankenbild. Wir ergreifen also überhaupt leidenschaftlicher Partei und lassen uns williger hinreißen. Handelt es sich endlich um ein tragisches Kunstziel, um Leid und Mitleid, so spielt die mimisch genaue Nachahmung des Schmerzes durch Phantasie und Sinne hindurch unmittelbar auf unsere Nerven; wir werden krampfhaft bewegt und erschüttert. Und so weiter in der nämlichen Richtung.

Dieses und ähnliches ergibt eine Summe von Vorzügen, die wir mit der Gesamtbezeichnung ‹unvergleichliche Gewalt des Eindrucks› festhalten können. Dabei ist auch nicht zu vergessen, daß der Gewaltigkeit des Eindrucks die Nachhaltigkeit entspricht; kommen doch die Nachwirkungen eines Schauspiels in der Erinnerung einem Erlebnis nahe.

Hiemit scheinen wir nun eine überzeugende Verteidigung für den Wert der theatralischen Darstellung geliefert zu haben, da diejenige Darstellungsweise, welche den tiefsten Eindruck vermittelt, doch wohl zugleich die richtigste sein wird. Und so lautet auch allerdings die gewöhnliche Ansicht. Diese Ansicht hält indessen die Prüfung nicht aus. Nämlich der Kunstgenuß wird nicht mit dem Dynamometer gemessen und die Poesie nicht nach Nervenschlägen beurteilt; man drückt ein Kunstwerk nicht wie das Blei in einen hohlen Zahn. Doch ich möchte nicht mit der linken Hand zurücknehmen, was ich mit der rechten gegeben; die genannten Vorzüge sollen ungeschmälert bleiben; nur um einer falschen Auslegung vorzubeugen, bemerke ich ausdrücklich: die Vorzüge des Theaters sind sämtlich dynamischer Art.

Die Vorzüge der theatralischen Aufführung bedeuten keine ‹Ergänzung› des Dramas, sondern eitel Zutaten

Ich halte die Behauptung, daß die theatralische Aufführung das Drama ergänze, ursprünglich für harmlos gemeint; man wollte damit im Grunde nichts sagen, sondern bloß etwas reden. Leider erheben solche Redensarten, während sie von Mund zu Mund wandern, allmählich den Anspruch wirklicher Gedanken, bis sie sich schließlich wie Beweisgründe gebärden. Dann sind wir gezwungen, uns mit ihnen auseinanderzusetzen.

Die Unrichtigkeit der betreffenden Behauptung kann auf mehreren Wegen dargetan werden; wir wollen einen nach dem andern einschlagen und hiebei zunächst der einfachen Logik den Vortritt lassen.

Die Annahme, das Theater ergänze das Drama, setzt voraus, das Drama sei unvollständig oder lückenhaft. Nun verlangt ein oberstes Gesetz aller künstlerischen Arbeit, daß ein Autor nichts Wesentliches unvollendet lasse und anderweitigen Kräften anheimgebe. Der Meister der Kunst darf nicht wie der Meister des Handwerks den Kunden auf den Laden linker Hand um die Ecke gegenüber dem Brunnen verweisen und dem Kauflustigen antworten: «Den Riemen dazu wird Ihnen der Sattler machen.» Also, streng genommen, nicht allein lückenhaft, sondern zugleich fehlerhaft wären sämtliche Dramen, wenn sie von der Bühne könnten ergänzt werden.

Was dann das Mittel der sogenannten Ergänzung betrifft, welch ein abenteuerlicher Gedanke: Poesie durch Haut und Haare, durch Schneider und Tapezierer ergänzen zu wollen! Das reimt und verheiratet sich doch nicht, das sind fremdartige Werte, die man nicht zusammenzählen kann. Dazutun, daneben-, darüber- und darunterlegen läßt sich freilich alles zu allem, und so wimmelt es denn auch im Theater von Zutaten, von absichtlichen wie von unfreiwilligen. Selbst angenommen, diese Zutaten wären verwandter Natur mit der Poesie, was sich in gewissem Grade von der Mimik sagen läßt, so ist das Streben, aus verwandten Künsten Kompagnien zu bilden, um mit vereinten Kräften den Genießenden zu bewältigen, ein naives Streben, welches zu der ästhetischen Einsicht des neuen Europa nicht mehr stimmt. In der Tat erscheint eine Kunstanstalt, die statt geistiger Ausdrucksmittel Fleisch und Leber einsetzt und in welcher die Poesie statt mit der Einbildungskraft mit dem Binokel gemessen wird, als eine Ausnahme in unserm geistigen Leben, als ein Überbleibsel aus der Silurzeit, wo Eidechse, Fisch und Vogel eins waren und Wissenschaft, Tanz und Arzneikunde unter einem Dache wohnten. Daher ist auch die Ansicht eines Goncourt, das dichterische Theater liege überhaupt in den letzten Zügen, nicht so ohne weiteres zu verachten; und wenn ich auch in Kunstsachen eher an das Kaninchenprinzip, das heißt eher an eine Verzehnfachung der Arten glaube als an das Duduprinzip, das heißt an das Aussterben derselben, so dürfte aus dem theatralischen Kollaboratorium wohl ein oder der andere Kollege mit der Zeit sich beiseite schleichen; und der erste wird nach meiner Meinung der Dichter sein, zumal wenn man ihm so geflissentlich zuwiderarbeitet, wie das neuestens Bühnenbrauch geworden ist.

Nun werden freiwillige vorübergehende Bündnisse verschiedener Künste immer wieder vorkommen, und zwar werden diese Verbindungen um so ersprießlicher ausfallen, je sicherer jede Kunst auf eigenen Füßen steht; wie ich denn gerade in einem poetischen Buchdrama, das neben einer selbständig ausgebildeten Mimik einherginge, die Vorbedingung für einen billigen Theatervertrag zwischen beiden erblicke. Aber nimmermehr sollte man solche Bündnisse für eine Vergrößerung des Kunstreiches ausgeben. Könnte Poesie durch die Zutat von Maskerade, Deklamation und Mimik vermehrt, also ergänzt und überergänzt werden, so müßte das Hinzutun des Gesanges eine Ergänzung im Komparativ darstellen, ja der Wert der dramatischen Poesie ließe sich durch architektonische Schönheit des Gebäudes, durch Anleihen bei den Gemälde- und Skulpturmuseen und so weiter ins Unendliche steigern. Der Superlativ aller menschlichen Kunst aber müßte nach dieser Anschauung das Fest sein, und das größte Genie wäre das organisatorische; denn bei einem Fest können wir alle Künste wie an einen Weihnachtsbaum hängen und damit unzweifelhaft den stärksten ästhetischen Eindruck auf die Massen erzielen, der überhaupt möglich ist. Nun, das Theater scheint mir etwas an solchen festlichen Gelüsten zu leiden; es möchte ein wenig Sankt Nikolaus spielen, der in seiner Schachtel für jeden etwas bringt.

Wir haben geschlossen, die Möglichkeit, daß ein Drama durch die Aufführung ergänzt werden könnte, würde Unvollständigkeit und Fehlerhaftigkeit des Werkes bedingen. Dieser logische Schluß wird durch die Erfahrung gebilligt; nämlich wo poetisch unvollständige Dramen vorliegen, da tritt das Theater mit dem sichtlichsten Erfolg ein, indem dasselbe die dichterischen Lücken durch Gebärdenkünste überbrückt und hiemit für denjenigen Beurteiler, der nur den Stärkegrad und nicht die Art des Eindrucks mißt, den Schein der Ergänzung erzielt. Während Freytag von unserm größten Dramatiker aussagt, daß seine Stücke «weniger als alle andern der Ergänzung durch die Bühne bedürfen», gewinnen im Gegenteil die poetisch unterschlächtigen Dramen Lessings durch die Aufführung eine erhebliche Verschönerung, und von Kleist dürfte dasselbe gelten. Nun ist es leicht begreiflich und entschuldbar, daß das Theater gerade für dergleichen Werke eine besondere Vorliebe bekundet, da eben jede Kunst, also auch die mimische, den Anlaß begrüßt, ihr Können zur vollen Geltung zu bringen; die Lücken eines Werkes aber erlauben der Mimik einen größern Spielraum und ein erhebenderes Selbständigkeitsbewußtsein als ein nach allen Seiten vollendetes, wo es nichts zu ergänzen gibt. Es geht wie bei den Ärzten. Ein Mann ohne Arme und Beine, dem der Magen und die Leber abhanden gekommen sind, gewinnt ihre besondere Gunst; entdeckt der Chirurg auf dem Schlachtfeld, daß eine vermeintliche Lungendurchbohrung nicht stattgefunden hat, so zuckt er enttäuscht die Achseln. «Der Junge ist ja nicht einmal brustkrank», sagte mit dem Ausdruck größter Verachtung ein Arzt. Jene Vorliebe ist daher erklärlich, ebenso wie die Schwäche der meisten Schauspieler für mittelmäßige Stücke; da kann man ‹etwas daraus machen›, da gibt es eine Rolle zu ‹kreieren›, wie der hochmütige Handwerksausdruck lautet, welcher, auf ein Meisterwerk angewandt, eine unleidliche Überhebung verrät.

Hingegen ist es gänzlich überflüssig, daß auch unsre dramatische Kritik ihre Sympathien nach denselben Gegenden entsendet, da ihr von Gottes wegen ein edleres Amt zugedacht ist als das Geschäft eines Interessenverwalters für die theatralische Intendantur. Ich dächte, wir begehren eine Dramaturgie und nicht eine Mimurgie. Und weil man denn gar so laut ruft, die Vorliebe der Schauspieler für ein Drama sei der wahre Stempel seiner Echtheit, so mahnt mich das, daran zu erinnern, daß das Gegenteil richtiger ist, daß die eifrige Begünstigung eines Schauspiels von Seiten des Gebärdenkünstlers eher vermuten läßt, es werde etwas Wesentliches in dem Stücke nicht in Ordnung oder nicht fertig sein. Hätte unsere Dramaturgie die freie vermittelnde Stellung zwischen Dichter und Theater zu bewahren gewußt, die ihr naturgemäß zukommt, hätte sie ihr Schiedsrichteramt nicht dazu mißbraucht, um die Interessen des Dichters zu verraten und eine parteiische Apomimologetik zu betreiben, wir wären überhaupt der Ergänzungslehre ledig. Denn dieselbe stammt von den Schauspielern; sie bedürfen ihrer, um sich für unentbehrlich zu halten; dies Bedürfnis ist aber kein Beweisgrund. Auch die Herren Professoren halten sich für unentbehrlich zum Genusse des Homer und der Nibelungen. Daraus schließt jedoch niemand, das Epos bedürfe der Ergänzung durch den Professor oder die wahre Heimat des Epos sei der Katheder.

Wen aber etwa dünken möchte, wir schenkten diesem Lehrsatz zu große Aufmerksamkeit, den machen wir auf die Folgen desselben aufmerksam. Es ist nämlich nicht nur zu fürchten, sondern bereits Tatsache geworden, daß die leidige Redensart von der theatralischen Ergänzung unsere dramatischen Autoren verführt, absichtlich unvollständig zu arbeiten, in dem Glauben, um so dramatischer zu verfahren, je mehr sie dem Schauspieler überlassen und gönnen. Freilich erreichen sie hiemit das allerhöchste Wohlgefallen unserer Mimagen, welche ihnen zum Dank dafür das sehnlich begehrte Eigenschaftswort ‹bühnengerecht› von der Kritik auszahlen lassen; wie es aber später mit einer solchen Rahmenarbeit bestellt sein wird, wenn einmal die Gliederkünstler in die ewige Versenkung gestiegen sind und eine künftige Kunstkritik die unsrige mit derselben Achtung behandelt wie wir die Kunstanschauungen früherer Jahrhunderte, das kann man erraten.

Betrachten wir die Ergänzungslehre noch von einer andern Seite. Es könnte nämlich geschehen, daß unsere Gegner die objektive Ergänzung preisgäben, um sich auf die subjektive zurückzuziehen, oder, mit deutlicheren und deutscheren Worten, daß sie die Behauptung aufstellten, zwar nicht das Drama, wohl aber der Genuß des Dramas bedürfe, um vollständig zu sein, der szenischen Aufführung.

Auch hier soll uns die Logik das Verständnis aufschließen.

Bedürften wir zu dem vollen Genuß eines Dramas die Aufführung, so müßte das Lesen nur einen lückenhaften oder unzulänglichen Genuß ermöglichen; und ich weiß wohl, daß man das auch sagen will und sagen zu dürfen glaubt.

Was muß als Probe angenommen werden, ob das Lesen eines Dramas genügt oder nicht genügt? Ich denke, die Erwägung, ob einerseits der Lektüre ein bestimmter und wesentlicher Mangel kann vorgeworfen werden, und anderseits, ob der szenische Genuß eine nachweisbare Bereicherung gegenüber der Lektüre bietet. Wir wollen die Streitfrage nach beiden Seiten hin untersuchen.

Ist die Lektüre eines Dramas ungenügend?

Vor allem ist zu unterscheiden, wer ein Drama liest. Daß ein ansehnlicher Teil der Christenheit mit einem Drama, das ihnen der Buchhändler schickt, nichts anzufangen weiß, ist unzweifelhaft. Dieser Teil wird aber ungefähr der nämliche sein wie jener, der überhaupt keine Poesie ohne barmherzige Hilfe lesen kann. Auch soll nicht bestritten werden, daß man ein Drama nicht so glatt wegliest wie ein Feuilleton; ich gebe sogar zu, daß an den Leser eines Dramas größere Anforderungen gestellt werden als irgend anderswo in der schönen Literatur, weil zum Beispiel der plötzliche, nur durch einen Namen angedeutete Wechsel der Person, den keine Beschreibung des äußern Vorgangs vorbereitet und erleichtert, große Kraft und Sammlungsfähigkeit der Phantasie fordert; und diese Eigenschaften sind freilich selten. Allein die Seltenheit eines Genusses hat mit der Frage nach seiner Vollständigkeit nichts zu schaffen; die Sichtbarkeit eines Gegenstandes wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß man in einem Städtchen viele Blinde und Kurzsichtige konstatiert. Und kunst- und poesieblind ist nun einmal ein großer Teil der Menschheit; diese Tatsache läßt sich auf die Dauer nie vertuschen, denn sie drängt sich immer wieder von selbst hervor, unter anderm auch hier, beim Drama.

Übrigens ist die Minderheit derjenigen, die in bejahendem Sinn für die Vollwirkung der Lektüre zeugen, noch immer recht beträchtlich. Das erhellt aus der Begeisterung der Tausende, welche ihre Tragiker nur aus dem Buche kennen. Und auf welchem Wege haben denn unsere Klassiker selbst den lebendigen und belebenden Geist Shakespeares erhalten? Ich denke, nicht auf einer Studienreise nach den Schaubühnen Englands, sondern durch das Buch.

Man muß wahrlich eine geringe Meinung von der Einbildungskraft hegen, um zu glauben, das, was der Dichter aus seiner Seele hervorgeholt, könnte nicht von der Seele aufgenommen, die Bilder, die jener mit produktiver Vision schaute, könnten nicht mit rezeptiver Vision wiedergeschaut werden, zumal wir einen fortlaufenden Text als geistiges Schwungbrett besitzen. Bedarf etwa der Dichter, daß man ihm sein Drama zuerst vorspiele, damit ers schreiben kann? Wenn er aber das nicht braucht, warum sollten wir es zur Aufnahme gebrauchen? Und hier möge man mir auch nicht die musikalische Komposition und Aufführung entgegenhalten, weil ich sonst dasjenige darauf erwidern würde, was jeder bei dem ersten Versuche des Nachdenkens selbst finden kann. Angenommen, der dramatische Dichter habe bei seiner Arbeit immerfort die Bühne vor Augen gehabt   was ich hinsichtlich der Meister nicht zugebe  , so war das nicht die Lampenbühne (denn absolut theatralisch, als Schauspieler für Schauspieler, konzipiert kein Dichter), sondern eine Phantasiebühne vor Phantasieaugen, welche, wie wir später sehen werden, perspektivisch von der realen verschieden ist. Und wir sollten nicht die Kraft haben, dieselbe Phantasiebühne mit unsern Geistesaugen zu sehen? Wer nicht einmal das kann, um so schlimmer für ihn; wir andern aber begehrten, daß es auf Erden keine schwierigere Aufgaben geben möchte.

Überhaupt stammt die Meinung von der Unzulänglichkeit der Lektüre hinsichtlich des Dramas gar nicht aus der Erfahrung, sondern aus einem Interesse; aus dem Interesse nämlich, dem Theater die Unentbehrlichkeit und damit einen festen Platz in der hohen Kunst zu sichern. Wir haben es ja gesagt und werden es noch öfters sagen: unsere heutige Dramaturgie ist im Grunde nur Szenurgie und Schminkurgie. Wie löblich nun auch diese Wohltätigkeitsgesinnung sein mag, das Theater muß sich nach einer andern Daseinsbegründung umsehen.

Etwas ganz anderes zeigt die Erfahrung: nämlich daß wir abgelesenen Menschen von Zeit zu Zeit gern eine Geringschätzung aller Bücher affektieren. Wie der Trunkenbold gelegentlich auf den Wein schimpft, so lästern wir heute das Buch, in der Meinung, uns dadurch von der Lese- und Schreibeseuche zu heilen. Allein an der Vielschreiberei sind die Poesiebücher unschuldig, indem dieselben vielmehr ein Gegenmittel gegen Polybibliographie bedeuten. Dann nenne ich es auch eine verkehrte Maßregel, die Quellen zu verunreinigen, um sich für Überschwemmungen zu rächen. Wir mögen uns noch so sehr dagegen sperren, wir bleiben einmal Buchmenschen; und das ist, alles wohl verrechnet, mehr Gewinn als Verlust. Wer sich für diese Rechnung interessiert, der nehme keinen Anstand, sie bei Buckle nachzusehen, eingedenk der Wahrheit, daß selbst die umfangreichsten philosophischen Werke mitunter einige vernünftige Bemerkungen enthalten.

Fassen wir nunmehr unser Thema wieder von einer neuen Seite.

Erfährt der Leser eines Dramas, wenn er dasselbe nachträglich im Theater schaut, die deutliche Empfindung eines Mehrgenusses?

Die Entscheidung scheint auf den ersten Blick unmöglich, in Betracht dessen, daß die ohnehin dunkeln Eindrücke noch durch Vorurteile unbewußt gefälscht werden und daß jedermann eine andere Antwort zu geben pflegt. Wir wollen indessen nicht jedermann fragen, sondern nur diejenigen, die befugt sind, das heißt, die sich in ein Drama vertieft und hineingelebt hatten und nun mit gespannter Neugier und Hoffnung den Vergleich anstellen. Zu unserm Zweck ist zudem Übereinstimmung des Urteils nicht vonnöten, da ja eine allfällige Meinungsverschiedenheit schon für uns beweist. Freilich bilden die unbewußten Fälschungen des Eindrucks, zu deren Ausmessung kein Werkzeug erfunden ist, eine Schwierigkeit; im allgemeinen können wir jedoch sagen: jene Täuschungen werden in einer Angelegenheit, die als Angelpunkt der deutschen Ästhetik gilt, in Menge vorkommen, und sie werden sich fast ausnahmslos zugunsten des Theaters vollziehn, weil wir allzumal infolge unserer Erziehung mit unserem Herzen und Glauben für das Theater eingenommen sind.

Nun hat sich, allen Wünschen zum Trotz, die Tatsache nicht einzugestehen, doch allmählich das Bewußtsein herausgebildet, daß man sich bei weitaus den meisten berühmten Dramen in seinen szenischen Hoffnungen enttäuscht fühlt; auch wird heute diese Enttäuschung ziemlich allgemein, zwar nicht offen und ehrlich, aber immerhin versteckt und ehrlich zugegeben. Nämlich zu einem allgemeinen Eingeständnis läßt sich niemand herbei, weil man hiemit die Grundlagen des Theaters anzutasten fürchtet, dagegen in betreff jedes besondern Dichters und jedes einzelnen Stückes sagt man sichs unverhohlen: Die Aufführung hat mir nicht geboten, was ich erwartet hatte. Jeder faßt zwar den besondern Fall als Ausnahme, diese Ausnahmen jedoch erstrecken sich so sehr auf alles und jedes, daß es kaum einen einzigen großen Dramatiker noch ein einziges klassisches Meisterwerk geben dürfte, von welchem nicht von urteilsfähigen Männern wäre entschieden worden: Es wirkt auf der Bühne nicht in dem Grade, wie ich mir vorgestellt hatte. Die deutschen Bühnenbearbeitungen Shakespeares und Goethes haben neben äußern Nebenursachen zum tiefsten Grunde das Eingeständnis dieser Enttäuschung; und was Freytag über Schiller sagt, seine Stücke bedürften weniger als andere der Ergänzung durch das Theater, gesteht dieselbe Enttäuschung in der Umschreibung. Von den Shakespeareschen Stücken lautet das Urteil der Franzosen, ferner dasjenige vieler Engländer (Lamb), endlich in Deutschland dasjenige Gottschalls, daß sie auf der Bühne geradezu verlieren.

Wo bleiben nun schließlich jene Dramatiker und jene Werke, bei welchen die behauptete Ergänzung eintritt? Lessing und Kleist. Und das stimmt denn zu unserer Ansicht, daß nicht die ersten, sondern die zweiten und dritten Dramenreihen ersichtlich durch die Aufführung gewinnen. Nun beweist die Enttäuschung an sich nichts gegen den Wert des Theaters, sie beweist nur, daß man die Hoffnungen und Erwartungen überspannt hatte. Und an letzterem eben trägt die Ergänzungstheorie die Schuld, die da lehrt, das Buch liefere bloß die Umrisse, zu welchen die Aufführung Zeichnung und Farben hinzufüge, während doch die poetische Zeichnung in der Handlung und in den Charakteren und die poetische Färbung in den Worten liegt, was alles uns schon das Buch gegeben hatte. Weshalb denn auch die Aufführung weder etwas Neues noch etwas anderes bieten kann, sondern nur die Wiederholung desselben Bildes in stereoskopischer Vertiefung. Stärkeres und deutlicheres Hervortreten der Gestalten, das ist für den Genießenden der Gewinn der theatralischen Vorstellung, nicht aber Ergänzung. Was nun den Wert dieses Gewinnes betrifft, so gibt es Menschen, die in Verzückung geraten, wenn sie ein Gemälde durch ein Stereoskop sehen; das sind die Menschen ohne malerische Augen oder, was dasselbe heißt, ohne malerische Phantasie. Andere schauen sich ihre Meister lieber in ebener Bildfläche an; das sind die Maler und ihre Verwandten. Ähnlich verhält es sich mit dem Drama. Wer nicht imstande ist, mit Dichteraugen zu lesen, der wird durch das Dioramenbild des theatralischen Guckkastens über die Maßen entzückt, dem andern sagt dasselbe nichts Hauptsächliches mehr, als was ihm die Phantasie schon mitgeteilt hatte, und sagt es ihm vielleicht unechter.

Gehen wir hingegen mit bescheidenen Erwartungen ins Theater, machen wir uns zuvor klar, daß wir keine Vermehrung, sondern bloß eine Verstärkung der Buchwirkung hoffen dürfen, dann wird auch das Gefühl der Enttäuschung wegfallen, und wir werden dem nebensächlichen Gewinn, welchen wir von der Aufführung holen, gerechter werden. Der Gewinn aber wird ungefähr folgende Bestandteile enthalten: vor allem mimische Genüsse, in Deutschland namentlich dann, wenn ausländische Gäste auftreten; ferner Vergleichung der eignen Auffassung mit einer fremden; ferner allfällige Verbesserungen und Ergänzungen einer subjektiv fehlerhaften Lektüre, Enthüllungen von Einzelheiten, die einem im Eifer der stofflichen Neugierde entglitten, und dergleichen; ferner kleine divinatorische Weiterführungen der Dichtung durch einen großen Schauspieler; ferner Aufdeckung unscheinbarer Beziehungen zwischen Handlung und Charakter; endlich geschickte Konjekturen über rätselhafte Stellen.

Hiemit darf ich die Ergänzungslehre in allen ihren Formen für widerlegt halten, und ich könnte mir zur Not weitere Untersuchungen der theatralischen Ästhetik ersparen, da wir ja schon aus den bisherigen Resultaten auf die Entbehrlichkeit des Theaters für das Drama schließen dürften; doch halte ich es für richtiger, den Gegner über die Grenze zu verfolgen, um seine Schwäche noch deutlicher zu beweisen. Und da mache ich mich denn anheischig, darzutun, daß die theatralische Darstellung, die so überlegen vom Buchtext denkt und spricht, ihrerseits ein Defizit gegenüber der Lektüre ergibt, daß, während sie das Buch nicht ergänzen kann, sie selbst durch die Lektüre ergänzt werden muß.

Die Fehler und Mängel der theatralischen Aufführung

Der theatralische Kunstgenuß ist ein passiver

Dadurch, daß statt einer geistigen eine leibhaftige, handgreifliche Erscheinung an den Menschen herantritt, wird uns der größte Teil der Phantasietätigkeit, die einem sonst beim Poesiegenuß zugemutet wird, abgenommen. Die Seele setzt sich in den Lehnstuhl zurück und läßt, zwar mit offnen Augen und wachem Geist, das Drama über sich ergehen. Nun ist der Lehnstuhl freilich eine russische Schaukel; wir werden zwischen Himmel und Hölle durch alle psychologischen Stationen geworfen, und unser Herz erleidet dabei Erschütterungen wie kaum anderswo; aber es bleibt immerhin eine Passivgymnastik. Damit soll jedoch nicht behauptet werden, daß alle und jede Phantasietätigkeit lahmgelegt werde; das Interesse am Stoff, die Spannung auf das Folgende, die Begierde nach einer Lösung, selbst die Kritik bekunden das Walten derselben. Allein nur die peripherischen Nerven der Phantasie kommen dabei ins Spiel, hingegen das Zentralgebiet, wo die Visionsenergie mit dem Produktionsdrang wohnt, bleibt untätig. Jeder vollkommene Kunstgenuß aber muß produktiver Natur sein; die vom Meister vorgezeichneten Bilder müssen wiedergeboren werden. Ich möchte die Vermutung wagen, daß niemals ein lebenskräftiges Drama während einer Theateraufführung konzipiert worden ist. Im Buch aber   das wird kein Dichter leugnen   wirkt fremde Größe auf eigene Originalität wie die Herausforderung auf den Starken.

Der theatralische Kunstgenuß ist unlauter

Wir haben Gewaltigkeit der Eindrücke als eine Eigentümlichkeit des Theaters zugegeben. Diese Gewalt vermag natürlich gleichmäßig edlen wie unedlen Bestrebungen zu dienen, und ihre richtige Ausnützung ruht zum großen Teil in des Dichters Händen. Allein im Grunde liegt schon in der Neigung, sämtliche Wirkungen möglichst stark hervorzutreiben   eine Neigung, die dem Theater angeboren ist  , eine künstlerische Verirrung. Doch darauf will ich kein Gewicht legen; die Mittel vielmehr sind es, die ich unlauter nenne.

Die Gewalt der theatralischen Eindrücke wird vielfach durch Rohheit gewonnen, namentlich im Gebiet der Handlung, besonders der Katastrophe. Ich weiß nicht, an welchem Punkt der hundertjährige Prozeß über den Mord auf der Bühne sich heute befindet; wenn ich mich nicht irre, ist er einfach eingeschlafen. Da ich nun nicht Zeit habe, noch einige Jahrhunderte auf das Urteil zu warten, so werde ich mir erlauben, dem Gegenstand von jungem mit der gemeinen Vernunft zu nahen. Es beliebt unserer Shakespearebildung, sehen zu wollen, wie die Helden auf der Bühne umfallen und ihre Todeszuckungen ausführen. Nun wird weder das Beispiel Shakespeares noch irgendein anderes Mittel verhindern können, daß der Todeskampf auf offener Bühne je nach dem Stil der Mimik entweder unerträglich lächerlich oder unerträglich scheußlich ausfällt. Begnügt sich der Schauspieler mit einem allgemein angedeuteten Tödchen, so stimmt das nicht zu der übrigen realistischen Darstellung sämtlicher Handlungen und Gebärden und erinnert uns plötzlich daran, daß wir in einem Puppenkasten sitzen, wo die Schauspieler nicht Menschen, sondern Hampelmänner nachahmen, die statt Blutes Kleie im Leib führen. Sucht umgekehrt der Schauspieler eine Kunst darin, die Zeichen des Todeskampfes und Todeskrampfes getreu wiederzugeben, so verletzt er unser Auge, unsere Nerven und unser Gefühl. Auf die eine wie die andere Weise bleibt das Sterbenspielen eine Frechheit und eine Beleidigung. Der Tod ist eine pathologische Tragödie für sich, die nicht ins Theater, sondern ins Krankenhaus gehört. Man mag einwenden, das sei Gefühlssache; es gibt aber rohere und feinere Gefühle. Und was von dem Mord, das gilt in geringerm Grade von jeder schaurigen Handlung. Daß sogar jede physische Handlung, ganz abgesehen von ihrer Färbung, ein Körnchen Brutalität in die Poesie wirft, das nachzuweisen werden wir vielleicht ein anderes Mal Gelegenheit finden.

Die Stärke der theatralischen Wirkungen wird dann anderwärts durch künstliche Reizung der Genußnerven erreicht. Wir erhalten im Theater gepfefferte, in jedem Fall gewürzte Eindrücke. Zwar wehrt sich die Kritik gegen das Übermaß der Gewürze, wie denn der Name ‹Sensationsstück› einen Tadel besagt. Allein man vergißt dabei, daß jeder theatralische Effekt von Hause ein Sensationseffekt ist. Und was ist denn zum Beispiel die hochgerühmte Spannung anders als eine berechnete Reizung der Neugierde? Auf welche Art erzielt das Theater seine unvergleichliche Macht über die Tränen als durch krampfhafte Erschütterungen unserer Nerven mittelst kleinlichen, erbarmungslosen Ausmalens aller Zeichen des Schmerzes? Ist das aber der Zweck der Poesie oder auch nur ein Gewinn für die Poesie? Ich fürchte, das Gegenteil.

Selbst das eigentlich Tragische ist unter Umständen ein unsauberes Gewürz. Es wird so viel von den heilsamen Wirkungen des Tragischen gesprochen; dieselben fordern jedoch als Bedingung, daß der einzelne tragische Vorgang durch das gesprochene Wort in dichterische Höhe erhoben werde. Berauben wir ein tragisches Ereignis seiner lyrischen und idealen Hebel, so entleeren wir dasselbe seiner veredelnden Eigenschaften und begünstigen den unechten, verwerflichen tragischen Trieb, das heißt die krankhafte Lust, Leiden mit anzuschauen. Was die meisten Menschen ins Trauerspiel lockt, ist derselbe Trieb, der sie zwingt, durch die Vorhänge zu blinzeln, wenn jemand begraben oder hingerichtet wird.

Die theatralischen Mittel sind so vielseitig, daß wir noch eine andere Effektgruppe qualifizieren müssen, nämlich die optische. Die Wichtigkeit, welche das Theater dem Schneider, Tapezierer und Feuerwerker beimißt, wird immer beschämend für beide Teile sein, für das Publikum wie für das Theater. Wie unnütz und hinderlich der kindische Zierat für ein Drama ist, hat man zur Genüge nachgewiesen. Hingegen finde ich einen Umstand nirgends erwogen, der dieses eitle Blendwerk noch schmählicher erscheinen läßt. Nämlich all diese flimmernde Augenweide ist nicht nur vom poetischen, sondern sogar vom optischen Standpunkt wertlos, weil unschön. Freilich erhalten wir ja gewisse zauberhafte Beleuchtungseffekte; und ich bin der erste, mich daran zu erfreuen. Allein diese optischen Effekte tragen doch einen ausgesprochen bengalischen Charakter und erinnern an den Zirkus. Dem gegenüber stehen dann positive szenische Häßlichkeiten: Fehler der Perspektive und Proportion und grelles unnatürliches Licht. Was allein ein wahres Bild zustande bringt, die vermittelnden Schattenstufen und die vereinigende Luft mit ihrer Perspektive, fehlt hier. Der Regisseur mag Berge, Täler, Städte, Ströme und Himmel erscheinen lassen, es gedeihen niemals Landschaften, es bleibt immer eine Handels- und Gewerbeausstellung. Haarscharf, von nichts umgeben, wandeln die Personen umher, wie durch eine metaphysische Entfernung von den Kulissen getrennt. Farbenharmonie ist bei dieser Beleuchtung natürlich unmöglich und wird auch kaum angestrebt; die Personen erscheinen ausstaffiert wie zum Maskenball; man erwartet, wenn sie auftreten, daß sie eine Polonaise tanzen werden, um einen Preis für das gelungenste Kostüm davonzutragen. Was ein malerisches Auge am meisten verabscheut, das Funkelnagelneue, das stolziert prahlerisch vor unsern Binokeln. Aus dem geliehenen Zeug aber gucken die Gesichter der Schauspieler fremdartig mit schneidender Grenzlinie hervor, als wären sie geköpft und wieder aufgesetzt, so daß man auf den ersten Blick die Photographie eines ‹Helden› im Dragonerrock von der Photographie eines wirklichen Dragoners unterscheiden kann. Die Gebärden stimmen kaum besser; man spürt, daß der Mann sich in geliehenen Kleidern bewegt. Hiezu kommen dann die optischen Mängel, welche allem Falschen und Unechten anhaften, die papiernen Kronen, die aufgeklebten Bärte, der Pfenningschmuck und tausend andere Dinge mehr. Wer die Summe aller optischen Sünden eines Bühnenbildes erfahren will, der schlage die erste beste Nachzeichnung eines solchen auf, wie man sie in unsern illustrierten Zeitungen nur zu häufig findet; dann vergleiche er dieselbe mit der Nachzeichnung irgendeines Gemäldes oder eines Naturbildes. Wie jenes unter allen Umständen abscheulich aussieht! Wie es selbst hinter dem schwächsten Werk eines Bildners noch um eine unendliche Länge zurückbleibt!

Nun ist optische Häßlichkeit der Bilder kein Ding von geringer Bedeutung in einer Anstalt, die sich auf Optik gründet und sogar mit ihrem Titel an das Auge appelliert. Es geschieht vom Theater aus unvermerkt eine fortlaufende Verziehung und Verrohung des Auges, deren Spuren an den entferntesten Orten zu finden sind, und nicht zum wenigsten bei dem dramatischen Dichter, welcher nur zu bald seine Visionen den geschauten und gewohnten Szenenbildern anpaßt. Wenn ich daher die optischen Künste des theatralischen Dioramas wertlos und unschön nannte, so war das ungenau ausgedrückt: nicht wertlos, sondern verderblich, nicht unschön, sondern häßlich müssen wir sie heißen.

Neben den optischen Sünden gehen die akustischen einher. Zwar liegt im Wesen des Theaters kein Grund, warum der Schauspieler seine Verse entweder mit hohepriesterlichem Pathos oder mit dem Akzent eines erzürnten Bataillonskommandanten hervorschleudern soll, und ich will gerne im Prinzip zugestehen, daß die größten Schauspieler diesen Fehler vermeiden, weshalb ich denn auch kein Recht habe, denselben als einen ständigen Bresten dem Theater zum Vorwurf zu machen. In Wirklichkeit freilich   und die Wirklichkeit spielt im Leben eine große Rolle   hört der deutsche Theaterbesucher für gewöhnlich, wenn nicht einen gesucht alltäglichen, dann einen pneumatischen Vortrag, und dieser trägt dann das Seine dazu bei, daß man es unserer Generation anspürt, daß sie mit der Bühne Fühlung bekommen hat.

Der theatralische Kunstgenuß ist ein unfreier

Eine zufällige Sammlung von Menschen wird von der Bühne herunter dichterisch bearbeitet. Nun ist es keineswegs gleichgültig, ob ich etwas einsam höre und sehe oder im Aggregatszustand. In Versammlungen herrscht eine geistige Mittelströmung, eine Kollektivpsyche, deren Mechanik und Statik ein großer Philosoph hat nachrechnen wollen. Wie vermessen dies auch war, das Phänomen selber ist nicht zu leugnen; sehen wir doch mitunter eine Gesellschaft nach einem Ziel fortgerissen, welches jeder einzelne nicht will. Durch diese Strömung wird denn auch die Wirkung eines Dramas im Theater beeinflußt, ein Umstand, der oft bemerkt worden ist. Es gibt Abende, wo sämtliche Effekte versagen, andere wieder, wo ganz dieselben vor ungefähr dem nämlichen Publikum Schlag für Schlag treffen; und nachdem einmal die Allgemeinstimmung sich erklärt hat, teilt sie sich dem einzelnen mit, einzig die Widerspruchsnaturen ausgenommen. Ob nun diese merkwürdige Kraft für einen Gewinn oder für einen Schaden anzusehen sei, darüber gehen die Meinungen auseinander. Von den einen wird die Kollektivpsyche als ein Sirup aus den besten Gefühlen, die in jedem einzelnen wohnen, geschildert, so daß tausend Menschen zusammen edler gestimmt wären als dieselben tausend für sich allein. Diese Anschauung hat allerlei für sich; es steht zum Beispiel fest, daß das Schicklichkeitsgefühl in Versammlungen empfindlicher urteilt als sonst, daß bei einem unanständigen Wort von der Bühne auch solche Leute erröten, die sich anderswo an den Witzen eines «Simplizissimus» erfreuen. Von der andern Seite dagegen wird gelehrt, daß in Versammlungen der Herdencharakter des Menschen zum Vorschein komme, der sich in verschiedenen Gebieten verschieden, in ästhetischen Angelegenheiten als Hang zum Blödsinn offenbare; wie denn unter andern Zola behauptet, die geistreichsten Menschen würden dumm, wenn sie zusammen im Theater säßen. Auch diese Anschauung hat vieles für sich. Da ich mir zwischen diesen widersprechenden Meinungen keine Entscheidung anmaße, halte ich mich an das Unbestrittene: während einer Aufführung herrscht im Zuschauerraum eine elektroanimalische Kraft, durch welche die Stimmung und das Urteil des Einzelnen gewaltig beeinflußt wird. Jeder kann die Probe im kleinen selbst anstellen: Man lese eine Arbeit poetischer Natur in zwei verschiedenen Gesellschaftskreisen vor, von welchen der eine in der Mehrzahl dem Werk kongenial, der andere in der Mehrzahl fremd und kühl gestimmt ist. Da wird jedesmal auch die Minderheit, hier dem Unbehagen, dort dem Beifall in hohem Grade nachgeben, selbst dann, wenn die einzelnen für sich eines unabhängigen Urteils gar wohl fähig wären.

Neben den geheimnisvollen Einflüssen der Kollektivität kommt aber auch die einfache Pluralität in Betracht, deren Rückwirkungen leichter zu begreifen sind.

Das Bewußtsein, sich in Gesellschaft zu befinden, bringt nämlich Veränderungen in der Aufnahmsfähigkeit jedes einzelnen hervor. Sei es nun das Gefühl der eignen Wenigkeit oder der Zwang andauernder Muskelruhe oder der festliche Anblick geschmückter Mitmenschen oder was immer, es entsteht in großen und vollen Sälen eine gewisse Erregtheit. Kunstgenüsse in Versammlungen sind lebhafter, aufregender und erschöpfender als einsame. Manche Wirkungen, die der theatralischen Kunst zugute geschrieben werden, stammen einfach aus dem Gesellschaftsbewußtsein und Ellenbogengefühl. Ist nun dieses Bewußtsein für den Kunstgenuß störend? Wirkt dasselbe zerstreuend? Verhindert es die Versenkung der Seele in den Stoff? Dies im allgemeinen zu bejahen, wäre ein großer Irrtum, denn tausend Beispiele lehren das Gegenteil. In der Kirche, im Konzertsaal, in der Akademie, vor dem Tribunal lassen wir uns unbehindert von der Umgebung willig und vollständig hinreißen, ja für einen großen Teil der Menschheit scheint sogar der Ellenbogentrost eine unerläßliche Vorbedingung für jeden Kunstgenuß zu sein. Um ein Gedicht zu lesen, bedürfen sie Kränzchen oder Familienabende; sollen sie ein Gemälde sehen, so requirieren sie Vorspann; damit sie einem Musikstück lauschen, müssen viele Gäste geladen und alle Lichter angezündet werden. Immerhin sind einige Vorsichtsmaßregeln zu beobachten, damit der Kunstgenuß im Pluralis gedeihe; unter anderm ist nötig, daß sämtliche Anwesenden bis zu einem gewissen Grade stille schweigen. Wenn die geehrten Nachbarn anfangen, ästhetische Gemeinplätze vor meinen Ohren auszutauschen oder wenn die ganze löbliche Versammlung vor Kunstgenuß überlaut zu schreien anfängt, so fördert das meine Andacht nicht. Im Theater aber herrscht eine wahre Tobsucht; da ist des Halli und des Hallo mit den Schauspielern kein Ende. Was würden wir im Konzert dazu sagen, wenn während einer Symphonie jede Kantilene mit einer Ovation für die Klarinette und jeder Kontrapunkt mit einem Triumph für die Bässe belohnt würde? Die Unterbrechung des Stückes und die Unannehmlichkeit des nicht immer musikalischen Lärmens für das Ohr sind dabei die geringsten Übelstände, obschon es, beiläufig gesagt, eine merkwürdige Sitte ist, für Schönheiten mit Gebrüll zu danken. Schlimmer ist folgendes: diese tobenden Meinungsäußerungen erheben zugleich den denkbar lautesten Anspruch auf ein Kunsturteil. Ich muß also Schritt für Schritt die Kritik meiner lieben Mitchristen anhören, die mich vielleicht interessiert, vielleicht auch nicht, um die ich aber jedenfalls nicht gebeten habe. Wir befinden uns im Theater unter der Bedingung eines Romanlesers, dem links und rechts Unbekannte über die Schultern sähen, um ihm bei jedem Satze in die Ohren zu rufen: «Das mißfällt mir; das da weniger; das ist dumm; das hingegen ist nun wieder prächtig.»Ich zweifle, ob dies dem Romangenuß zuträglich wäre.

Diese ewigen Gesamturteile durch lärmenden Zuruf versetzen den einzelnen unter die Tyrannei einer Ochlokratie, wo ihm nur die Wahl verbleibt, entweder mitzutun oder, falls er anderer Ansicht ist, über die Klugheit seiner Nebenmenschen Vermutungen aufzustellen, was jedenfalls nicht zur poetischen Absicht des Dramas gehört. Und bei dieser Gelegenheit erfahren wir denn wieder einmal im besondern, was wir im allgemeinen schon wissen: nicht gerade edel, aber recht gewaltsam wirkt eine theatralische Aufführung; das Drama springt einem in die Augen, wird einem um die Ohren geschlagen und schließlich noch in den Mund gestoßen. Für manche Naturen mag dieses Mittel, Poesie zu genießen, das richtige sein.

Die mimische Interpretation ist an sich fehlerhaft

Im Theater erhalten wir das Drama nach der Auffassung fremder Personen, der Schauspieler. Nun werde ich mich sorgfältig davor hüten, die gewöhnlichen Entstellungen der dichterischen Intuition durch den Schauspieler ausbeuten zu wollen. Es ist Sache der Tageskritik, dieselben in jedem einzelnen Falle nachzuweisen und zu rügen; eine ehrliche, prinzipielle Polemik dagegen soll dem Gegner immer die möglichst günstigsten Positionen einräumen. Und so sei denn zum voraus in diesem Abschnitt die Interpretation als eine sinnechte angenommen.

Unter dieser Voraussetzung wird die schauspielerische Auslegung als eine gründlich studierte, durch Vergleichung und durch berufliche Überlieferungen ausgebildete, mit einem Wort als eine virtuose der meinigen, dilettantischen wahrscheinlich überlegen sein. Nichtsdestoweniger ziehe ich einen höhern poetischen Gewinn aus meiner eignen, wenn auch unvollkommneren Interpretation, weil ich die meinige selbst erworben und selbst erlebt habe. Es ist dasselbe Verhältnis, wie wenn jemand ein Klavierstück selbst studiert oder sich von einem Virtuosen spielen läßt. Jenes ist unvollständiger, aber fruchtbarer; und wie es, um bei der Vergleichung zu bleiben, für das Verständnis eines Musikwerkes nicht ratsam ist, vor dem eigenen Studium einen bestechenden virtuosen Vortrag anzuhören, so möchte ich es auch für keinen Gewinn halten, die erste Bekanntschaft mit einem tiefsinnigen Drama im Theater zu schließen; denn es würde mir schwer fallen, mich je von der zufälligen Auslegung der betreffenden Schauspieler gänzlich zu befreien. Indem ich nämlich Echtheit der schauspielerischen ‹Interpretation› voraussetzte, so wollte ich unter Echtheit natürlich nicht einzig mustergültige Richtigkeit verstehen, weil diese ja tatsächlich unmöglich ist; es wird immer Raum für verschiedene gleichberechtigte Auffassungen offen bleiben.

Immerhin wird die studierte schauspielerische Interpretation, wenn wir dies Wort ‹Interpretation› im Sinne der gedanklichen Auslegung begreifen, durchschnittlich der Interpretation der Zuschauer überlegen sein, so daß den letztern im Theater öfters ein Verständnis über ein Werk aufgehen kann.

Ganz anders jedoch verhält es sich mit der betätigenden Interpretation des Schauspielers, ich meine, mit den Ausdrucksmitteln, die derselbe gebraucht, um uns seine tüchtige Auslegung darzubieten, also mit der Mimik. Dieses Ausdrucksmittel nenne ich fehlerhaft. Die mimische Darstellung oder vielmehr Übersetzung eines Dichtwerks nämlich vereinigt und überbietet die gesamten Übelstände, die wir an den sogenannten Klassikerillustrationen kennen, als da sind:

Vermöge der sinnlichen Augenscheinlichkeit wirkt die Illustration des Zeichners und ebenso die Illustration durch das lebende Bild eines Schauspielers beispiellos aufdringlich; die Interpretation eines Fremden maßregelt die meinige und droht dieselbe auszulöschen. Um sich erfolgreich dagegen behaupten zu können, müßte jedermann nach seiner eigenen Auslegung Privatillustrationen anfertigen; wir würden dann eine exegetische Polemik in Bildform erleben, wo blonde ‹Jungfrauen von Orleans› gegen braune und lange ‹Bräute von Messina› gegen korpulente zu Felde zögen. Wäre das Zeichnen und Malen eine ebenso verbreitete Gottesgabe wie das Schwatzen, kein Zweifel, wir würden auch auf diese Art unsere Klassiker ehren.

Übrigens ist die Vergewaltigung, welche die Illustration nach außen auf alle andern Interpretationen ausübt, die sie aufschlingt wie das Feuer den Nebel, um eine einzige Auffassung zu patentieren, nur der halbe Schaden; denn auch rückwärts, nach innen, der Poesie gegenüber, erweist sich die Illustration, die malerische wie die mimische, als ein fehlerhaftes Instrument.

Nämlich die Illustration sieht sich gezwungen, die Gestalten, die sie dem Dichter nachfühlt, mit all der Folgerichtigkeit und Genauigkeit durchzuführen, welche die malerischen und optischen Gesetze heischen; ein Ziel, das der Schauspieler durch das bloße Vorzeigen seines Körpers auf die denkbar bequemste Weise erreicht. Nun herrscht kein Zweifel, daß das malerische Bild sowie das leibhaftige Manns- oder Weibsbild eines Schauspielers vielmal schärfer und folgenstrenger aussieht als das Visionsbild irgendeines Dichters, zumal eines Dramatikers. Kein Dramatiker schaut im Geist an seiner Heldin die große Zehe oder die Nasenlöcher. Nach dem Interpretationswert beurteilt, erscheint daher sowohl ein Kupferstich wie ein Schauspieler eine übertriebene Auslegung. Ist vielleicht diese Übertreibung eine poetische Vermehrung über den Dichter hinaus? Die plastophilen Neigungen der deutschen Poetik begünstigen eine bejahende Antwort. In der Tat gilt ja bei uns der Grundsatz, je schärfere Umrisse dichterische Gestalten aufweisen, um so vollendeter seien sie, und wir nehmen folgerichtig an, die Bestimmtheit der leiblichen Zeichnung dürfe mit rücksichtsloser Strenge durchgeführt werden. Ich halte jedoch diese Silhouettentheorie, die, beiläufig gesagt, jungen Ursprungs ist, für den Grundirrtum der modernen Poetik. Nämlich die Unbestimmtheit, in welcher die poetische Einbildungskraft die Umrisse ihrer Personen zu halten pflegt, ist keine Unvollständigkeit, die der Nachhilfe des Illustrators oder Schauspielers bedürfte, sondern vielmehr eine wesentliche Eigentümlichkeit und Tugend der Dichtkunst; also daß die Verdichtung und Verschärfung der Gestalten zu plastisch und photographisch genauen Gegenständlichkeiten eine Schädigung bedeutet. Poetische Menschenbilder wollen nicht mit scharfen Umrissen, sondern im Nimbus ihrer eigenen Seele geschaut sein. Idealporen öffnen sich aus ihrem Innern nach der Umgebung, aus welchen Willen und Taten ausstrahlen, die ihrerseits wie Realitäten geschaut werden und die, mit dem Zentralherd des seelischen Charakters zusammengesehen, die innere Physiognomie des Helden ausmachen. Mit einem Wort: das Fühlen und das Handeln, das sind die wahren Gesichtszüge der poetischen Gestalten, und wenn es dem Dichter vielleicht gefällt, uns die Form der leiblichen Augen oder Glieder mitzuteilen, so zerstören wir dies Zeugnis mit unserer Einbildungskraft, um die Bilder trotzdem frei nach unsern Eindrücken zu zeichnen. Man wird mir einwenden, ich entwerfe eine Karikatur, ich hätte nur phantastische Konzeptionen im Auge. Ich werde darauf antworten, erstens, daß der größte Dramatiker wie der größte Epiker (der in dieser Beziehung nicht nach Jordanschen Regeln verfährt) die leibliche Physiognomie seiner Helden kaum andeutet, zweitens, daß auch kein moderner Dichter, und möge er noch so plastisch veranlagt oder gewillt sein, seine Figuren von ihren Taten losgetrennt schaut; es gehen immer Bogenlinien und Glanzlichter herüber und hinüber. Ich werde ferner hinzufügen, daß jeder Dichter und jeder Genießende, wer er auch sei, dem Helden nicht die natürlichen, sondern die moralischen Größenverhältnisse leiht und die Umgebung desselben nicht in physischer, sondern in geistiger Perspektive schaut, daß wir uns mit der Phantasie bücken, wenn im Gedicht jemand in ein Haus tritt, daß wir auf seinen Wegen die Entfernungen verkürzen und Wälder und Berge herabdrücken.

In einem Gedicht haben Menschen und Dinge die Ausdehnung ihres Wertes. Um ein letztes klares Beispiel zu geben: Wenn wir ein Gedicht lesen, so reduzieren wir unwillkürlich die größten Krönungssäle zu Zimmern, wo die Wände, in unbestimmter Erscheinung angedeutet, nahe an die Personen heranrücken. Wir schauen aber niemals in einem Gedicht weder eine Höhe noch eine Entfernung naturgemäß an; immer überragen die Menschenbilder Raum und Zeit und Sache.

Alle diese Phantasieproportionen, welche zum eigensten Wesen der Poesie gehören, werden mit einem Schlage zerrissen, sobald eine dichterische Gestalt in körperlicher Festigkeit und Begrenztheit klein und dick auf der Bühne vor unsere Augen tritt, sechs Fuß Mensch, verloren in einem ungeheuren Guckkasten. Die Phantasiebühne des Dichters und des Lesers hatte richtigere, das heißt poetischere Proportionen; setzt man an ihre Stelle die leibhaftigen Bretter, dann schrumpft alsobald der Held zusammen, während die Wände emporwachsen und eine gähnende Lufthöhle die Mitte des Bildes einnimmt.

Der Schauspieler interpretiert ferner das dichterische Drama nicht allein plastisch durch sein Körperbild, sondern auch mimisch durch Gebärden. Und hier gelangen wir denn zu einem wichtigen Punkt unserer Abhandlung.

Es gibt eine mimische Kunst, das bestreitet niemand; diese Kunst hat natürlich ihre eigentümlichen Gesetze, Regeln und Bestrebungen. Indem nun diese Kunst freiwillig ihre Kräfte zum Dienste der Poesie anbietet, folgt daraus, daß das Anerbieten angenommen werden solle? Ja, wenn die Gesetze und das Ziel der Mimik die Poesie fördern; meinetwegen auch, wenn sie ihr im ganzen nicht widerstreben und wenn sie in einzelnen untergeordneten Streitfällen sich bescheiden unterordnen. Wollte jemand behaupten, die Mimik fördere die Poesie, das heißt vermehre den Wert eines dramatischen Kunstwerks, so müßte er es beweisen; das ist nicht unsere Sache; meint man aber nur eine Vermehrung der dynamischen Wirkung, so haben wir in dieser Beziehung schon unsere Zugeständnisse gemacht und begrenzt. Nach den gewonnenen Ergebnissen haben wir es nunmehr mit der Annahme zu tun, die Mimik stimme in ihrem Parallelgang mit der Poesie überein.

Nun hieße es Advokatenpolemik treiben, wenn ich, um meine Sätze zu stützen, die augenfällige Tatsache vertuschen wollte, daß die mimische Kunst sich im groben und ganzen vortrefflich an die Poesie anzuschmiegen vermag, daß die Mimik sich bei diesem Dienst wohlbefindet und die Poesie nicht übel. Um dies festzustellen, bedarf es keiner Erörterungen; denn verhielte es sich anders, die dramatische Dichtkunst würde der Mimik den Dienst längst aufgekündet haben. Das hundertjährige Dasein eines mimischen Theaters neben einem deklamatorischen ist also ein Zeugnis für die Möglichkeit, daß mans miteinander aushalten kann. Um ganz aufrichtig zu sein, müssen wir sogar hinzufügen: sie bezeugt zugleich ein populäres Bedürfnis nach mimischen Zutaten zu einem Drama.

Unerlässliche Vorbedingung bleibt jedoch das Dienstverhältnis, das heißt der Wille und die Gewohnheit seitens der Mimik, ehrerbietig zu gehorchen, also erstens zu fragen, ehe sie etwas unternimmt, und zweitens zu schweigen, wenn ihr von der Poesie etwas befohlen oder verboten wird. Wenn es hingegen der Mimik einfällt, den eignen Herrn zu spielen und sich alles zu erlauben, was ihr beliebt, dann geht es so, als wenn ein Diener tun möchte, was er mag, und seinem Herrn zumutete, sich danach einzurichten. In beiden Fällen ergibt es sich, daß derjenige, den wir als Knecht leiden, uns darum nicht zugleich als Gesellschafter oder gar als Ratgeber und Lehrer willkommen ist, sondern wir werden ihm vielmehr die Haustür weisen. Nämlich die Sitten, die Gesinnungen und die Liebhabereien von Herr und Diener, sobald diese unabhängig als gleichberechtigte Freunde nebeneinander wohnen wollen, geraten jeden Augenblick in Streit. Daß ganz derselbe Zwiespalt der Gesinnungen, Sitten und Liebhabereien zwischen Dichtkunst und Schauspielkunst obwaltet, das lehrt die Erfahrung auf Schritt und Tritt. Jedesmal, wenn man die Gutmütigkeit hat, die Mimik zu fragen, was sie möchte, mag sie etwas, was die Poesie nicht will.

Auch ist jener Zwiespalt längst gebucht worden. Er tönt als Kehrreim aus allen unsern Dramaturgien hervor; bei dieser wie bei vielen andern Gelegenheiten verdanken wir den deutschen Dramaturgen scharfsinnige und schätzenswerteste Beobachtungen, wie wir ihnen denn auch nur das eine vorzuwerfen haben, daß sie ihre feinen Gedanken zu einem Generalstrick zusammendrehen, mit welchem sie den Autor erwürgen. Untersuchen wir den Widerstreit zwischen Mimik und Dichtkunst etwas genauer.

Die mimischen Hauptakzente fallen nicht mit den dichterischen zusammen

Die poetisch schönsten Stellen eines Dramas sind nicht dieselben, welche dem Mimen am willkommensten erscheinen, eher ließe sich das Gegenteil sagen. Nämlich die mimischen Glanzpunkte fallen sogar mit Vorliebe seitwärts neben die Poesie. «Die Kunst des Schauspielers ist besonders da mächtig, wo der Dichter wohl einen Gedankenstrich anbringt» (Freytag). Das nenne ich eine höchst inhaltreiche und fruchtbare Beobachtung. Nämlich eine Kunst, die besonders da anfängt, wo die andere aufhört, kann schwerlich berufen sein, sich der Nachbarin als unentbehrlich an die Fersen zu hängen. Hätte ich jenen Satz ausgesprochen, ich würde aus ihm allein die Entbehrlichkeit des Theaters für das Drama geschlossen haben.

Indem also die Mimik sich besonders da stark zeigt, wo die Poesie nicht ist, darf es uns nicht wundern, wenn die letztere mitunter von ihr als eine Störung betrachtet wird. Und an dieser Anschauungsweise herrscht gegenwärtig auch kein Mangel. Wer kennt nicht die Mono- und Dialogophobie unserer heutigen Schauspieler? Freilich dürfen wir keineswegs die mimische Kunst überhaupt für solche vorübergehende Ausschreitungen verantwortlich machen; es ist klar, daß die meisten Schauspieler nur deshalb die Sprache verabscheuen, weil sie den schwierigsten Teil ihrer eignen Kunst, nämlich die Rhetorik und die rhetorischen Gebärden, nicht verstehen; statt von dem Dichter dürfte man oft mit besserm Recht von dem Schauspieler verlangen, bühnengerechter zu arbeiten. Immerhin liegt die Wurzel des Bösen im Wesen der Mimik; denn die Mimik will Handlung, Handlung und noch einmal Handlung, je mehr, desto lieber, die Poesie hingegen kann nur ein vorsichtig abgemessenes Maß von Handlung dichterisch verwerten und muß daher jeden stofflichen Überschuß ablehnen. Es ist viel guter Wille und Selbstbeherrschung und vor allem viel Bescheidenheit, durch Bildung errungen, vonnöten, damit der mimische Schauspieler auf seine separaten und disparaten Wünsche verzichte und die Gegenwart der Poesie nicht nur ertrage, sondern auch als die Erscheinung seines Herrn und Meisters ehrfurchtsvoll und gehorsam begrüße.

Die Mimik hat ferner ein anderes Tempo als die Poesie

Ihr Herzschlag ist beschleunigter, ihr Puls aufgeregter; sie verleugnet eben nicht ihre Verwandtschaft mit der Tanzkunst und Gymnastik. Wie diese ist sie bewegungslustig; es prickelt und perpendikelt in ihren Muskeln; überall, wo die Schauspielkunst gänzlich ihrem Herzenszug nachgeben darf, verwandelt sie das Drama in ein Droma; das lehrt die Pantomime. Mit der ernst schreitenden Poesie über die Bühne wandernd, wird daher die Mimik öfters ungeduldig werden, was an sich nichts zu bedeuten hat, denn sie braucht einfach ihre Ungeduld zu zügeln. Eine Gefahr entsteht nur dann, wenn eine durch Schmeichelei verwöhnte anmaßliche Schauspielkunst der Poesie ihr Tempo aufnötigen und derselben zumuten will mitzuspringen.

Dieses ganze Verhältnis der mimischen Kunst zur Poesie ist in seinen Grundzügen bekannt und anerkannt; ich sage damit kaum Neues. Der Punkt, bei welchem ich von meinen geehrten Vorrednern abweiche, ist die Nutzanwendung. Man hat sich gewöhnt, folgendermaßen zu schließen: die Wünsche des Schauspielers und die Ziele des dramatischen Autors fallen oft nicht zusammen; der Schauspieler begehrt das und mag dies nicht leiden, folglich muß ihm der Dichter nicht dies, sondern das geben. Ich habe versprochen, es wiederholt zu sagen; ich sage es daher zum drittenmal: unsere Dramaturgie verdient ihren Namen nicht, sie ist eitel Mimurgie.

Darüber muß vor allem Klarheit walten: wer soll im Drama befehlen, der Dichter oder das theatralische Konsortium? Wenn das letztere, dann sage man es laut und offen und deutlich, damit ein jeder wisse, was die wahre Meinung ist; auch empfehle ich in diesem Fall, dem Dichter einen berufsmäßigen Schauspieler anzuhängen, der ihm bei Spaziergängen über das Theatralische Belehrung erteilt, ihm während der Arbeit hilft und ihm Szene für Szene nachbessert, vorausgesetzt, man ziehe nicht vor, unter dem Theaterpersonal selbst die Autoren zu suchen; denn wer sollte besser wissen, was der Schauspieler bedarf, als der Schauspieler selbst?

Meint man aber, der Dichter allein solle einstweilen noch das Drama dichten und der Schauspieler müsse bis auf weiteres noch fortfahren, das Werk und nicht sich selbst als Zweck ins Auge zu fassen, dann tue man auch danach und mute dem Dichter nicht zu, der geschmeidige Sekretär des Gebärdenkünstlers zu werden.

Wie übrigens auch die Herren entscheiden mögen, der Dichter wird sich seinerseits ein Urteil erlauben, und dieses wird, wenn die mimischen Anmassungen sich in der bisherigen Weise steigern, endlich so lauten: In einem Hause, wo die Knechte mir, dem Herrn, Befehle erteilen wollen, wird man mich vergebens suchen. Das Schlußergebnis eines rücksichtslos durchgeführten Bühnen- und Schauspielerdramas wird lauten: entweder, wenn das künstlerische Gewissen der Dichter durch das szenurgische Geschrei übertäubt wird, eine gänzlich unliterarische, also wertlose Zugstückfabrik oder, falls die dramatische Poesie in Deutschland nicht umzubringen ist, was wir leider nach allen Erfahrungen bezweifeln müssen, ein erneuertes massenhaftes Auftreten von Buchdramen, die auf das Theater keine Rücksicht mehr nehmen.

Wie sollen wir dem vorbeugen? Kann man sich einmal nicht dazu entschließen, der verhätschelten Körperschaft der Mimen einige der Selbstbeschränkungen zu empfehlen, welche man dem Dichter in so reichem Maße gönnt, so sehe ich nur einen einzigen Ausweg: Man gewähre dem Mimen probeweise die begehrte Alleinherrschaft auf der Bühne; der Dichter ziehe sich vorläufig gänzlich zurück, und der Schauspieler bestelle sich von geschickten Textschreibern das Libretto, nach welchem ihn so sehnlich lüstet. Er handle und mime sich einmal gründlich aus und genieße sein Handwerk, bis sein Herz satt ist. Vielleicht wird er dann begreifen lernen, was für ihn die Dichtkunst wert ist, nicht die bühnengerechte, sondern die poesiegerechte; er wird wahrscheinlich etwas demütiger zurückkehren und sich anstelliger zeigen. Und siehe da, der Dialog und der Monolog wird plötzlich nicht mehr bühnenwidrig sein, und das Publikum wird auf einmal nicht mehr ‹unruhig werden›, wenn man ihm statt Intrigen Verse bietet.

Wohl möglich, daß aus einer solchen Episode eine selbständige mimische Kunst über einem rudimentären Text als Gewinn nachbleibt, und das würde ich mit Freuden begrüßen, denn ich hege eine zu günstige Meinung von der Gebärdensprache, zumal der romanischen, als daß ich dieselbe auf ewig möchte zur Unselbständigkeit verurteilt wissen. Die Unabhängigkeit der Mimik würde auch dem Drama zugute kommen und eine spätere Wiedervereinigung begünstigen, denn ich wiederhole: wenn zwei Künste einen ersprießlichen Bund miteinander eingehen sollen, so müssen beide zuvor sicher auf eigenen Grundlagen ruhen, sonst treten sie sich gegenseitig auf die Zehen. Man lehnt sich vorteilhafter aneinander an, wenn man fest auf den Füßen steht; und nebeneinander, nicht über- und durcheinander schließt man Freundschaft. Bei einem gemeinschaftlichen Wandel nach demselben Ziel schadet es nichts, wenn jeder sich bewußt bleibt, welche Beine sein sind.

Die Vermittlung des Theaters ist unzulänglich

Für den Wert einer Anstalt ist der Umfang ihres Wirkungskreises nicht gleichgültig. Nun ist die Tragweite der szenischen Kräfte räumlich wie zeitlich außerordentlich beschränkt; die Theaterwirkungen gleichen dem augenblicklichen Glutschein einer farbigen Flamme, welcher die Zunächststehenden zu Ausdrücken des Staunens hinreißt, während weiter hinten die Leute im Dunklen verharren, bis die Flamme nach öfterm Aufflackern für immer erlischt. Die zeitliche Unzulänglichkeit ergibt sich aus der Kurzlebigkeit der Bühne. Die Bedingungen und Mittel der Aufführung, also mit einem Wort das Theater, ändern sich binnen wenigen Generationen von Grund aus. Was auf die Bühne einer bestimmten Epoche berechnet wurde, versagt schon im nächsten, spätestens im zweiten Jahrhundert die Wirkung. Was will nun die kurze Spanne Zeit von zwei bis drei Jahrhunderten gegenüber dem unsterblichen Buch bedeuten, das nach Jahrtausenden noch so frisch zu wirken vermag, als wäre es gestern geschrieben?

Ähnlich verhält es sich mit der räumlichen Unzulänglichkeit. Innerhalb wie außerhalb der Landesgrenzen finden die Wirkungen des Theaters enge Schranken. Zunächst ist offenbar das Theater nur dem kleinsten Teil der Nation zugänglich. Wenn wir darauf angewiesen wären, die großen Dramen der Vergangenheit und der Neuzeit allein von der Bühne herab kennenzulernen, die allerwenigsten würden dabei auch nur das Notdürftigste erhalten, und es stände schlimm mit der literarischen Bildung unseres Volkes. Ich denke, hierüber kann kaum Meinungsverschiedenheit walten. Beinahe unüberwindliche Hindernisse aber bieten die staatlichen und die sprachlichen Grenzen: die Bühne ist mit den Landesfarben angestrichen, und nur die besten Stücke der Vergangenheit und die schlechtesten der Gegenwart behaupten ihren Einfluß in der Fremde; ja selbst diese erzielen wenig mehr als einen Neugiererfolg. Wenn Shakespeare in Deutschland wie ein nationaler Dichter heimisch ist, so stammt das daher, daß er in der Tat uns gehört, denn er ist unser Adoptivvater. Dagegen die romanischen Nationen haben bis auf den heutigen Tag Shakespeare das theatralische Bürgerrecht verweigert, Frankreich voran. Und die romanischen Nationen sind nicht die einzigen. Umgekehrt lehnt die Bühne von Mittel-, Ost- und Nordeuropa das klassische Theater der Franzosen in Bausch und Bogen ab, was ihr die französische durch gänzliche Vernachlässigung der deutschen Tragiker reichlich zurückgibt. Dieselben Autoren aber, welche die europäischen Theater einander gegenseitig verweigern, ziehen im Buch über alle Grenzen in alle Herzen. Die Franzosen, welche Schiller und Shakespeare im Buch bewundern, sind zahlreich, und Molière kennt die Mehrheit der deutschen Leser. Wenn bei uns Corneille und Racine selbst nicht als Buch Eingang finden, so ist das eine Ausnahme, die sich aus unserm ästhetischen Gehorsam erklärt. Im allgemeinen dürfen wir den Doppelsatz aufstellen: Im Buch sind die Dramen international und intertemporal; auf dem Theater reicht ihr Einfluß nur bis an die Zollstationen, die Modeware natürlich abgerechnet.

Wenn es dem Menschen geläufiger vonstatten ginge, aus Tatsachen zu lernen, so hätte man aus dem erwähnten Verhältnis folgendes merken können: das Lesepublikum ist ein gewählteres, edleres und kompetenteres als das Theaterpublikum; und über den Wert eines Dramas nach dem Geschrei zu urteilen, welches dasselbe in einem Theatersaale hervorruft, ist eine Ungereimtheit.

Ich habe mir das Wort gegeben, Einseitigkeit oder Parteilichkeit als den Todfeind jeder Untersuchung zu vermeiden. Darum will ich auch nicht verheimlichen, daß ausnahmsweise die Rollen können vertauscht sein, daß die Kenntnis eines großen Dichters einem starrköpfigen Publikum etwa einmal vom Theater herunter kann aufgezwungen werden. Dazu ist ein virtuoser Schauspieler von Nutzen und von Nöten oder ein virtuoser Direktor. Denn welches Instrument ein Virtuose auch spiele, er weiß immer auf dem Publikum zu spielen. So hat neulich ein Rossi seinen Shakespeare den widerstrebenden Italienern und ein Laube den zweifelnden Deutschen Grillparzer aufgedrängt; das Théâtre-Français hinwiederum hat London für Corneille und Racine gewonnen. Ich fürchte in zweien dieser Fälle, nämlich im ersten und letzten, für die Nachhaltigkeit der Wirkung; immerhin wollen wir solche Versuche dem Theater und der Schauspielkunst mit Dank zugute schreiben.

Wenn man dann die Dinge so nimmt, wie sie sich bieten, so muß man wenigstens in Deutschland gegen die theatralische Vermittlung den schwerwiegenden Vorwurf erheben, daß sie eine lückenhafte ist; und zwar aus dem einfachen Grunde, weil das gegenwärtige deutsche Theater eingestandenermaßen auch nicht eine einzige klassische, fertige und abgerundete Tragödie mehr vollständig aufzuführen den Mut oder die Kraft besitzt. Die vornehmsten theatralischen Ausdrucksinstrumente heißen Rotstift und Schere; jene berühmte moderne Technik ist dem klassischen Drama gegenüber hauptsächlich Schneiderhandwerk. Das fehlte eben noch. Im Theater nötigt uns der Schauspieler seine holde Leiblichkeit und seine individuelle Auffassung auf, das Publikum schreit uns seine Kritik um die Ohren, der Regisseur schneidert den Dichter zurecht, und gelehrte Gesellschaften bearbeiten ihn. Durch wie viele Vermittlungen sollen wir schließlich das Drama erhalten und wie vieler Hände Spuren daran genießen? Nun kann man über Texttreue verschieden urteilen, von der barbarischen Leichtfertigkeit, die alles preisgibt, bis zur philologischen Wortklauberei. Daß aber ein Zeitalter, welches in allen literarischen Dingen nach dem Motto verfährt: «Pünktlichkeit ist die erste Tugend der Poesie», welches über eine falsche Lesart in Entrüstung gerät und ein halbes Dutzend verbesserter Wörtchen wie ein Ereignis der Welt anpreist,   daß ein solches Zeitalter den Mut findet, einem Schiller und Shakespeare links und rechts die Eingeweide aus dem Leibe zu schneiden, das Hinterste zuvorderst zu werfen und ein unsterbliches Werk um viele Hunderte von Versen zu erleichtern und dann hinterdrein uns noch dieses Machwerk von der Bühne herunter als einen höhern und echtern, dem Buch-Schiller und Buch-Shakespeare überlegneren Shakespeare und Schiller anzubieten, das scheint mir ein wenig unerträglich. Ich verstehe ja die Meinung; man glaubt, daß kraft der mysteriösen Heiligkeit, welche an den Helmbüschen und Mantelkragen klebt, ein Drama selbst in verstümmelter Gestalt auf der Bühne sich immer noch wohler befinde als heil und ganz zwischen den Büchern. Lassen wir das dahingestellt sein, jedenfalls bleibt ein verstümmeltes Drama ein verstümmeltes Drama.

Wäre aber die theatralische Vermittlung auch nach dem Text hin eine vollständige, sie bliebe dennoch ungenügend. Nämlich das Schauspiel vermag nicht, ein Drama dem Gedächtnis zu übermitteln. Solange die Bühnentechnik nicht zugleich über eine Mnemotechnik verfügt, wird der gesamte Dialog am Ende eines Stückes mit den Schauspielern hinter dem Vorhang verschwinden; was der Zuhörer davon mit nach Hause nimmt, das sind winzige Bißchen, selbst dann, wenn das Stück zum dritten und vierten Mal genossen wird. Während man daher so viel Falsches über die Ergänzung des Dramas durch das Theater redet, verschweigt man das Richtige, das heißt die Tatsache, daß das Schauspiel unbedingt durch die Lektüre ergänzt werden muß. Denn obschon es nicht nötig ist, ein Stück auswendig zu können, um es wahrhaft zu besitzen, so muß man es doch inwendig können; dazu aber ist eine Vertiefung in die Einzelheiten des Kunstwerkes und als Mittel dazu seine bleibende Vergegenwärtigung durch das Buch unerlässlich. Es gibt freilich eine Schule   und diese Schule steht auf der deutschen Allmend  , welche von der Annahme ausgeht, die Einzelheiten hätten im Drama nur einen Übergangs- und Brückenwert, die Katastrophe wäre das einzige Kunstziel und die tragische Enderschütterung enthalte die potenzierte Summe aller vorhergehenden Schönheiten. Unter dieser Voraussetzung erscheint allerdings die Kenntnis des Textes entbehrlich, denn Erschütterungen vermögen die vereinten Kräfte des Theaters gar vortrefflich zu besorgen. Auch dem Dichter würde dadurch seine Aufgabe ansehnlich erleichtert, und er zeigt sich neuestens durchaus nicht abgeneigt, sich diese Anschauung zunutzen zu machen. Einstweilen erlaube man uns, das Drama noch als ein Kunstwerk anzusehen, wo jeder Teil neben seinem Teilwert noch vollständige und selbständige Schönheit zu beweisen hat und wo der Dichter seinen Versen noch eine höhere Bestimmung zudenkt als das Geschäft, für die Torpedoschläge der Katastrophe die elektrische Batterie zu laden.

Überblicken wir jetzt die gewonnenen Ergebnisse, so entdecken wir das Defizit, das man der Lektüre vorzuwerfen pflegt, vielmehr im Konto der theatralischen Aufführung. Das Theater verstärkt allerdings die Nervenwirkung eines Dramas durch elektrodynamische und andere Reizmittel, aber diese Verstärkung ist weder eine Erhöhung noch Vermehrung noch Ergänzung des poetischen Genusses. Sie bedeutet einen Gewinn gegenüber der Lektüre einzig für den Phantasielosen. Anderseits sind die Mängel und Schäden der mimisch-theatralischen Reproduktion so ernster Natur, daß dieselbe dem Dichter im poetischen Interesse seines Werkes keineswegs schlechthin empfohlen, viel weniger als Pflicht zugemutet werden darf. Es sind überhaupt Anzeichen vorhanden, als wenn die Verbindung von verschiedenartigen Künsten, Kunststücken und Handwerken zu einer gemeinsamen Theaterföderation sich allmählich lösen wollte, um sich vielleicht später wieder auf andere Weise durch billigere und freiere Verträge neu zu bilden. Wenn Regie, Direktion, Mimik, Kritik und Ästhetik fortfahren, wie bisher den dramatischen Dichter in den Winkel zu drücken, dann ist die Sprengung des Bündnisses jedenfalls unvermeidlich; der Dichter wird seinen Abschied einreichen. Ein Recht, dem Dichter den Abschied zu verweigern, um ihn ewig an die Bühne zu fesseln, steht dem Theater und seinen ästhetischen Agenten nicht zu. Die Forderung, daß jedes dramatische Werk der Bühne einen Höflichkeitsbesuch abstatten müsse, kann sich zwar auf eine althergeschleppte Gewohnheit gründen. Gelangt indessen der Dichter zu der Überzeugung, daß ihm dieser Besuch hinderlich oder gar schädlich sei, dann darf er sich dem Theater gegenüber mit der Visitenkarte abfinden, so gut wie der lyrische Dichter gegenüber der Musikalienhandlung.

Die Forderungen der modernen deutschen, das heißt französierenden Bühne machen ein poetisches Drama unmöglich

Die Ungeduld als Metronom des Dramas

«Der Hörer ermüdet, er wird ungeduldig.» Das ist der oberste Rechtsgrund unserer Dramaturgie, wenn sie den Dichter von liebevoll ausführender literarischer Arbeit zur Hast drängen will. ‹Den Hörer› kenne ich aber nicht; ‹der Hörer› ist eine Erfindung. Es gibt tausenderlei verschiedene Hörer, die, wenigstens wenn sie selbständig fühlen, in verschiedenem Maße und bei anderen Anlässen ermüden und ungeduldig werden. Jedermann gibt zu, daß unsere Vorfahren auf dem Theater ertrugen, was wir nicht mehr ertragen: ruhiges Tempo, bequeme Diktion, schöne Verse, Episoden und Monologe. «Der Pulsschlag der Zeit ist ein schnellerer geworden.» Dieser Satz muß jedenfalls auf das Theater beschränkt werden, denn anderswo lassen wir uns ‹Längen› mit musterhafter Geduld gefallen, zum Beispiel beim Roman, bei Parlamentsverhandlungen, bei Festreden und bei Berichten über landwirtschaftliche Ausstellungen. Ich gestehe, daß ich an die Verwandlung des deutschen Temperaments in südliches Ungestüm nicht recht glaube; wenn wir uns im Theater so ausnehmend handlungssüchtig und ungeduldig gebärden, so stammt das bei den Gebildeten aus dem dramaturgischen Konfirmationsunterricht, bei den meisten aus Mangel an poetischem Sinn, verbunden mit der Verwöhnung durch deutsche Operetten und französische Feuilletonstücke. Was die ersteren betrifft, so müssen wir uns überhaupt vor Augen halten, daß ein gebildetes Theaterpublikum sich heute kaum mehr unbefangen seinen Eindrücken hingibt. Es gefällt nicht, was jedem einzelnen gefällt, sondern was die dramaturgische Erziehung als richtig lehrt. Wir finden Monologe unwirksam, nicht weil sie uns langweilen, sondern weil wir wissen, daß sie für langweilig gelten. Und so steht es auch mit dem Tempo des Dramas; wir haben uns das Drängeln, für welches wir im Grunde kein Bedürfnis spüren, von den Gesetzgebern der Bühnentechnik einimpfen lassen. Die zweite, größere Hälfte umgekehrt, die Menge der unpoetischen Zuschauer, wird natürlich bei jeder Poesie aufrichtig ungeduldig, innerhalb wie außerhalb des Theaters. Im Theater in höherem Grade, weil sich das Theater als Vergnügungsanstalt ankündigt und erwiesenermaßen allerlei ergötzlichen Kram vorrätig hat, von dem man begehrt, daß er zum Vorschein komme.

Nun kann man die Langeweile, welche die unberufene Menge vor jeder Poesie empfindet, auf zweifache Weise behandeln. Die ältere Kur bestand darin, das Publikum durch Gewöhnung zum poetischen Genuß heranzuziehen, um wenigstens so viel zu erreichen, daß die Poesie mit Achtung ertragen werde. Die moderne Bühnentechnik schlägt den entgegengesetzten Weg ein; sie befriedigt die Gelüste und Launen des Kranken, beseitigt alles und jedes aus dem Drama, was ihm nicht völlig zumutet, und bekämpft die Langeweile durch Reizmittel. Ob wohl diese Kur erfolgreich sein wird? Ich fürchte, es wird hier ergehen wie mit allen Reizmitteln, daß die Dosis immer erhöht werden muß. Stets werden die Forderungen der Menge hinsichtlich der Spannung und Sensation um eine große Strecke dem jeweiligen dramatischen Geschwindschritt vorauseilen. Wann wird dieser Wettlauf der Bühnentechnik mit der Ungeduld enden? Wir wissen es nicht, aber wo er enden wird, getrauen wir uns zu sagen: bei dem Dekorationsstück, diesem Universalerben aller ausgelebten Dramatik. Ich meinerseits halte es mit der alten Heilart. Man schmeichle nicht der Ungeduld, sondern zügle sie; man gestehe sich und andern offen und frei, daß Spannung und Sensation, als oberster Zweck des Dramas aufgefaßt, den Genießenden wie den Schaffenden herabwürdigen, daß Poesie zwar eine edle, aber keine gebeizte Speise ist, daß ein wahrer Kunstgenuß andächtige Sammlung der Seele, mithin für Alltagsmenschen eine gewisse Anstrengung und Selbstüberwindung verlangt, daß ein Drama keinen Anspruch darauf erhebt, jedermann in jedem Augenblick zu fesseln, zu spannen, zu überraschen, zu erschüttern, zu packen und zu reizen, sondern vielmehr darauf, den Kunstsinnigen zu entzücken, den Nichtkunstsinnigen aber gründlich und womöglich tödlich zu langweilen, wie es Recht und Pflicht ist. Wenn männiglich weiß, was er von der Tragödie zu erwarten hat, nämlich Schönheit und nicht Reizung, dann wird der ‹Pulsschlag unserer Zeit› sich merkwürdig beruhigen, und der bessere Teil der Nation wird mit staunenswerter Geduld selbst die prächtigsten Verse anhören.

Die Handlung

Nichts ist gewöhnlicher als die Ansicht, Handlung wäre das wahre Wesen des Dramas. Nichts ist jedoch unsicherer als die Richtigkeit dieser Ansicht.

Handlung ist vielmehr ein episches Element, indem das Epos gar wohl ohne Rede, nicht aber ohne Handlung bestehen kann, während umgekehrt das Drama recht eigentlich auf dem Dialog ruht, so daß ein Drama ohne Dialog gar nicht vorhanden ist, wohl aber ein Drama mit bloß rudimentärer Handlung, nämlich die rhetorisch-dialektische Tragödie der Römer und Franzosen und die lyrisch-dialektische der Griechen. Bei diesen Völkern bedeutet die rudimentäre Handlung bloß ein Mittel, um gewisse Situationen zu gewinnen, welche Situationen wiederum nur ein Mittel für lyrische, dialektische und rhetorische Ergüsse bedeuten. Es ist mithin hier die Handlung ein Wert dritten Ranges.

Nur das englische und das spanische Drama zeigt an der Handlung an sich Wohlgefallen, ist aktionslustig; dies aber aus epischen Gründen. Daß insbesondere Shakespeares Inspiration eine starke epische Beimischung hat, ist weder deutschen noch französischen Denkern entgangen.

Wir Deutsche nun haben die epische Beimischung von den Engländern übernommen, so zwar, daß anfänglich das epische Element hie und da das Drama überwucherte («Götz»).

Ich tadle das nicht, ich konstatiere es bloß. Item, der Kern der Tragödie kann die Handlung nicht sein, wenn das klassische Drama ganzer Nationen, darunter der Griechen, ihrer beinahe vollständig entbehrte.

Innerhalb des deutschen, stark mit Aktion legierten Dramas nun hat sich von jeher ein Zwiespalt zwischen den verschiedenen Interessenten des Dramas offenbart. Auf der einen Seite gibt es kaum einen großen Dramatiker, der nicht nachdrücklich vor der Gefahr gehäufter Handlung gewarnt hätte, Lessing voran. Anderseits drängt die Schaulust und das Schauspiel auf das größtmögliche Maß von Handlung, jene, weil Handlung das Auge unterhält und beschäftigt, dieses, weil die Gebärdenkunst in der Handlung die leichtesten Triumphe feiert. Warum nun trotz den eindringlichen Warnungen der großen Tragiker (und selbst der besseren Dramaturgen wie Freytag) unsere Kritik den Autor zur unbedingten Vorherrschaft der Handlung hetzt, alle Gefahren, die daraus erwachsen, nicht beachtend, das kann man nur aus der Gewohnheit erklären, statt der Poesie die Bühne und den Schauspieler für den Zweck der dramatischen Kunst aufzufassen.

Ich will hiemit das Versäumte nachholen und versuchen, den Dichter davon zu überzeugen, daß das Überwiegen der Handlung das Drama schädigt.

Nun versteht man aber unter Handlung allerlei Verschiedenes, das auseinandergehalten werden muß; ich beginne mit dem ursprünglichen Wortsinn, mit dem sichtbaren Tun und Treiben, also mit der körperlichen Handlung.

I

Vor allem ist im Drama die körperliche (physische) Handlung kein selbständiger poetischer Schönheitsfaktor oder, um deutsch zu sprechen, nicht schön. Im Epos verhält es sich anders; dort kann ein Gefecht, eine Entführung und dergleichen die herrlichste Schönheit erzielen, aus Gründen der Phantasieoptik, die ich hier nicht auszuführen habe; genug, es werden im Epos durch die körperliche Handlung herrliche unaustilgliche Phantasiebilder geschaffen, während das nämliche auf der Szene nichts anderes ergibt als Klopffechtereien und Schlächtereien. Man muß ein Meister sein, um in der poetischen Erzählung einen Helden gut umzubringen; aber ein ganzes Schauspielpersonal im letzten Akt abzutun, gelingt dem Stümper nicht viel übler als Shakespeare. «Ersticht ihn» oder «Fällt» oder «Trinkt das Gift» kostet weder Phantasie noch Kunst. Unmöglich aber kann das Wesen des Dramas in Gemeinplätzen liegen; es wird also alles, was zur Zimmergymnastik des Helden gehört, von dem ersten gebieterischen Hereinstürmen bis zum Umfallen, als Ballast der Dichtkunst gelten müssen.

Nun ist Einseitigkeit nicht meine Art, und ich will keinen Purismus treiben; ich sehe nicht ein, was es schaden könnte, auf der Bühne ein wenig zu klopfen, zu stechen, zu flunkern und zu fuchteln; etwas Keckheit und Derbheit mag dem mimisch-realistischen Drama gesund sein. Wenn jedoch die physische Handlung so rücksichtslos bevorzugt wird, wie der Schauspieler es verlangt, so ergibt das als Summe die Barbarisierung des Dramas, da Gebärden weder Poesie sind noch Poesie ersetzen können.

Alles aber, was in einem Gedicht nicht reines poetisches Gold ist, sondern blosse Legierung, vermindert das Karat und bei Häufung auch den Wert des Werkes. Eine Überwucherung der physischen Handlung ergibt ein Gemetzel oder ein Gemengsel und scheidet das Drama aus der Literatur. Dabei ist gar nicht einmal der Blutgeruch in Betracht gezogen, der sich dabei entwickelt und seinerseits die Roheit verstärkt. Selbst ohne Gift und Dolch, durch das bloße Hin- und Herrennen, Arme verwerfen und Aus- und Anrufen, wenn es mit vollblutdramatischer Herzenslust ausgeübt wird, sinkt das Drama in den Wust. Ein Buchdrama ist es dann allerdings gewiß nicht.

Um diesem Schicksal zu entgehen, gilt es beim germanischen Aktionsdrama, genau mit dem Gefühl den Prozentsatz physischer Handlung abzuwägen, welchen ein Dichtwerk verträgt. Dabei ist von gewaltiger Bedeutung das äußere Größenverhältnis zwischen Aktion und Diktion, ein Umstand, von welchem die wenigsten eine Ahnung zu haben scheinen. Nicht nur die meisten Dichter vernachlässigen dieses Gesetz, was ich ihnen nicht verarge, da unsere Dramaturgie hievon nichts oder das Gegenteil lehrt, sondern auch die Theoretiker belieben zu übersehen, daß die Rede in einem Stück unter anderem auch architektonischen Wert besitzt, indem dieselbe die Aktion auseinanderhält und dadurch das Drama beruhigt und dem Übergewicht des gymnastischen Elements vorbeugt.

II

Nehmen wir jetzt die Handlung in jenem übertragenen, aber zugleich gewöhnlicheren Sinn, welcher das geistige Tun des Menschen und den stofflichen Untergrund einer Geschichte begreift.

Hier besonders glaubt der Dichter, von dem bühnentechnischen Geschrei betäubt, des Guten nicht zu viel tun zu können. Sehr zu seinem Schaden, wie mich dünkt. Zwar bringt die Bevorzugung und Häufung der geistigen Handlung allerdings jenen augenfälligen Vorteil, welcher gerühmt wird, nämlich szenische Ergötzlichkeit. Es unterliegt keinem Zweifel: je mehr Handlungsbestandteile ich biete und je rascher ich dieselben wechsle, desto weniger leicht ‹ermüdet der Hörer und wird ungeduldig›. Wer also rücksichtslos bühnentechnisch zu verfahren wagt, ohne sich um den literarischen Wert seiner Arbeit zu kümmern, der stehe auf, gehe hin und handle; je mehr, desto besser. Demjenigen hingegen, der in einem Drama noch ein Poesiewerk sieht, will ich einige Gegengründe vor Augen stellen, die ihn wohl etwas nachdenklich machen dürften.

Die Häufung der stofflichen Handlung schädigt nämlich ein Drama auf negative wie auf positive Weise, und beide Male trifft der Schaden die Seele des Dramas, nämlich die Poesie.

Auf negative Weise, indem die Handlung, die doch nur Anlaß und Mittel zur Schönheit und nicht selbst Schönheit ist, einen großen Teil jenes engen Raumes wegnimmt, welcher einem Theaterstück gestattet wird, also daß dadurch Elemente verdrängt oder doch verkürzt werden, welche frei und reich dastehen müssen, damit ein Drama literarischen Wert habe.

Diese Elemente aber sind: Sprache und Charakteristik. Von der Sprache werde ich in einem andern Abschnitt ausführlich reden; hier sei bloß summarisch an die Tatsache erinnert, erstens, daß der Gedankengehalt eines Werkes an das üppige Gedeihen der Diktion gebunden ist, und zweitens, daß die Poesie im engern Sinn, das heißt dasjenige, was außer Deutschland alle Völker allein unter dem Namen ‹Poesie› verstehen, nämlich die Erhebung der Seele und die Festhaltung erhabener Gefühle in musterhaften Versen, einen gewissen Redeschwung und Redespielraum fordert.

Daß die Charakteristik durch gehäufte Handlung zu kurz komme, wird man mir wahrscheinlich abstreiten wollen. Gilt es doch als einer der ersten Lehrsätze des vermeintlichen dramatischen Naturrechtes, daß die Charakteristik am allerbesten durch die Handlung selbst hervorleuchte. Dagegen spricht jedoch die Erfahrung, die Analogie und der Gedanke. Was Erfahrung und Analogie darüber lehren, wurde schon früher besprochen: alle Intrigenstücke haben schablonenhafte Charakteristik; so sehr, daß die Charakterkomödie sich genötigt sah, sich von dem übrigen Lustspiel zu trennen und dessen Handlungsfröhlichkeit preiszugeben, um den Charakter zergliedern zu können.

Nun noch ein Ergebnis des Gedankens: Durch Handlung kann ein Charakter nicht gezeichnet werden, weil die Handlung vieldeutig ist; wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe. Was charakterisiert, das sind die Motive der Handlungen. Die Motive aber sind aus vielen Motoren zusammengesetzt; und womit will man uns das auseinanderlegen, wenn nicht mit Worten? Jenem beliebten Satz, der übrigens jenseits der deutschen Grenzen unbekannt ist, liegt eine Verwechslung zugrunde; nicht der Charakter, wohl aber das Temperament kann durch Handlung gezeigt werden.

Dies alles sind rein mechanische Hindernisse; sie bilden eine Negation durch Beschränkung.

Allein das Imbroglio oder, wie wir zu sagen pflegen, ‹der kunstgerecht geschürzte Knoten der Handlung› wirkt auch positiv verderblich auf denjenigen Teil der Diktion, der wohl oder übel muß übriggelassen werden; und das ist ein Punkt, auf welchen ich ausdrücklich aufmerksam mache, da er mir überaus wichtig scheint. Nämlich eine Handlung, zumal eine absichtlich verwickelte Handlung, bedarf zum bloßen Verständnis und mehr noch zur Verständigung und zur Vorbereitung einer fortlaufenden logischen Erläuterung. Sie sieht sich also gezwungen, einen großen Teil des Dialogs für sich zu niedrigen Verstandesdiensten in Anspruch zu nehmen; der Dialog dient als Katalog. Dieser Katalog nun ist für die Poesie verloren; und mehr als verloren, denn er bedeutet nicht einmal Prosa, sondern ein dramatisches Küchengeräte, das für den Haushalt unentbehrlich sein mag, nichtsdestoweniger im Saale der Dichtkunst das Auge beleidigt. Nehmen wir dann die Bühnenzeit hinzu und die gescheite Forderung, daß nichts im Dialog stehen gelassen werde, was nicht unbedingt dramaturgisch nötig ist, dann kommen wir praktisch zu dem Ergebnis, daß ein gutes bühnentechnisches Handlungsdrama überhaupt keinen andern Dialog duldet als einen verständnisvermittelnden, also unterprosaischen. Mögen auch noch so viele Witze und Sprüche darüber hingestreut werden, das sind von jenen kurzen Schwalben ohne Flügel und Schwänze, von denen selbst ihrer tausend noch keinen Sommer ausmachen.

Und hiemit haben wir denn einen zweiten Hauptschaden des Handlungsgebots gefunden: ein Intrigendrama wird stets eine dürftige Charakteristik bieten und eine armselige Sprache sprechen, der es in gleicher Weise an Originalität wie an Poesie gebricht. Der Dichter wird sich zwar die Flanken schlagen, um diesem Verhängnis zu entrinnen; schwerlich dürfte er auf sprachlichem Gebiet anderes zutage fördern als geistreiche Flunkereien im Lustspiel und schwülstige Kernsprüche in der Tragödie.

 

Noch eine durchaus andersartige Unzuträglichkeit bringt das Überwiegen der Handlung mit sich.

Gehäufte Handlung im Rahmen der Bühnenzeit wird notwendig, zugleich schleunige, eilfertige Handlung. Das preist man im allgemeinen als einen großen Vorzug. Allein im allgemeinen ist das falsch, nur im besondern bleibt der Vorzug gelten. Im Lustspiel, da soll man überraschen und überstürzen, da mag man Rakete über Rakete puffen lassen, damit der Zuschauer nicht zu Atem und Bewußtsein gelange. Und im Bau geht mit dem Lustspiel das ‹Konversationsstück›, die ‹Salontragödie› und desgleichen. Das Fadenspinnen und Knotenschürzen gedeiht bei windigen Stoffen gar wohl; den Marmor hingegen kann man weder zu Spinnenweberei noch zu Filigranarbeit benutzen; und schwere Massen schleudert man nicht zierlich in der Luft herum, sondern schiebt sie langsam vorwärts. Um ohne Bild zu sprechen: echt tragische, gedankenreiche Stoffe lassen sich nicht mit der bühnentechnischen Handlungsschleuder bearbeiten, weil das Tempo, welches sich aus der eiligen Handlung ergibt, nicht zum Stoff paßt.

Wahrlich nicht aus Mangel an Verständnis für das Tragische, wohl aber aus dogmatischer Steifheit unternehmen wir Deutsche den sonderbaren Versuch, das Handlungsrezept des französischen Lustspiels auf das ernste Drama anzuwenden. Weil wir von einem zentralen Urschema für alle dramatischen Gattungen träumen, einem Entoutcas für Regen und Sonnenschein. Nachdem wir die Intrige im Aktualitätenstück rauschende Theatererfolge erzielen gesehen, verkündigen wir dieselbe als bühnentechnisches Universalmittel und muten der Tragödie zu, auf dem Kothurn zu tanzen.

Ein Imbroglio (eine verschlungene Intrige, ein ‹meisterhaft geschürzter Knoten der Handlung›) ist in der reinen, idealen Tragödie, also im Katastrophendrama, einfach unmöglich, im ernsten Drama realistischen Stils verderblich, in der Historie als Ausnahme statthaft (wenn der Gegenstand es mit sich bringt oder wenn die Geschichte anekdotisch behandelt wird), im allgemeinen jedoch bleibt die Zulässigkeit des Imbroglio auf eitle Stoffe beschränkt, mögen dieselben nun lustig, weinerlich, traurig oder blutig zubereitet werden.

Andere Verfahrungsweisen fordert das hohe Drama, die Frankreich ahnt, sucht und nicht findet, die Deutschland ehedem besaß, aber wieder verlor, seit von Dan bis Berseba Krethi und Plethi den dramaturgischen Schulmeister spielt, seit die Bühne mit Fangeisen und Selbstschüssen versehen worden ist, seit von links und von rechts, von vorn und von hinten gegen den dramatischen Dichter ein ästhetisches Kesseltreiben ins Werk gesetzt wird, um ihn mit allen Hunden zu zwingen, allen Hasen nachzulaufen.

Die Bühnenzeit

Hat man je ein Feilschen erlebt, wie es in Deutschland seit einem halben Jahrhundert zwischen Dichter und Direktion über die Länge des Stückes vor sich geht!

Ich gebe gerne zu, daß die Nötigung, sich zu beschränken, dem Dichter, zumal dem deutschen Dichter, zur heilsamen Zucht gereiche. Hingegen gebe ich nicht zu, daß es der Bühne freistehen sollte, ihre Zeit beliebig eng zu schnüren, um dann von dem Dichter zu verlangen, sich jeder neuen Gürtelschnalle gehorsam zu fügen. Ich behaupte: es gibt für jede Kunstform eine Minimalgrenze der Ausdehnung, die man nicht weiter verringern kann, ohne die Kunstform selbst zu zerstören. Man fordere, daß eine Symphonie ihre vier Sätze in dreiundzwanzig Minuten abwickle, und man wird sehen, was dabei herauskommt. Oder, um bei der Dichtkunst zu bleiben: hält man eine Romanleistung zu hundert Seiten das Stück oder eine epische Literatur zu höchstens zweihundert Seiten für ersprießlich oder nur für möglich? Ich behaupte aber, daß unsere Bühnenzeit vor dieser Minimalgrenze der Ausdehnung, welche eine vollwertige Tragödie bedarf, schon um ein Gewaltiges zurückgewichen ist, daß wir im Theater die Symphonie von dreiundzwanzig Minuten und den Roman von hundert Seiten, das heißt etwas vollständig Ungereimtes und Lächerliches begehren. Der Beweis dafür kann doppelt geliefert werden, erstens durch Vergleichung mit der Bühnenzeit unserer Klassiker, ferner durch prinzipielle Betrachtungen. Das will ich denn auch beides kurz und bündig tun.

 

Haben die großen Tragiker die Zeitbedingungen eingehalten, die man uns aufbürden will? Oder ist bei ihnen zum wenigsten das Streben nach Kürze bemerkbar?

Auf beide Fragen lautet die Antwort: nein, sondern das gerade Gegenteil. Die Jockeytracht Melpomenes ist ein moderner Sport.

Folgendes sind unbestrittene Tatsachen. Erstens: alle klassischen Dramen, die unser Theater besitzt, überschreiten samt und sonders (zwei bis drei ausgenommen) um ein Bedeutendes das Maß, welches man uns auferlegen möchte. Zweitens: es sind keineswegs die vollendetsten Bühnenwerke, die dem Maße am nächsten kommen, sondern umgekehrt, die berühmtesten Dramen entfernen sich am weitesten davon: «Hamlet», «Richard», «Lear», «Maria Stuart», die «Jungfrau», «Tell», «Nathan»; ja das vollkommenste Drama der deutschen Literatur, «Wallenstein», ist ein Ungeheuer an Länge. Diese Tatsachen für sich allein sollten uns die Augen öffnen. Wie! Sämtliche Klassiker übertreten unsere Bühnenzeit, und wir sollten dieselbe heilig beobachten? Die größten dramatischen Werke bedurften der größten Zeitlänge, und wir sollten das Höchste in der möglichsten Kürze leisten? Aus welchem Grunde werden wohl jene Meister ihren Werken den betreffenden Umfang gegönnt haben, wenn nicht aus dem Grunde innerer Notwendigkeit? Denn Schiller und Shakespeare waren doch keine Breitschwätzer und Auseinanderschreiber. Vielmehr scheint mir, sie haben Dramen dichten wollen und kein Dramatino.

Hören wir einmal, wie Freytag, welcher der heutigen Bühnenzeit das Wort redet, sich mit jenen Tatsachen abfindet, die er mit achtbarer Wahrheitsliebe eingesteht und sogar recht bequem für den oppositionellen Gebrauch zusammenstellt.

Alle seine Einwendungen laufen auf das Gewicht des Wörtchens ‹zwar› hinaus. «Zwar sind Shakespeares Stücke nicht unbedeutend länger» oder «Allerdings sind die meisten Bühnenwerke unserer großen Dichter bedeutend länger» oder «Von den deutschen Dichtern ist es bekanntlich Schiller am schwersten geworden, sich mit der Bühnenzeit abzufinden». Ich weiß nicht, wie es andern ergeht, mir aber erscheint eine Regel, welche bekennen muß, daß zwar gerade die größten Künstler sie am meisten verachteten, von vornherein verdächtig. Wie lautet dann die Meinung des entscheidenden ‹zwar›? Freytag gibt hierüber eine doppelte Erklärung: «Die Klassiker», deutet er zunächst an, «haben Vorrechte; sie nehmen auf der Bühne die Freiheit vornehmer Hausfreunde in Anspruch, sich die Zeit ihres Abschiedes zu wählen und die Bequemlichkeit anderer nicht zu berücksichtigen.» Nun, ich denke, das steht nur wegen der Lieblichkeit des Vergleichs geschrieben, da Freytag geistig zu hoch steht, um allen Ernstes das ‹Quod licet Jovi› auszuspielen. Beiläufig möchte ich ausdrücklich bemerken, daß ich mich in meinem Privatleben für «vornehme Hausfreunde, welche die Bequemlichkeit anderer nicht berücksichtigen», bedanken würde. Ernsthafter gemeint, obschon kaum ernstlicher überlegt, ist die zweite Erklärung: «Bei den Klassikern war der gegenwärtige Bühnenbrauch entweder noch nicht vorhanden oder nicht so zwingend.» Ja, wer hat denn heute die Bühne gezwungen zu zwingen? Und mit welchem Recht will uns Freytag zwingen, uns von der gezwungenen Bühne zwingen zu lassen? Ein Bühnenbrauch, der den Dichter zwingt, das ist ein bezeichnendes Beispiel jener seltsamen Voraussetzung, als ob der Bretterkasten eine geheimnisvolle, von einem besondern ästhetischen Gotte geleitete Offenbarungsanstalt wäre, als ob selbst seine gemeinsten Begehren wie heilige Gesetze von dem Dichter müßten geehrt werden. Ein ‹Brauch› ist es also, was uns das freisinnige Gesetz und Recht der Klassiker entwenden und unsere Kompositionen soll verstümmeln dürfen! Also eine Macht, welche keine andere Berechtigung vorzuweisen vermag als die Konvention, das heißt die gegenseitige Nachahmung! Und wer hat denn den ‹gegenwärtigen Bühnenbrauch› geschaffen? Die neufranzösischen Feuilletondramatiker, deren Muster für ein deutsches poetisches Drama wir berechtigt sind bestimmt abzulehnen.

Und warum haben die französischen Autoren den ‹gegenwärtigen Bühnenbrauch› eingeführt? Weil sie wesentlich Lustspieldichter sind und das Lustspiel einen kürzern Wuchs hat als das ernste Drama; weil ferner das Boulevardpublikum im Theater lediglich Abendunterhaltung sucht; weil endlich noch ein äußerer Umstand hinzutritt, der für die Grundlagen des ‹gegenwärtigen Bühnenbrauches› zu bezeichnend ist, als daß ich ihn übergehen möchte. Nach den Aussagen der Sarcey und Sardou beruht der gegenwärtige Bühnenbrauch, nur Miniaturstücke auf dem Theater zu dulden, in erster Linie, wenn nicht einzig darauf, daß die Pariser Essenszeit vorgeschoben wurde. Das stimmt denn vollkommen zu den übrigen Prinzipien der Bühnentechnik. Dieselbe bezieht ihr Tempo, wie Sardou an einem andern Orte gesteht, aus dem Magen; wir dürfen uns also nicht wundern, wenn ihr Maß aus der Küche stammt. Den Chef de cuisine als dramaturgischen Gesetzgeber und die Trüffelpastete als Maß für die Länge des Dramas aufzustellen, das ist bühnentechnischer Brauch. Und wenn nun, wie aus der Berechnung der französischen Dramaturgen hervorgeht, die Pariser Essenszeit mit jedem Jahrzehnt um eine halbe Stunde vorrückt, also daß der ‹gegenwärtige Bühnenbrauch› des Jahres 1910 nur mehr ein Drama von tausenddreihundert Versen gestatten wird, dann wird die deutsche Dramaturgie den Dichter auffordern, eine Tragödie binnen einer Stunde und zwanzig Minuten zu erledigen.

Was von anderer Seite zugunsten der gegenwärtigen, von der klassischen abweichenden Bühnenzeit vorgebracht wird, läuft ungefähr auf dasselbe hinaus: alle Gründe wurzeln immer in der Voraussetzung, daß im Theater jede zufällige Tatsache dem Dichter gegenüber bindende Rechtskraft besitze. Der meisten Beliebtheit erfreuen sich kleine Anleihen aus der Atmosphärologie: «Der geschlossene Raum», wird gesagt, «macht einen mehr als dritthalbstündigen Aufenthalt zur Qual.» Aber haben denn Shakespeare und Schiller unter freiem Himmel spielen lassen? Und warum wird euch die «Theodora» von Sardou, welche reichlich vier Stunden währt, nicht zur Qual, sondern zum Drängen und Stoßen um die Kasse? Sollten vielleicht Samt und Seide und Ballett und Zirkus und Feuerwerk Sauerstoff zuführen?

Eine andere Variation dieses Themas lautet: «Schon allein der äußere Umstand ist zu beachten, daß die Emanation des Gaslichtes die Luft verunreinigt.» Es soll also zur Abwechslung der Dramatiker seine Gesetze aus dem chemischen Laboratorium statt aus der Küche beziehen und sich die Länge des Stückes vom Kohlenwasserstoff diktieren lassen. Und was wurde denn zu Schillers Zeiten im Theater gebrannt? Vermutlich Öl, bei Shakespeare Talg; ich glaube nicht, daß das besser riecht, abgesehen von den ‹Emanationen› der Zuschauer, welche damals nicht so reinlich waren als heute. Das alles aber hat weder Shakespeare noch Schiller gehindert, ihren Stücken diejenige Länge zu geben, welche sie für nötig hielten.

Einiges Nachdenken würde uns gesagt haben, daß eine Bühnenzeit, welche um ein gutes Drittel enger geworden ist als die durchschnittliche Zeit, die unsere klassischen Stücke bedürfen, eine Verstümmelung des deutschen Dramas bedeutet. Um aber denselben Schluß aus der täglichen Erfahrung zu gewinnen, dazu bedarf es nicht einmal des Nachdenkens, das einfachste Denken genügt. Hören wir einmal über das verschiedene Längenbedürfnis der dramatischen Dichter einerseits und der Theaterbehörden andererseits die Beobachtungen eines Mannes, der sich darauf versteht, nämlich Paul Lindaus. Nach seinem Zeugnis verhält es sich mit jedem neuen Stücke folgendermaßen: «Da das Manuskript nach einer Erfahrung, die sich in allen Fällen wiederholt, zu lang ist, so tritt der Direktor oder Regisseur an dasselbe sogleich mit dem Rotstift heran. Es müssen also sagen wir vierzig Seiten gestrichen werden.»

Bei der ersten Probe stellt es sich dann heraus, «daß das Stück immer noch zu lang ist, und nun fangen auch die Schauspieler an auszumerzen». «Und nun macht man bei der zweiten Probe die Wahrnehmung, daß das Stück immer noch zu lange spielt», und so weiter.

Also nachdem ein Dichter, dem seit zwanzig Jahren die Kürze als oberstes Bühnengesetz eingeschärft worden ist, alles Erdenkliche getan, um nicht zu lang zu werden, bleibt sein Stück in allen Fällen zu lang und nach der Kürzung von vierzig Seiten immer noch zu lang und nach der zweiten Kürzung immer noch zu lang. Was heißt das? Für jeden unbefangenen Kopf heißt das: unsere Bühnenzeit ist um vieles zu kurz für jedes Drama, das gewissenhaft gearbeitet ist. Diesen einfachen Schluß will jedoch niemand ziehen, weil wir den Aberglauben hegen, die Bühne sei unfehlbar, und weil die wenigsten eine Ahnung davon haben, von was für schmählichen Faktoren die heutige Bühnenzeit, die wir nach Pariser Uhr ablesen, zugemessen wird. In Frankreich wagt man es wenigstens zu bekennen: Die Bühnenzeit ist zu kurz. Sardou sagt es offen: «Wir können nur noch das Skelett eines Dramas, kein Drama mehr geben.» In Deutschland dagegen, wo man über den Traditionskultus der Franzosen spottet, unterwirft man sich einem fremden und noch dazu würdelosen ‹Bühnenbrauch› mit heiliger Ehrfurcht. Anstatt zum Theater zu sprechen: «Deine französische Lustspielbühnenzeit geht uns nichts an», muten wir dem Dichter zu, seinem Schöpfertrieb Kompressen anzulegen und die poetischen Keime seines Stoffes zu unterbinden, nur um einem widersinnigen ‹Bühnenbrauch› Genüge zu leisten.

Dabei spielen wir, wie mich dünkt, verkehrte Welt. Prosaischen, geistlosen Klatsch lassen wir uns schwerfällig in dicken Bänden breitschwatzen, großartig angelegte Dichtungen hingegen hetzen wir ans Ende.

Eine Tragödie soll in zweitausend Versen an uns vorüberjagen und mitten im Galopp eine ernste, ergreifende Haltung fallen lassen, Motivierungen und Charakterismen um sich werfen, die innerste Seele des Helden bloßlegen und ähnliche Kunstreiterstückchen mehr. Ein furibundes Tjostieren, ein atemloses Wettrennen, wo derjenige Sieger bleibt, welcher in der kürzesten Zeit an die Katastrophe gelangt und unterwegs die meisten Regeln heruntergestochen hat.

Und das ist dasselbe Publikum, welches sich einen Roman in drei Bänden gefallen läßt, wo im Largo maestoso auseinandergesetzt wird, was Assessor Bilderling vom Cinquecento denkt und welche Stellung Gretchen Querbein gegenüber der sozialen Frage einnimmt. Das heißt den Unterschied zwischen epischem und dramatischem Tempo etwas weit treiben.

Es gibt keine Romanzeit. Gäbe es doch eine! Und da wir so gerne von den Franzosen lernen, lernten wir doch einen Roman in einem Bande von dreihundert Seiten vollenden und zu drei Franken fünfzig Centimes das Stück verkaufen!

Will man durchaus eher alles andere als das Einfache und Natürliche, will man durchaus die widersinnige, ungerechtfertigte und auf gemeinen Ursachen fußende Bühnenzeit wie eine Offenbarung schonen, dann weiß ich nur noch ein einziges Mittel, poetisch für das Theater zu arbeiten.

Dasselbe besteht darin, dramatische Teil- und Bruchstücke zu liefern, Fragmente und Segmente, diese aber fertig. Ein Brustbild, ein Torso, auch eine Hand und ein Bein können Kunstwert besitzen, niemals jedoch ein ganzer Geschundener. Schinden aber nenne ich das Verfahren, eine dramaturgische Schablone über einen Stoff zu legen und links und rechts alles sogenannte Unwesentliche abzuschneiden. Der Schablonenschnitt zum Zweck der Kürze ist unbedingt verderblich; es fallen dabei Nasen und Lippen zum Opfer, die zwar dem Organismus nicht wesentlich sind, wohl aber der Liebenswürdigkeit und Sehenswürdigkeit. Unser Drama erinnert mich an jenen Bräutigam einer amerikanischen Novelle, welcher ein Glied um das andere verlor, bis schließlich nichts mehr übrig blieb als das Herz, das Gehirn und das Gekröse; die Braut soll davon nicht erbaut gewesen sein, obschon dem Bräutigam nichts ‹Wesentliches› fehlte. Einen ähnlichen Vergleich hat auch Sardou mit seinem ‹Skelett› ausgesprochen, nur daß ihn selbst die größte Schuld an dem Skelett und der Bühnenzeit trifft, wie ihm Zola mit Recht entgegenhält.

Bruchstücke sind gerade beim Drama nichts Unerhörtes. Ist doch die Katastrophentragödie nichts weiter als ein Schluß. Zur Not könnte also der Schluß noch um einen Griff weiter hinten gefaßt werden. Ferner erzielen erfahrungsgemäß einzelne Akte, seien sie nun selbständig oder einem großen Drama enthoben, erfreuliche Wirkungen. Nach dieser Richtung geht der Ausweg. Ein einziges reiches Allegro einer bedeutenden Sonate ist kostbarer als eine ganze Sonatine in drei Sätzen. Und so verhält es sich auch im Drama: eine Tragödie in drei Akten, mit der Peripetie beginnend, oder ein rasch aufsteigendes Drama ohne Schluß, aber mit einem Ausblick auf dem Höhepunkt, oder kürzere Historien oder umfassende realistische Gemälde, einheitlich komponiert und gefärbt, überhaupt jede konzentrische Szenengruppe, das sind die einzigen für die Poesie annehmbaren Aufgaben, welche die moderne Bühnenzeit noch übrig läßt. Warum hören und sehen wir nichts von alledem, weder in der Theorie noch in der Praxis? Weil unsere Dramaturgie nachgerade in einen rein formalen Schematismus eingemündet hat, weil sie an einem Drama nur noch die Fäden und Knoten schätzt und jedes Stück nur als Chrestomathie zur dramaturgischen Grammatik auffaßt, weil sie endlich, vor die Wahl gestellt, entweder der Poesie oder der Schablone teilweise zu entsagen, lieber die ganze Poesie preisgibt als nur das kleinste Stückchen der Schablone. Und so möchte denn die Bühnenzeit dem Dichter die Halsbinde noch um die Hälfte enger schnüren, gleichwohl müßte jedes Drama seine fünf Akte, seine Exposition, seine Steigerung und Umkehr, sein tragisches Momentchen, seine Peripetie, seinen Höhepunkt und seine Katastrophe beweisen, und jeder Held hätte alle Klassen der Leidensschule pünktlich nach der Vorschrift zu erledigen, sollte dabei auch der Dialog zu Naturlauten zusammenschrumpfen. Das Drama in der Westentasche oder die Kunst, in zwanzig Minuten Furcht, Mitleid und Beifall zu erwecken, das ist das Ziel, nach welchem die deutsche Bühne hinsteuert.

Der Zwischenvorhang

Die Regie unterscheidet sich von andern Handwerken dadurch, daß sie, je weiter sie sich fortentwickelt, desto weniger kann. Einst verursachte die Verwandlung in den Akten nicht die mindeste Schwierigkeit, denn ich sehe zum Beispiel den ersten Akt des «Koriolan» an zehn verschiedenen Orten spielen. Wenn dagegen heute ein Autor sich einfallen läßt, auch nur ein einziges Mal innerhalb eines Aktes den Platz zu wechseln, so erhebt sich eine Empörung. «Ein geborener Dramatiker», belehrt man ihn, «versteht es so einzurichten, daß der Zwischenvorhang wegfällt.» Was ein geborener Dramatiker versteht und nicht versteht, was verstehn denn die Professoren der Soffitten davon? Angenommen jedoch, ein geborener Dramatiker verstände es, folgt daraus, daß man ihn zwinge, es auch zu leisten? Ist etwa die dramatische Poesie eine Steeplechase, wo es sich darum handelt, dem Dichter die größtmögliche Menge von Schwierigkeiten zu bereiten? Ist es nicht genug an den Hindernissen der Krethi und Plethi? Soll nun noch die Bühne selber ihre Bretter willkürlich verstellen? Wollen die Herren Bühnentechniker neben der negativen auch eine obstruierende Technik treiben? Was würde man zu einem Bahningenieur sagen, der Knochenreste auf die Schienen legte, mit der Bemerkung, ein geborener Lokomotivführer fahre gar wohl darüber weg? Wenn denn ein gar so großer Reiz darin liegt, zu erfahren, unter wieviel Schwierigkeiten ein Drama vielleicht dennoch zustande kommen kann, so schaffe man besondere dramatische Hunting, versammle zu diesem Fest alle Dramaturgen, Kritiker, Schauspieler und Regisseure Deutschlands und zwinge den Dichter, eines jeden Meinung zu befolgen; wir werden dadurch ein interessantes Gesamtbild der gegenwärtigen dramatischen Zustände gewinnen. Für gewöhnlich jedoch, denke ich, soll die Bühne einen ebenen Boden darbieten und kein Verhau.

Man wendet mir ein: die Bühne Shakespeares war eine andere, mit höchst einfachen, beinahe nur symbolischen Dekorationen, während unser vervollkommnetes und kompliziertes Mobiliar längere Zurüstungen verlangt. Wer hat aber dies vervollkommnete und komplizierte Mobiliar bestellt? Der Dichter gewiß nicht. Ihm erscheint die Dekoration in den meisten Fällen mehr als unnütz, das heißt schädlich, in Ausnahmefällen (zum Beispiel im historischen oder aktuellen Drama realistischen Stils) wünschbar, doch unwesentlich, in keinem Falle notwendig.

Dagegen ist der Zwischenvorhang einer großen Gruppe von Dramen durchaus unentbehrlich. Nämlich der Zwischenvorhang, in Gedanken übersetzt, lautet: Sollen wir die aristotelische Einheit des Ortes, von welcher uns Lessing befreit, auf Umwegen zur Hälfte wieder herstellen? Sollen wir dem Dichter verbieten, mehr als dreimal den Ort zu wechseln? Ich sage drei- und nicht viermal, da es, wie schon Lessing bemerkte, unleidlich ist, wenn die Ortzäsur regelmäßig mit der Aktzäsur zusammenfällt. Wir erhalten hiemit eine bühnentechnische Dreiheit des Ortes; ein magerer Gewinn gegenüber Aristoteles und ein großer Verlust gegenüber der Bühne Shakespeares und der deutschen Klassiker.

Es gibt freilich einige dramatische Gattungen, die sich unschwer in diese Beschränkung zu schicken vermögen. Das sind einerseits die handlungsarmen Gattungen der lyrischen oder deklamatorischen Tragödie und anderseits, so auffallend es scheinen mag, das Intrigenstück, sowohl das grüne, das Lustspiel, wie das schwarze, die Salontragödie. Nämlich das Imbroglio bedingt zeitliche Kürze, da man nicht auf Jahrzehnte hinaus intrigiert, sondern auf morgen und übermorgen; mit der zeitlichen Nähe paßt dann die örtliche vortrefflich. Eine einigermaßen geschickte Hand wird daher ohne Mühe die Leute so oft und so lange an demselben Ort zusammenzuhalten vermögen, als es unvernünftigerweise vom Bühnenbrauch begehrt wird.

Das verhält sich aber ganz anders mit denjenigen Dramengattungen, welche mit der Handlung weit ausholen, vornehmlich also mit den historisch-realistischen, aktionslustigen. Von ihnen zu fordern, daß sie jeweilen nur mit den Aktschlüssen den Ort tauschen, ist eine Unbesonnenheit, welche beweist, daß derzeit über das Drama weniger gedacht als gepredigt wird. Diese scheinbar unbedeutende Forderung hat die gänzliche Zerstörung des shakespeareschen Dramas zur Folge. Um nämlich die Einheit des Ortes innerhalb der Akte zu bewahren, müssen allenthalben die natürlichen Verhältnisse des rationell organisierten Stoffes verzogen und die Teile des Dramas verschoben werden; wenn zum Beispiel die Exposition vernünftigerweise verschiedene Personengruppen an verschiedenen Orten zeigen sollte, so zwingt die Verweigerung des Zwischenvorhangs den Dichter, wichtige Bestandteile aus der Exposition auszuscheiden oder Künsteleien vorzunehmen, welche mit jenen verrufenen Auskunftsmitteln der französischen Klassik eine bedenkliche Ähnlichkeit aufweisen. Und so weiter durch das ganze Drama. Das ist jedoch nicht alles. Indem nämlich jeder Akt nur eine einzige Szene oder, wenn man lieber will, ‹Szenerie› vorstellen soll, läuft das Drama bei geschlossener Führung auf fünf große Finale hinaus, bei loser Arbeit auf fünf Bilder. Daß unter solchen Umständen auch die Charakteristik und die Motivierung leiden muß, ist unschwer zu ahnen, wo nicht, zu erfahren.

Man muß also wissen, was man will. Begehrt man statt shakespearescher Fülle und Vertiefung im historischen Drama breite Gesamtbilder, gut, dann verweigere man den Zwischenvorhang; aber dann klagt mir nicht über mangelhafte Vertiefung und Fülle. Will man umgekehrt den shakespeareschen Aufbau beibehalten, dann hindere man den Dichter nicht, den Zuschauer jedesmal dahin zu führen, wo er es für nötig findet, dreimal oder neunmal im Akt, wenn es ihm so beliebt.

Übrigens ist das verhängnisvolle Zeug allerorten vorrätig; man kann es ja dort oben sehen. Es kommt auch gar bereitwillig herunter, sobald ein klassisches Drama aufgeführt wird. Hingegen, wenn ein Lebender das Ding gebrauchen will, so ist es Bühnenbrauch, zu knurren und sich erst nach langen Unterhandlungen zu bequemen. Es geht da zu wie bei den Zahnärzten mit dem Lachgas; sie haben die Maschine und bereiten das Gas, sie lassen es sogar in den Zeitungen ankündigen; es gehört aber zum Geschäftsprinzip, erst eine saure Miene zu ziehn, ehe sie damit herausrücken. Entweder oder. Wir müssen wissen, woran wir sind; wollt ihr oder könnt ihr vermöge eurer gepriesenen Bühnentechnik nicht mehr die Szene innerhalb eines Aktes verwandeln, gut, dann bekennt es laut und frei; verkündet ein Gesetz, daß die deutsche Bühne gleich der Comédie-Française unter keinen Umständen und für niemand den Ort im Akt wechseln werde; tut das, doch tut es gerecht und billig, gegen Shakespeare wie gegen jeden andern. Dann werden wir uns danach einrichten, ihr aber werdet die Folgen annehmen und verantworten müssen. Könnt ihr dagegen den Zwischenvorhang für meinen Nachbar herunterlassen, so könnt ihr es ebenfalls für mich, das Murren lasse ich nicht für eine Entschuldigung gelten.

Die Abneigung der modernen Bühne gegen den Vers und die Rede

Eine ganz eigentümliche Erscheinung der neuern Dramaturgie und Theaterkritik ist die Abneigung gegen die poetische Rede, eine Abneigung, die in den verschiedensten Ausdrucksformen, von der Mißachtung bis zur offenen Befehdung, zutage tritt. Die Sprache zugunsten der Bühnenzeit beiseite zu drängen und zugunsten der Handlung zu verstümmeln, das ist eine der obersten Handwerksregeln unserer Bühne, und das dramaturgische Schema der Gelehrten begünstigt diese Absicht, indem dasselbe das Wort zum bloßen Mittel der Motivierung oder der Charakteristik erniedrigt. Wer sich besonders mutig aufgelegt spürt, verbindet seine Angriffe mit spöttischen und mehr oder minder witzigen Ausfällen gegen die Versdramatiker.

Hier kehrt einmal unser Zeitalter sein Innerstes heraus, und unsere Ästhetik weist ihre Achillesferse. Ein Zeitalter, das in einer poetischen Kunstform Rhythmus und Metrum als Hindernisse empfindet, ist ein wesentlich unpoetisches Zeitalter, wie hoch übrigens seine literarische Bildung steigen mag, und eine Ästhetik, welche den Vers nur als Mittel will gelten lassen, entpuppt sich hiemit als eine Weisheit, die sich überstudiert hat, die auf jene Seite hinübergetreten ist, wo Weisheit richtiger Doktrinarismus und Scholastik genannt wird. Solange es eine Poesie gegeben hat und eine Poesie geben wird, bleibt die Schönheit der Diktion eine der obersten Aufgaben des Dichters und ein unerläßliches Erfordernis jedes poetischen Werkes, mag dasselbe nun Epos oder Drama heißen. Mit dem Augenblick, da man im Drama den Vers für etwas Untergeordnetes oder Unerwünschtes ausgibt, stellt man das Drama nicht oberhalb, sondern außerhalb, und nicht nur außerhalb, sondern zugleich unterhalb der Poesie.

Nun gibt es freilich mannigfaltige und verschiedenartige Familien von Dramen, und das Unglück ist, daß man das verkennt. Es gibt zum Beispiel Dramen und soll es geben, welche sich mehr an den Verstand als an das Gemüt wenden, es gibt ferner auch auf dem Theater einen realistischen Stil, den der Vers hindert, und es fällt mir nicht ein, diese Gattungen zu bekriegen. Dagegen ist es ungerechtfertigt, gerade in ihnen die Norm für das Drama im allgemeinen zu suchen. Wenn denn durchaus eine Zentral Verfassung für sämtliche Gattungen der höhern dramatischen Kunst zusammengeklügelt werden soll, was ich für einen tödlichen Fehler halte, so kann sich dieselbe auf nichts anderes gründen als auf das tragische Bedürfnis der Menschheit, das heißt auf das Bedürfnis, das individuelle Leiden in verklärtes großes Pathos zu erheben und damit zu veredeln oder, mit andern Worten, die persönlichen Wunden im Weltschmerz zu heilen. Der Entstehungskeim der Tragik und ihre vollendetste Frucht ist das Drama des lyrischen Idealstils, die Katastrophentragödie. Alle theatralischen Forderungen, alle dramaturgischen Kompositionsgesetze, alle Bühneneffekte, alle stofflichen Interessen und formalen Liebhabereien sind veränderliche und vorübergehende Werte; die Spannung durch Ergriffenheit vermittelst schöner, gefühlvoller und vollendeter Diktion bleibt ewig. Es kann gewiß auch auf andern Wegen Hohes errungen werden, die Kunst ist ja weit und die Poesie groß, aber jeder andere Weg bleibt ein Parallelweg. Die Hauptstraße der Tragik wie jeder Poesie zieht durch das Herz der Völker; das Herz aber begehrt der gehobenen lyrischen Diktion, mit einem Wort des Verses.

Gottschall hat recht: man nehme die schöne Sprache aus den Tragödien Schillers und Goethes, und es wird trotz der angewendeten meisterhaften Kompositionskunst ein dürftiger Rest verbleiben. In der Tat, von jener Geringschätzung des Wortes, von jenem Bettelstolz unserer Modernen, daß kein Wort im Drama überflüssig sein soll, vermag ich bei den großen deutschen Tragikern nichts zu finden; ich sehe nicht einmal, daß sie die Knappheit des dichterischen Gewandes für eine dramatische Schönheit hielten. Nun hält allerdings unsere Kunstwissenschaft theoretisch die schönsten Lobeserhebungen für die Vollkommenheit der Diktion bereit, wie sie dessen auch nach Goethe und Schiller nicht umhin kann; gilt es aber einmal, wie im Drama, die Wertschätzung durch die Tat zu beweisen, so wird die Poesie der Rede aus den nichtswürdigsten Ursachen über Bord geworfen, und zwar mit einer Bereitwilligkeit und Zuvorkommenheit, als gälte es, sich von einer lästigen Bürde zu befreien. Und wirklich spürt man es dem Hohn, der sich mit burschikoser Frivolität über die Versstücke ergießt, gar wohl an, daß man sich erleichtert fühlt, daß man im Grunde Vers und Schwulst für gleichbedeutend hält. Darin liegt noch etwas Barbarisches; hier offenbart sich eine Pietätlosigkeit, wie wir sie sonst nur bei Nationen von junger und hastiger Kultur finden. Wir hegen Ehrfurcht vor Namen und Dogmen, aber nicht vor der heiligen Schönheit; diese bedarf bei uns zu ihrer Beglaubigung des Passes einer anerkannten Ästhetik. In dieser Hinsicht sind uns die Franzosen mit ihrer durch bloße Erfahrung, Gewohnheit und Übung gewonnenen, aber in Fleisch und Blut übergegangenen Ehrfurcht vor der Poesie überlegen.

Im Drama die Diktion geringzuschätzen und in der Musik die Melodie, das sind Rückschläge ins Teutonische, sind Atavismen. Alle wahre Ehrfurcht setzt freilich ein inniges Verhältnis der Seele zu dem ehrwürdigen Gegenstande voraus; zur Diktion haben wir aber kein inniges Verhältnis, weil wir Kunst und Poesie nur mehr mit dem ästhetischen Kopfe und dem literarhistorischen Kropfe aufnehmen, weil wir jedes Kunstwerk bloß als einen unsterblichen Anlaß für unendliche Abhandlungen betrachten, weil uns die wichtigsten Spezialorgane für den echten Kunstgenuß abhanden gekommen sind, nämlich das Herz und die Phantasie.

Um übrigens gerecht zu sein, müssen wir neben der trivialen Gesinnung, welche die Bühnentechnik nur als Schild benützt, um dahinter den gemeinen Widerwillen gegen das Hohe, das Ideale und das Schöne zu verbergen, auch eine aufrichtige, wenn auch irrige Überzeugung anerkennen. Die betreffende Überzeugung gründet sich auf die Annahme, als ob die dramatische Poesie statt mit Worten mit Schauspielern auszahle, daß sie statt Gedanken teleologische oder anthropologische Gleichungen und symbolische Handlungen bieten solle, welche zu den Lehren der Dramaturgie die Chrestomathie zu liefern hätten. Diese Überzeugung, deren Ursprung nicht in Stagira, sondern in Abdera zu suchen ist und die sich außerhalb der dialektischen Schußweite hält, muß natürlich zu einer Geringschätzung des Wortteiles führen.

Das eigentliche Kriegsgeschrei aber gegen Vers und Sprache ist von der Handwerksbühne und ihren Fürsprechern ausgegangen. Der Text desselben lautet: Das Lyrische und das Rhetorische und alles, was aus der Situation ins Allgemeine hinüberführt oder bei der Situation länger verweilen läßt oder entbehrliche Gedanken und Schönheiten hineinmischt, langweilt auf der Bühne, ist also bühnenwidrig, mithin undramatisch. Folglich ist undramatisch jede längere Rede, jeder Monolog und jedes entbehrliche Wort, mag dasselbe auch eine Perle der Literatur bedeuten; nur allein jene Worte dürfen geduldet werden, welche die Handlung weiterführen. Die Sprache im Drama soll allein als Lokomotive dienen.

Während also überall anderswo in der Poesie die Muse zu singen und zu sagen liebt, zeigt sie sich im Theater plötzlich von Aphasie befallen, zufolge eines Lampenstichs. Dagegen drückt sie auf die agitatorischen Nerven. Das Unrichtige dieser Lehre besteht darin, daß sie vom ersten bis zum letzten Wort nicht wahr ist. Denn alles, was da als unwirksam auf der Bühne geschildert wird, ist in der Tat so wirksam als möglich. Es ist zu allen Zeiten wirksam gewesen und ist es auch heute, nur nicht auf Augen und Ohren, welche mit Theorien verklebt sind.

Lyrik, Rhetorik und Dialektik stehen überall, zwar nicht dem Spektakel, wohl aber jedem literaturfähigen Theater zu Gevatter. Der Ursprung und das Wesen der Tragödie ist lyrisch, und der Dialog ruht auf der Dialektik. Das athenische Drama entstand im Jahrhundert der Sophisten, und Corneille war ein Advokat. Die französische Tragödie war und bleibt bühnenwirksam durch ihren Redepomp, die englische war es einst durch Spitzfindigkeiten und durch Schwulst. Auch in Deutschland ist Schiller auf der Bühne populär geworden, nicht trotz seinem phraseologischen Schwung, sondern durch denselben. Und wozu sich in die Vergangenheit bemühen? Man braucht nur durch die Vogesen zu fahren, und siehe da, alles und jedes, was diesseits für bühnenwidrig gilt, vom Reim bis zum Monolog, erweist sich jenseits als vorzüglich bühnenwirksam. Die bühnentechnische Wissenschaft ist also eine Unterabteilung der Geographie. Ich wiederhole es: die Hauptsätze der modernen deutschen Bühnentechnik sind einfach unwahr. Und so ist denn unwahr auch die Behauptung, daß Üppigkeit der Sprache und Reichtum der Verse bühnenwidrig sei.

Etwas anderes ist wahr, nämlich so ziemlich das Gegenteil: ein Drama ohne vollflutende Diktion ist ein Rebus mit wertlosen Bildern. Das Epos mit seinen herrlichen Gemälden kann des Gedankengehaltes entbehren, denn es wirkt wie der Frühling durch Sinnenschönheit und Formenfülle; das Drama jedoch bedarf durchaus der Ideen. Den Wert desselben allein in der Charakteristik zu suchen (die ohne zureichende Rede nie gelingt) oder in Handlungen (die ohne logische Deutung und lyrische Verklärung kein Interesse haben) oder in einer weltordentlichen Metaphysik (die immer auf Aberwitz hinausläuft), das sind ästhetische Liebhabereien, welche gekommen sind und gehen werden. Was bleibt, ist das allgemein Menschliche. Von diesem wird viel geredet; man sucht es aller Orten, vornehmlich an unmöglichen, wie zum Beispiel in der Verbindung des Typischen mit dem Individuellen, nur nicht da, wo es vor Augen liegt, nämlich in der Idealisierung oder Verklärung oder Vertiefung oder Durchgeistigung des Stoffes. Zu diesem Zwecke aber taugt Fleisch und Bein der Schauspieler und Holz und Leinwand des Regisseurs nicht viel, dazu bedarf es der Worte, und zwar nicht bloß derjenigen Worte, die unbedingt nötig sind, sondern der unendlich wichtigeren: der überflüssigen; derjenigen, welche die Fabel mit Schönheit überfluten und den Rohstoff der Handlung durch Psyche zersetzen.

Man wird mir die Tatsache entgegenhalten, daß die wortreichen Jambentragödien, die der deutsche Durchschnittsdichter jahraus jahrein verfertigt, so unerfreulich als möglich ausfallen. Ich will weder die Tatsache bestreiten noch die betreffenden Tragödien in Schutz nehmen; die letztern sind   ich gebe es zu   unleidlich und wertlos. Wie verträgt sich nun meine Anschauung mit dieser Erscheinung?

Auf die billige Behauptung, es fehlten die Talente, will ich mich nicht zurückziehen; die Natur ist mit Talenten freigebiger, als man annimmt. Wo während mehrerer Generationen eine Kunstform unter dem Mittelmäßigen bleibt, da liegt der Fehler entweder daran, daß der Dichter ein unrichtiges Ziel verfolgt oder daß er sich zu einem richtigen Ziel falscher Mittel und Wege bedient. Das allgemeine Urteil lautet, der erstere Fall sei vorhanden, der Dichter verfehle das Drama, weil er, statt auf Bühne und Handlung, auf Buch und Rede hinziele. Dagegen behaupte ich, daß die wertlose Jambenphrase keineswegs aus der literarischen Richtung des Autors stammt, sondern viel näher von den Kulissen her, unter der Bank hervor, auf welcher die Spötter und Weisen sitzen.

Nämlich der Grundschaden unserer versifizierten Rede- und Buchdramen stammt daher, daß sie zugleich Schuldramen sind. Sie sind aber Schuldramen deshalb, weil sie auf eine verzwickte Dramaturgie und Dramatolalie Rücksicht nehmen, die ihrerseits, wie ich bei diesem Anlaß bemerken muß, eine Mixtur aus den verschiedensten Abstrakten vorstellt und jedem Dramatiker das Konzept verrückt, dem Bühnentechniker sowohl wie dem Buchdramatiker; mit dem Unterschied, daß dieser gemäß seinem naiven Glauben gewissenhaft sämtliche Regeln befolgt, welche zum Untergang führen, während der schlaue Bühnentechniker jedem Gesetz, das ihn hindert, ein Schnippchen schlägt, in der Annahme, die Kunstkritik werde, wenn der Erfolg da ist, schon dafür sorgen, daß der Erfolg mit den Theorien stimme. Wenn nun die schlauen Herren Bühnentechniker über die unerquicklichen regelrechten Vers- und Schulstücke spotten, so hat das Sinn; dieser Spott ist ebenso berechtigt wie der Spott eines glücklichen Bankiers über seinen ehemaligen Schulkameraden, der ihm an Geist und Gesinnung überlegen war, die Welt verbessern wollte und jetzt im abgeschabten Rock linkisch daherschleicht. Allein daß die siebenmal siebenundsiebzig Schullehrer in den Spott einstimmen, das finde ich unleidlich. Wer hat denn das Schuldrama geschaffen? Wer hat ein obligatorisches Schema der fünf Akte zusammengeklügelt und dasselbe mit Aufgaben, Regeln und Klauseln überspickt? Man erlöse uns von den Schullehrern und Schulregeln, und das Schuldrama wird erstaunlich schnell verschwinden. Einstweilen finde ich es unpassend, daß der Schullehrer erstens den Schüler überredet, ein Drama genau nach dem Schulreglement zurechtzudichten, und ihn zweitens deswegen verhöhnt, weil er dem Schulreglement allzu genau folgte. Freilich gehört die freie poetische Erfindung ebenfalls zu den Ermahnungen der Schule; allein da gleichen die dramaturgischen Schulmeister dem Photographen, der einem den Kopf und den Rücken verdreht und Klammern um die Schläfen legt und Stöpsel in die Schulterblätter schiebt und den Augapfel nach hinten richtet und uns lächeln heißt und nachher spricht: «Nur ja recht frei und natürlich!»

Dieser gutgemeinte Lehreifer und dieses allseitige Zuhilfekommen mit Schulaufgaben ist es, und keineswegs das poetisch-rhetorische Kunstziel des Autors, was unsere Jambentragödien zur Mittelmäßigkeit verdammt.

Die Sache ist wichtig genug, daß ich ihr noch einige Worte gönne. Vor allem will ich meine These noch einmal klar und deutlich stellen. Die obligatorischen Schulaufgaben, so behaupte ich, sind schuld daran, daß die große Masse unserer Dramen weder für das Theater taugt noch für die Literatur.

Nicht die Jamben, nicht der langatmige Dialog, nicht die Lyrik und nicht die Rhetorik sind an der literarischen Unerquicklichkeit der vorliegenden Jamben-Schultragödien schuld, sondern die schematischen Aufgaben. Dieselben schädigen das entscheidende literarische Moment: die poetische Rede. Unsere beredten Versdramen sind nicht deshalb unerfreulich, weil sie viel reden oder weil sie gerne singen, sondern weil sie schlecht reden und häßlich singen. Das aber geht mit notwendigen Dingen zu:

Nämlich die Menge der Aufgaben, die fortwährende Rücksichtnahme auf das Ende, welche jede Arbeit zur Vorarbeit erniedrigen, verbunden mit der Forderung einer dicht verschlungenen Handlung, verbrauchen den größten Teil des Dialogs zu Expositionen, Verständigungen und Motivierungen. Der Dialog dient also im Schuldrama hauptsächlich als Katalog. Dieser Katalog aber ist für die poetische Rede natürlich verloren und mehr als verloren, denn er bedeutet nicht einmal Prosa. Er ist ein dramatisches Küchengeräte, das, wie sehr man es auch für notwendig erklären mag, an sich nichts weniger als poetisch schön ist. Geradezu häßlich aber wird der Katalog, wenn er in Versen daher kommt. Daran stößt sich nun ein resoluter Bühnentechniker wenig. Der stürmt, einerlei ob durch Prosa oder durch Poesie oder durch Interjektionen, fröhlich aufs Ende und auf den Erfolg los. Will er ein übriges tun, so streut er in den Katalog einige Albumverse und glaubt damit der Poesie seine Höflichkeit abgestattet zu haben. Jeder andere hingegen, und derjenige am meisten, welcher frisch von dem Studium der Klassiker herkommt, fühlt das Bedürfnis und empfindet die Sehnsucht nach einem zweiten, schwungvolleren, höherwertigen Redestrom. Den gießt er jetzt als eine fremdartige Sauce über und zwischen den prosaischen, notdürftig versifizierten, exponierenden und motivierenden Dialog. Das ist das Geheimnis der schuldramatischen Jambose. Ein Hauptteil der Verse zu Handlangerdiensten des Verstandes verwendet, ein zweiter Teil, vom blauen Himmel heruntergeholt, daneben gestellt, da muß natürlich in numerischer Hinsicht ein Wortschwall und in ästhetischer Hinsicht ein Fleckstil entstehen. Der Fleckstil sinkt zur Phrase hinab, sobald die Gestalten in realistischer Manier gezeichnet sind, sobald mit andern Worten die poetische Idealsprache nicht zu der Persönlichkeit paßt, der sie in den Mund gelegt wird. Und darum ist denn auch die historische Tragödie, in welcher wir Shakespeares Charakterrealismus mit Schillers Jambenschwung vereinigen möchten, die reichste Fundgrube aller dramatischen Stilfehler.


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