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Warum die ‹Zugstücke› in der Schweiz nicht ‹ziehen›

Man muß als Schweizer den Schweizer reden hören, um sich von der unglaublichen Unbeliebtheit des deutschen Schauspiels einen Begriff zu machen. Nehmen wir an, jemand erkundige sich bei uns über das Repertoire der nächsten Woche, was stets mit großem Eifer geschieht, ein Beweis, daß nicht das Theaterinstitut als solches Unlust einflößt. Antworten wir: «Don Juan» oder: «Barbier», so strahlen die Augen; sagen wir: «Eine Operette», so zuckt der Hörer die Achseln, aber schmunzelt; heißt es dagegen: «Schauspiel», so ertönt ein Schreckensruf: «O Gott!» und ein tieftrauriger Ausdruck der trostlosesten Verzweiflung fliegt über Blick und Antlitz. In diesem Falle fragt man nicht einmal nach Stück und Verfasser; das Wort ‹Schauspiel› für sich allein genügt, denn es bedeutet den Inbegriff der hoffnungslosesten Langeweile. Hier haben wir es nun nicht mit Vorurteilen und Bildungsmangel zu tun, sondern mit einem psychologischen Naturgesetze, das um so mehr der Ergründung bedarf, als es meines Wissens noch niemals genannt, geschweige denn erörtert worden ist.

Wenn ein Volk deutscher Abkunft und deutscher Sprache, im Geiste der deutschen Literatur erzogen und von lebendiger Ehrfurcht vor den deutschen Klassikern beseelt, ein Volk, das überdies, wie tausend Erscheinungen der Geschichte und der Gegenwart bezeugen, an theatralischem Instinkte keinem andern nachsteht (nehmen doch mitunter die Dilettantenvorstellungen der Schweiz geradezu den Charakter einer Volksbewegung an), trotz alledem dem deutschen Schauspiele beharrlich fernbleibt und sich lieber noch entschließt, sich zu Hause als auf den vorausbezahlten Sperrsitzen zu langweilen, dann muß ein tiefes Mißverhältnis zwischen dem deutschen Theater der Gegenwart und dem schweizerischen Volksgeiste oder, mit andern Begriffen ausgedrückt, zwischen Angebot und Nachfrage herrschen. Das ist denn auch in einem so hohen Grade der Fall, wie sichs der oberflächliche Beobachter nimmer träumen lassen würde. Sehen wir uns nach den Tatsachen und nach den Gründen um.

Zunächst aber die allgemeine Grundlage: Da ist in Betracht zu ziehen vor allem das gewaltige Vorwiegen der musikalischen Bildung vor der literarischen; dann das tatsächliche Bestehen unzähliger altererbter Ansätze zum Festspiele, dem feindlichen Konkurrenten des Kunstdramas; ferner unsere demokratischen Anschauungen, welche mit Naturgewalt immer von neuem darauf dringen, daß das Theater dem ‹Volke› etwas ‹biete›, das heißt, dem Volke das Volk vorführe; ferner der Mangel eines rein ästhetischen Standpunkts, mit andern Worten die Forderung, daß alle Kunst sich dem Patriotismus unterordne; endlich eine instinktive Scheu vor dem Berufsschauspielertum. Wir sind eingefleischte Anhänger des Dilettantismus in diesem Sinne, daß wir Staatsmänner am liebsten von Bundesräten, Kriegshelden von eidgenössischen Obersten möchten dargestellt wissen. Wer auf der Bühne unsere Bewunderung erwecken will, von dem begehren wir zu wissen, daß er auch draußen im Leben beim Tagessonnenschein eine geehrte Stellung einnehme: die Vorzüge erlernter Kunst schätzt unser Volk geringer als die unmittelbare Begeisterung, deren Echtheit es nun einmal nur dem Bürger, nimmermehr dem Berufsschauspieler zutraut. Darum gewinnen auch die Dilettantenvorstellungen in unserm Volksleben eine so große Bedeutung; sie sind Kundgebungen einer zu einem Dritteil künstlerischen, zu zwei Dritteilen patriotischen Andacht, die sich gleicherweise auf der Bühne wie im Zuschauerraume geltend macht. Ähnlich verhält es sich ja auch in der Literatur. Ein Oberst oder Nationalrat, welcher in seinen Mußestunden einen «Waldmann» oder «Winkelried» oder «Jenatsch» verfaßt, das ist das volkstümliche Ideal eines Dichters. Damit dem Schauspielerstande Ansehen vergönnt werde, müßte erst ein Übergang stattfinden, ich meine, es müßten schweizerische Berufsschauspieler erscheinen, die nebenbei Amt und Würden besäßen, so daß sie die hier erworbene Wertschätzung auf den Stand zu übertragen vermöchten.

Doch dies, wie gesagt, nur vorläufig; gehen wir jetzt auf den Kern der Sache ein. Der Charakter der deutschen Bühne wird mehr und mehr ein realistischer. ‹Aktualität› heißt die Losung und ‹Griff in das vollpulsierende Leben der Gegenwart› der Befehl. Das mag nun alles schön und gut sein, dem deutschen Schauspiel in der Schweiz aber schneidet es den ohnehin äußerst dünnen Lebensfaden ab. Denn zunächst huldigt der nüchterne Schweizer in Kunstsachen dem ausgesprochensten Idealismus, aus dem einfachen Grunde, weil alle naiven Völker Kunst und Ideal für unzertrennlich halten; es braucht lange Kunsterfahrung und Kunstübersättigung, bis eine Nation beim Realismus anlangt. Zu dem künstlerischen Idealismus gesellt sich der rhetorische. Wie tief aber die Rhetorik in unserm Nationalcharakter Wurzel gefaßt hat, bezeugt die Erscheinung, daß selbst ländliche Volksschriftsteller unsere Nationalhelden im begeisterten Jambenschwunge verherrlichen. Einen Winkelried im realistischen Stile oder gar im Dialekte zu behandeln, würde als Entweihung empfunden werden; er muß unbedingt in volltönenden Abstraktionen reden; und wo immer ein Anlauf zum Festspiele genommen wird, geschieht das auf dem Kothurn. Im deutschen Schauspiele vermißt daher der Schweizer Zuhörer aufs schmerzlichste den ihm ans Herz gewachsenen Sprachstil, nämlich den schillerschen Redeschwung, in ch gestimmt. Kommerzienratdeutsch statt Gesang, Schnoddrigkeit statt Poesie, Kalauer und Intrigen statt Gedanken und ä statt ch: dieser Tausch erweckt sein Unbehagen, und mißtrauisch fragt er sich, ob er dabei nicht übervorteilt worden sei. Neben den ästhetischen erzeugt der realistische Stil für unser Theaterpublikum noch logische Übelstände. Der Schweizer aller Stände spricht ja Dialekt; zwar wird das Buchdeutsch von jedermann verstanden, ja gewissermaßen sogar gesprochen, nämlich bei feierlichen Anlässen. Dagegen die norddeutsche Gesellschaftssprache ist den wenigsten äußerlich bekannt, keinem geläufig. Beginnt nun in Berliner Lokalstücken der Schauspieler zu näseln oder redet er rasch oder skandiert und artikuliert er nicht mit mechanischer Pünktlichkeit   und das ist ja die Regel  , dann könnte er ebensogut russisch vortragen, die Galerie hätte denselben Genuß. Wenn es aber darauf ankommt, nicht zu verstehen, was auf der Bühne gesagt wird, dann begibt sich einer lieber gleich in die Oper. Man sollte von Vernunft wegen annehmen, die Schauspieler würden sich hierzulande besonderer Deutlichkeit und Langsamkeit des Vortrags in norddeutschen Lokalstücken befleißen, wozu sie auch von der Presse oft genug ermahnt werden. «I wohin! fällt mir nicht ein!» Nachher klagen die Schauspieler über Teilnahmlosigkeit des Publikums.

Den Ausschlag indessen für die völlige Unbeliebtheit des neuern Schauspielrepertoires in der Schweiz gibt der Umstand, daß das stoffliche Interesse, welchem das Schauspiel und Lustspiel in Deutschland seine Entstehung und Zugkraft verdankt, hier wegen der andersartigen Verhältnisse notwendig versagen muß. Die deutschen ‹Aktualitäten› sind ja für die Schweiz gar nicht aktuell, weniger aktuell als das erste beste Hohenstaufendrama. Einen Heinrich IV. vermag unser Volk zu begreifen, da seine Phantasie im Schulunterrichte mit der deutschen Geschichte erfüllt worden ist; was in aller Welt jedoch soll es mit Kommerzienrätinnen, Baronen, Komtessen, Gardeleutnants, Assessoren, jüdischen Mäzenen und plattdeutschen Dienstboten anfangen, von welchen es weder durch die Anschauung noch durch die Lehre den mindesten Begriff erhalten hat? Wie will man ihm zumuten, daß es sich für solche Figuren erwärme? Ich halte es schon für eine ansehnliche Leistung der Geduld, daß es bloß die Flucht und nicht die Waffen dagegen ergreift. Je ‹aktueller›, ‹moderner› und realistisch getreuer ein Stück beschaffen ist, um so fremdartiger muß dasselbe unser Publikum berühren, weil der Trennungswinkel der beiderseitigen Gesellschaftsverhältnisse je länger, desto größer wird; darum erleiden gerade die ‹Zugstücke› und ‹Novitäten› in der Schweiz die auffallendste Ablehnung durch Gleichgültigkeit. Man kann nun einmal nicht zugleich auf das Lokalinteresse und das allgemeine Interesse sein Visier stellen. Die Zumutung aber, ein Stück ganz allein deswegen schön zu finden, weil es in Berlin gefallen, eine Zumutung, welche die Theaterdirektoren in der Tat ausdrücklich an uns stellen, weisen wir zurück, und schwerlich mit Unrecht.

Bei dieser Gelegenheit erlaube ich mir, einen Zweifel auszusprechen, ob es überhaupt ersprießlich sei, einem befreundeten Nachbarvolke beharrlich die deutschen Gesellschaftsverhältnisse in Zerrbildern vorzuführen. Dem deutschen Zuschauer vermag ja das Zerrbild das Urbild nicht zu verwischen, erstens, weil er die Wirklichkeit in tausend Beispielen täglich vor sich hat, zweitens, weil er die dramatischen Gesetze kennt, welche auf der Bühne die Übertreibung der Charakterlinien fordern. Beide Schutzvorrichtungen mangeln dagegen unserm Volke; es nimmt die Zerrbilder der Bühne und der Witzblätter für photographisch getreue Abbilder und gewinnt dadurch ganz falsche Begriffe von dem Wesen der lebendigen, wirklichen deutschen Nachbarn. Da überdies diese Bühnen- und Witzblattfiguren mitunter unsern heimischen Anschauungen geradezu Hohn sprechen, so muß man sich noch Glück dazu wünschen, daß niemals die mindeste feindselige Ablehnung derselben erfolgt, daß es mit der Gleichgültigkeit und der Theaterflucht sein Bewenden hat. Es liegt eben noch ein unschätzbares Kapital von Ehrfurcht vor dem deutschen Geiste und besonders vor der deutschen Literatur im Boden der deutschen Schweiz, von gläubiger, ja blindgläubiger Ehrfurcht, der es das deutsche Theater verdankt, daß niemals ein Bühnenstück, es mag sein wie es will, und niemals ein Schauspieler, und wäre er noch so unleidlich, in der deutschen Schweiz ausgezischt wird. Möge man mit den Zinsen dieses Kapitals nicht gar zu übermütig wirtschaften! Das Gefühl unserer Zusammengehörigkeit ruht auf unserer gemeinsamen geistigen Erziehung, vor allem auf der beiderseitigen Pflege der deutschen Klassiker. Der Idealismus verbindet uns; sehe man zu, daß uns der Realismus nicht scheide! Mit dem Tage, da das deutsche Schauspiel sich gänzlich von der Nachfolge Schillers lossagt, gebe ich sein Bestehen in der Schweiz für verloren; es wird dann als ein unerträglicher Eindringling erscheinen, und ein starkes Bedürfnis nach Erlösung davon wird sich fühlbar und endlich auch geltend machen. Einstweilen muß schon die wachsende Gleichgültigkeit als ein warnendes Zeichen ausgelegt werden.

Höchst lehrreich, wenn irgend jemand auf Erden jemals lernen wollte, könnte die Aufnahme sein, welche das Schweizer Publikum im besondern den Übersetzungen und Nachahmungen französischer Bühnenstücke angedeihen läßt. Abgesehen von Zürich und etwa noch St. Gallen, wo man am wenigsten französisch hört und wo den Berliner Geistesströmungen ein gewisser Kredit gewährt wird, lehnen die Schweizer Städte gerade die französierenden Theaterstücke am entschiedensten ab. Namentlich in Basel kann man nie das Haus einsamer und die wenigen Zuschauer frostiger erblicken, als wenn es einem Direktor einfällt, Dumas oder Lindau oder Blumenthal aufzuführen. Darob nun wieder gewaltige Verwunderung und Empörung. «Aus Ihnen kann der gescheiteste Mensch nicht klug werden! Wenn Sie denn doch einmal das deutsche Schauspiel nicht mögen, warum kommen Sie nicht wenigstens ins französische? Das müßte ja eigentlich ein Hauptschmaus für Sie sein!» Wollte der gescheiteste Mensch auch nur ein klein wenig nachdenken, so würde er die Erklärung dieser Erscheinung ohne Mühe selber finden. Denn erstens bezieht niemand gern eine Ware in gefälschtem Zustande vom Zwischenhändler, wenn er sie echt vom Fabrikanten haben könnte. Begehrten wir ein französisches Theater, so würden wir uns ein solches vom Westen her zu verschreiben wissen. Es bedürfte bloß eines Winkes, und es wäre da. Sollen wir wohl unter solchen Umständen unsere Franzosen aus Berlin beziehen? Die Zumutung ist zum mindesten sonderbar. Zweitens springen einem Schweizer Publikum, das selbst in seinen ungebildetsten Bestandteilen französische Sprache und französisches Wesen besser kennt als der deutsche Schauspieler, eine Menge von Fehlern der Darstellung in die Augen, welche ihm eine deutsche Vermittlung französischer Stücke verleiden; gehört es doch zu den Ausnahmen, wenn ein Schauspieler einen französischen Eigennamen mit weniger als drei Fehlern ausspricht. Drittens empfinden wir die Französelei der modernen deutschen Bühne als einen Verrat und als einen Betrug. Als einen Verrat, weil die deutsche Bühne deutsche Meister besitzt; als einen Betrug, weil wir ein deutsches Theater bestellten, nicht aber ein schlecht-französisches. Wer aus Bonn Rheinwein verschreibt, der läßt sich vom Händler keinen gefälschten Burgunder dafür bieten. Von den peinlichen Gefühlen aber, welche der Versuch, uns hinterrücks auf der deutschen Bühne französische Ware aufzutischen, bei uns erwecken muß, scheint man sich keine Vorstellung zu machen, sonst würde man solche Attentate gewiß unterlassen.


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