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Das Drama als Buch und als Theaterstück

Wenn wir heute den dramatischen Dichter vor dem Buchdrama warnen, so tun wir das nicht mehr allein in dem Sinn, daß wir ihn vor Phantasieausschweifungen bewahren möchten, welche die äußere Aufführbarkeit seines Werkes vereiteln würden. Jene Zeiten eines gemütlichen Parlamentarismus zwischen Dichter, Kritik und Bühne sind längst vorbei. Dramaturgie und Kritik haben sich zu einer systematischen Opposition gegen das dichterische Drama konstituiert, und die Bühne ist intransigent geworden. Wie denn auch ‹Buchdrama› heutzutage nicht bloß ein tatsächlich unaufführbares, sondern ein jedes Stück heißt, das nicht einen Lampen- und Leinwandgeruch von sich gibt. Dahinter liegt die Absicht, das Drama mit allen Wurzeln dem literarischen Boden zu entheben, um es auf die Bretter zu verpflanzen, in der Voraussetzung, daß in den letztern geheimnisvolle Kräfte schlummern.

Nämlich dem Deutschen ist das Theater durch ästhetische und literarhistorische Schrauben nachgerade zu einem Mysterium emporgediehen. Er sieht einen heiligen Geist um die Kulissen schweben, der so vornehmer Abkunft ist, daß er die Poesie kaum grüßt, der hingegen zu dem Regisseur eine verwandtschaftliche Zuneigung spürt, den dramatischen Adel stromweise über sein Haus ergießend, in die Versenkungen, in die Kleiderkammer, auf den Statisten, den Souffleur, den Pompier. Was sage ich Adel! Sakramente sind es, vor denen der Dichter sein Haupt zu entblößen hat; wir besitzen da eine Religion der falschen Barte und ein Hohepriestertum der intriganten Väter. Eine Aufführung aber bedeutet uns einen feierlichen Meßkultus, eine pathetische Transsubstantiation, wo aus Schauspielers Gnaden das Dichterwort Fleisch wird. Kurz, eine Transzendentalallegorie des Puppenspiels.

Hier nun, in dieser Überwelt aus Sacktuch und Kleister, sehen wir den einzig richtigen Aufenthalt des Dramas, vermöge seines messianischen Berufs; in dieser Gesellschaft möchten wir den Dichter wissen; und es spielt ein schmerzlicher Zug der Sehnsucht um die Lippen unserer Dramaturgen, wenn sie der Zeiten gedenken, da der Dramatiker mit einer Komödiantenbande in geschenkten Kleidern auf den Jahrmärkten umherzog, sich mit dem Büttel herumschlug und bei den Großen um Geld, Braten und Beifall bettelte. Offen gestanden, ich habe mich nie für jene Zustände begeistern können; denn es scheint mir ein wenig beneidenswertes Los, die Lorbeern im Speichel aufzulesen. Wie dem auch sei, jedenfalls ist jene goldene Jugendzeit dahin, und selbst der bühnenfreundlichste Kritiker wagt nicht mehr, dem Autor zuzumuten, daß er seine Fähigkeiten an das Eindrillen von Histrionen und an die Sorgen der theatralischen Finanzpolitik verwende, um im Alter seine Gicht vor den Augen des Publikums über die Bretter zu schleifen. Nun, man tut, was man kann; in Ermanglung des Ganzen nimmt man mit dem Teil vorlieb, und so empfiehlt man uns denn eindringlich den wiederholten, womöglich täglichen Gebrauch von Kulissen Vollbädern. Wir sollten den Tag über bis an den Hals zwischen Leinwand und Lappen versinken und des Nachts von nichts anderm träumen als von Lumpen und Lampen. Je weniger ein theatralischer Wisch mit dem Geist des Dramas zu tun hat, um so größere Aufmerksamkeit darf er vom Dichter beanspruchen; gerade in dem Staub der Rüst- und Rumpelkammer wohnt eine reinigende Kraft für den dramatischen Odem. Nämlich wir sind literaturschwindsüchtig, wir haben eine Lampenluftkur nötig; wir wollen nur schöne Verse schreiben und möchten, daß unsere Dramen urteilsfähigen Lesern gefielen; einzig der Umgang mit zärtlichen Naiven vermag uns zu heilen.

Aus dieser Geistesverfassung läßt sich die Gier erklären, mit welcher das grübelnde Deutschland die leichtfertige neufranzösische Bühnentechnik mit ihrem Handwerkswelsch begrüßt hat. Zwar sehen die Begriffsbilder des Handwerks auf den ersten Blick nicht sonderlich edel und noch weniger heilig aus, dieselben taugen aber der deutschen Kritik insofern, als sie den auffallendsten Gegensatz zur Literatur betätigen; und so reichen sich denn Papst und Türke wider die Christenheit die Hand. Das wollen wir zugeben: schärfer kann ein dramatischer Meister von einem gemeinen großen Dichter nicht unterschieden werden, als wenn man sich den erstem als einen Demiurgen vorstellt, um den Kopf einen Nimbus und um die Lenden eine Schürze. Ein Handwerk hat ferner Regeln, Schnürchen und Handgriffe; diese empfehlen sich, um dem Demiurgen die buchpoetischen Unsitten abzugewöhnen, die ihm von seiner literarischen Erziehung her anhaften. Damit räumt eine Bühnentechnik gründlich auf.

Einige Übelstände verbleiben immer, welche alle Geisteskraft der vereinigten Theatrologen nicht zu beseitigen vermag: nämlich der Bühnengottesdienst bedarf des gesprochenen Wortes, denn eine metaphysische Pantomime läßt sich doch nicht wohl bieten. Das gesprochene Wort aber fällt, man mag wollen oder nicht, in das Rechtsgebiet der Poetik, Stilistik und Rhetorik. Dadurch wird ein lästiges Kondominium auf der Bühne geschaffen, denn jeder selbstwertige Dialog oder Monolog begründet eine Enklave der Buchpoesie mitten im Bühnenmysterium. Von dieser Mitherrschaft sich zu befreien, das hat sich die moderne Bühne zur Aufgabe gesetzt.

Das zuverlässigste, ja einzig hinreichende Mittel zu diesem Zweck wäre die gänzliche Beseitigung des Dialogs; doch daran ist wie gesagt nicht zu denken; wenigstens nicht für den Augenblick. Die Zukunft vielleicht mag uns in dieser Richtung liebliche Überraschungen bereiten. Wenn wir die berühmten Schauspieler unserer Zeit mit Naturlauten die herrlichsten Bühnenwirkungen erreichen und einen geistreichen Schriftsteller wie Blumenthal über «gewisse bellende Töne» in Entzücken geraten sehen, so haben wir hiemit möglicherweise die ersten Regungen des bühnengerechten Zukunftdramas vor uns, der Miauomime, in welcher nicht mehr gesprochen, sondern nur noch geknurrt und gepfaucht wird. Das wäre allerdings das Ideal der ersehnten Knappheit der Diktion. Bis wir aber so weit sind, bis ein geborener Vollblutdramatiker diesem echt theatralischen Gedanken zum Durchbruch verhilft, muß der Dialog einstweilen als ein unvermeidliches Übel geduldet werden; und es kann sich gegenwärtig nur darum handeln, ihn zu verstümmeln und zu zerstören. Das hat man denn auch nach Kräften unternommen, und es ist über Erwarten gelungen; der Einspruch, der von den unzähligen gelehrten Kennern der klassischen Tragödie zu erwarten war, ist ausgeblieben. Sehen wir, wie sich das ungefähr gemacht hat:

Zunächst bildete sich gegenüber der Langweiligkeit und der Schallrednerei der gemeinen Jambentragödie eine Reaktion, welche sich naturgemäß besonders gegen die Längen der Rede richtete, da man von dieser Seite das Unausstehlichste zu leiden hatte. Es läßt sich nicht leugnen: an der Ungunst des Jambendramas tragen die Autoren zu einem beträchtlichen Teil selbst die Schuld. Daraus entwickelte sich allmählich ein Mißtrauen gegen die Grundlagen, auf welchen solcherlei Unkraut gewachsen kam, also Mißtrauen gegen den Vers, gegen den poetischen Schwung, gegen Ausführlichkeit, gegen geschichtliche Stoffe. Germania gewöhnte sich jene keusche Susannenstellung gegen den Dramatiker an, die wir kennen: das Angesicht abgewandt und beide Hände zum Schutz vorgestreckt. Das Theater vollends übte sich mehr und mehr in den Gebärden eines Kaufmanns, von dem man ein Anleihen begehrt. Kurz, der gesamten dichterischen Jambentragödie wurde zum vornherein ein für allemal der Glauben und das Zutrauen verweigert; und das ist ein Übel, wenn auch ein erklärliches. Später mischte sich noch der Scharfsinn in die Sache, womit natürlich alles verloren war. Ein kluger Einfall überbot den andern, selbstverständlich jedesmal als Glaubenssatz vorgebracht, wie es Brauch und Recht ist. Geben wir ein kleines Sträußchen davon, der Leser wird traute Bekannte darunter finden:

«Ein besonderes Kennzeichen dramatischen Vollbluts ist eine knappe, lakonische Diktion.» So sicher das klingt, ist es doch nichts weniger als gewiß. Denn erstens habe ich nie davon gehört, daß die Spartaner sich als dramatische Dichter hervorgetan, und zweitens beweisen sämtliche großen Tragiker aller Nationen das Gegenteil.

«In einem vollkommenen Drama sollte kein Wort überflüssig sein.» Von diesem Bettelstolz möchte man schwerlich ein Beispiel in der Geschichte der großen Dichter finden; er paßt auch wenig zu dem Wesen der Kunst, welche durchaus nur mit einer überflüssigen Ware handelt, der Schönheit, diese aber gern dreizehn das Dutzend gewährt.

«Der literarische Reiz steht in umgekehrtem Verhältnis zu dem Wert eines Dramas, so daß ein Werk, welches beim Lesen gefällt, als undramatisch verdächtig wird, während man es ein günstiges Zeichen heißen muß, wenn ein Stück den Leser unbefriedigt läßt.» Mit diesem Satze bekennt die moderne Bühne ihr Ziel: das Libretto. Von hier bis zum Ausrufungsdrama und Wauspiel braucht es nur noch einen einzigen Fortschritt. Daß aber dergleichen bei uns ohne kräftigen Widerspruch hingeht, bringt einem wieder einmal in Erinnerung, wie selbst die gediegenste ästhetische und literarhistorische Bildung keine sichere Bürgschaft für einen gesunden Geschmack in Kunstsachen bietet.

So hat denn die Bühne in ihrem Kampf gegen die dichterische Rede theoretisch gesiegt, und da Theorien, was man auch dagegen sagen mag, großen Einfluß auf die Ausübung der Künste gewinnen, ist der Sieg auch von Folgen gewesen; unsere Dichter trachten wirklich gegenwärtig nach einem Libretto, das heißt nach einem unselbständigen Textbuch, und Dürftigkeit der Rede rechnen sie sich als einen Ruhm an. Daß sie gleichwohl in ihren Arbeiten literarischer verfahren, als sie selber möchten, beruht auf dem Selbsterhaltungstrieb, den wir hiemit noch etwas schärfen und dem Bewußtsein näher bringen möchten.

Obschon nämlich nach unserer (hierin von der französischen abweichenden) Theorie einzig das Theaterpublikum über den Wert eines Stückes zu entscheiden hat, während das Urteil des Lesepublikums für unbefugt gilt, so steht doch tatsächlich die Bedeutung der beiden Gerichtshöfe im umgekehrten Verhältnis zu der Rangordnung, welche ihnen die Schule anweist. Einmal ist das Theaterpublikum eine an Zahl kleine Behörde, die überdies an verhängnisvollen Charaktereigentümlichkeiten leidet: an Launenhaftigkeit, Veränderlichkeit und Gedächtnisschwäche. Dazu kommt, daß dieselbe Behörde nur kurze Zeit tagt, wonach sie durch eine andere ersetzt wird, deren Lieblingsvergnügen darin besteht, die Urteile der Vorgänger umzustoßen. Deshalb gelingt es zwar dem Theater leicht, dem Schriftsteller, der sich nach der gelieferten Decke streckt, eine augenblickliche Berühmtheit zu verschaffen und ihn im Jubel über die Bretter des Landes zu tragen; wenn man aber nach zwei Jahrzehnten wieder nachfragt, so ruht das ‹zündende› Werk verkohlt in der Rüstkammer, und wer damals als Shakespeare ausgerufen wurde, der heißt jetzt Kotzebue. Damit verglichen ist ein Bucherfolg zuverlässiger und vor allem nachhaltiger; und darum wird auch der dramatische Dichter   und zwar mit Recht   immer versucht sein, dem Buchwert seines Werkes mehr Aufmerksamkeit zu gönnen, als der Bühne lieb ist.

Überhaupt steht der Dichter dem Theater überall im Wege; kein Wunder, daß man ihn durch den Handwerker verdrängen will. Könnte man ihn durch Maschinen ersetzen und die Fäden der Handlung mit Dampf herstellen, es würde noch weit bühnentechnischer geraten. Nicht genug nämlich, daß ein Dichter immer seitwärts nach dem Buch hinüberblickt, anstatt sein Heil einzig von der Bühne zu erwarten, er bringt auch gewisse Dinge mit, die stören, zum Beispiel das Selbstbewußtsein. Das Selbstbewußtsein sträubt sich gegen die Mache und gegen das Libretto, weil der wahre Name der bühnengerechten Handwerksarbeit Namenlosigkeit heißt. Wo eben ein Name unwesentlich ist, da ist die Namenlosigkeit tatsächlich vorhanden; nur dasjenige aber, was einem einzelnen eigentümlich ist, verlangt einen Namen. Daß jedoch das Eigentümliche (Individuelle) bei der modernen Handwerkerei in die Brüche geht, erhellt schon aus der Möglichkeit, ein Theaterstück zu zweien und dreien anzufertigen.

Das Selbstbewußtsein wird dann noch von dem Standesbewußtsein unterstützt. Hinter einer Reihe von hervorragenden Dichtern, die zwar mit dem Theater auf sehr vertrautem Fuße lebten, aber auf dem Fuße des Herrn auf dem Rücken des Dieners, versteht man sich ungern zu der Rolle eines Pantomimographen. Und so hat denn bisher allen Lockungen, Warnungen und Spötteleien zum Trotz der deutsche Dramatiker die Selbstaufopferung noch nicht so weit getrieben, um sich aller und jeder Rücksicht auf den Leser zu entschlagen; selbst der geriebenste Bühnenschriftsteller bleibt heute (wohlverstanden, wenn es sich um ein ernstes Schauspiel handelt) immer ein wenig Buchdramatiker, indem er neben den rein theatralischen Aufgaben zugleich noch einigen Anforderungen der Gemeinpoesie gerecht zu werden versucht. Er hat zwar Zugeständnisse die Fülle gemacht   und, wie ich glaube, im Übermaß  , den endgültigen Selbstmord durch absichtliche Vermeidung jedes Literaturwertes hat er bis jetzt noch nicht vollzogen. Nun, wenn wir die Siebenmeilenfortschritte überblicken, welche uns die Bühnentechnik in dieser Richtung hat gehen gelehrt, kann es wohl nächstens dahin kommen. Was aber dann noch auf den Brettern geschehen mag, dürfte kaum mehr ein Drama heißen, sondern eine anthropologische Abendunterhaltung.

Dabei pflegt man das Wichtigste zu übersehen. Während man nämlich die Frage erörtert, welchem von beiden Gerichtshöfen das Urteil über ein Drama zukomme, der Lesewelt oder der Theaterwelt, vergißt man das Obergericht: die Nachwelt. Von der Nachwelt verlautet in den Lehrsätzen der Bühnentechnik kein Sterbenswörtchen; begreiflich, denn die Nachwelt ist nicht bühnengerecht. Die Bühne lebt von Tag zu Tag, von der Hand in den Mund und von der Kasse in den Beutel.

Anders der Dichter. Für diesen entscheidet das Urteil der Nachwelt über Leben und Tod. Nach welchen Eigenschaften aber spricht die Nachwelt über ein Stück das Urteil? Nach seiner Bühnenwirksamkeit oder nach seinem literarischen Wert? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein; und ich klage hiemit die Vorredner der Bühnentechnik der Hehlerei an, indem sie diesen Umstand von allerhöchster Wichtigkeit verschweigen oder vertuschen und damit der gedankenlosen Meinung Vorschub leisten, als ob das Theater eine schlechthin zuverlässige und beständige Einrichtung wäre, welche das Werk eines Dichters zu verewigen vermöchte. Das gerade Gegenteil ist wahr: es gibt nichts Wandelbareres und Vergänglicheres als das Theater. Diese Tatsache liegt vor jedermanns Augen; um sie zu sehen, genügt es, die Augen nicht zu verschließen.

Die Welt hat bis jetzt zwei große dramatische Zeitalter erlebt, das Zeitalter der athenischen Demokratie und das Zeitalter der europäischen Renaissance. Von den betreffenden beiden Schauspielsammlungen ist die eine, wie jedermann zugesteht, auf unserer Bühne gänzlich unbrauchbar geworden. Wie verhält es sich mit der andern? Noch sind kaum drei Jahrhunderte verflossen, und schon können wir kein Shakespearesches Stück mehr aufführen, ohne es vorher zu ‹bearbeiten›. «Das Theater Shakespeares war ein anderes als das unsrige»; das lehrt jede Dramaturgie gar eindringlich den jungen Dichter. Noch mehr: selbst dem Theater Schillers und Goethes sind wir nach hundert Jahren schon entfremdet; auch hier fangen wir schon an, zu bearbeiten und namentlich zu beschneiden; ja ein trefflicher Dramaturg, Freytag, muß zugeben, daß es überhaupt gar kein Drama aus der klassischen Zeit gibt, das wir unverkürzt oder unverändert wiedergeben könnten.

Meint man nun, die allerneueste Handwerks- und Intrigenkammer werde länger dauern? Man sehe doch zu: ein Stück, das nach der modernen Bühnentechnik gearbeitet ist, erscheint nach fünfundzwanzig Jahren schon veraltet, wie wir aus den Annalen des französischen Theaters lernen, auf welchem die moderne Bühnentechnik in ihren Grundzügen schon seit fünfzig Jahren heimisch ist. Und das läßt sich auch gar wohl begreifen. Nämlich ein Theater, dessen höchstes Gesetz die ‹Wirksamkeit›, also der Erfolg heißt, kann ein Menschengeschlecht kaum überleben, weil ein neuer Schub von Menschheit andere Bedürfnisse mitbringt und auf andere Weise gefaßt werden will; so daß man ohne Übertreibung von unserem modernen Theater sagen darf: gerade weil ein Theaterstück heute alle Welt entzückt, wird es nach dreißig Jahren nur ein Lächeln erzielen; es ist ein ähnliches Verhältnis wie bei der Mode, nur daß in unserm Fall die Jahreszeiten durch Menschenalter vertreten sind. Und in solch ein Schindelhaus wagt man den Dichter zu verleiten, um ihm zu sagen: Hier ist deine Wohnung, hier suche deine Heimat! Die längste Frist eines wahrhaft lebendigen Wirkens, die einer dramatischen Literatur auf dem Theater vergönnt war, beträgt zwei- bis dreihundert Jahre; und diese äußerste Grenze wurde überdies gerade von einer Gattung erreicht, die allen unsern modernen Lehren vom Theatralischen Hohn spricht, nämlich von der französischen klassischen Tragödie. Es mag angenehm sein oder nicht, es läßt sich redlicherweise nicht bestreiten, daß die Werke eines Corneille und Racine bis auf diesen Tag von der Bühne herunter die französische Nation bewegen, erziehen und prägen, und zwar in unveränderter Gestalt, ohne Bearbeitungen. Wenn es aber je Buchdramen im modernen Sinn des Wortes gegeben hat, so sind es wahrlich jene Tragödien, die ja geradezu geflissentlich auf langatmige rhetorische und lyrische Ergüsse abzielen und die Handlung, dieses moderne Universalmittel der Bühne, nach Kräften vermeiden. Und so haben wir denn die folgende wohl bedenkenswerte Tatsache vor uns: Während alle unsere Lehrbücher dem Dramatiker die Bühnentechnik als sein Seelenheil verkünden und ihn vor literarischen Gelüsten wie vor dem Tode warnen, ist die einzige Schauspielsammlung, welche sich aus früheren Jahrhunderten auf dem Theater echt, unverfälscht und wirksam erhalten hat, eine Sammlung von Buchdramen. Umgekehrt aber sehen wir die bühnengerechten Handwerksstücke der Kotzebue, Benedix und Scribe dahinsterben wie die Fliegen. Es gehört große Schulstrenge dazu, um solchen Tatsachen zu widerstehen. Wäre ich ein Freund von Paradoxen, ich wagte die Behauptung: Ein Buchdrama ist bühnenwirksamer als ein bühnengerechtes Drama   nämlich insofern, als dem literarischen Bestandteil eines Dramas eine wandellos wirksame Kraft innewohnt, während die eigentümlichen Bühnenwirkungen ziemlich bald eindruckslos verpuffen.

Wie lange oder wie kurze Zeit ein Stück die Bretter behaupte, ist dabei eine untergeordnete Frage; denn sicher kommt für jedes einmal ein Tag, wo es davon verschwindet. Und was dann?

Dann handelt es sich in alle Ewigkeit nur mehr um den Wert des Textes. Je unabhängiger nun derselbe von dem Theaterapparat eines gewissen Zeitalters erfunden wird, je selbständiger er schön ist, um so sicherer und tiefer wird die Wirkung durch alle künftigen Zeiten sein; die ehemalige Bühnenwirksamkeit aber ist unwiederbringlich in alle Lüfte verflogen; wer auf dieselbe rechnete, hat in den Wind gesät. Was ist uns gegenwärtig der heilige bühnentechnische Kultusapparat, mit welchem die Athener ihre Chorwirkungen erzielten? Ein fossiles Libretto, das wir uns von den Gelehrten müssen restaurieren lassen und an welchem wir nur den einen Kunstgenuß haben, zu wissen, daß es den Athenern wohlgefiel. Der heute so verrufene Dialog hingegen, also der Buchteil, ermöglicht es uns, die Schönheiten der griechischen Tragödie nach mehr als zweitausend Jahren noch nachzufühlen, weil eben der Dialog seine Erklärung und seinen Wert in sich selbst trägt und keinen Choragen, sondern nur einen denkenden Leser erheischt. Daraus sollten wir uns eine Lehre nehmen.

Für die Nachwelt, das steht fest, ist jedes Drama ein Buchdrama; die Bühnenzeit eines Werkes bedeutet nur einen kurzen Frühling, eine kleine Hochzeitreise über die Bretter.

Um die gewonnene Wahrheit in bündige Sprüche zusammenzufassen:

Ob ein Drama einmal auf der Bühne wirksam oder nicht wirksam gewesen, wird einst vollkommen gleichgültig sein, ob es aber literarischen Wert in sich trägt oder nicht, das entscheidet über seine Fortdauer.

Oder anders ausgedrückt:

Ein Theaterstück, das nicht zugleich eine literarische Tat bedeutet, verfällt dem ewigen Tode, und sollte auch ganz Europa während zehn Jahren begeistert herbeiströmen; hingegen ein gänzlich bühnenwidriges Drama, wenn es nur poetischen Buchwert besitzt, kann unsterblich sein, wie unter andern ‹das größte Gedicht der Deutschen› beweist.


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