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Fremdes Land und Volk


Das Glockenläuten in Rußland

Ein jeder Mensch, der Westeuropa seine Heimat nennt, ist bei den poetischen Klängen der Kirchenglocken aufgewachsen; die herrlichen bebenden Töne haben ihn in so vielen Stimmungen belauscht und haben in ihm so viele weiche, unbestimmte, aber inhaltsvolle Gefühle erweckt!

War es nun bei der abendlichen Dämmerung, wenn die Familie traulich um die beschattete Lampe vereint saß, die melancholische ‹Betzeitglocke›, mild und phantasievoll klingend, Waldmärchen aus der frühesten Kindheit zurückrufend; oder war es beim Morgengrauen die melodische Frühglocke, Teilnahme und Trost singend dem Kranken, den Gesunden ermutigend, dem Schlafenden in die tiefste Seele sprechend, seine Träume kolorierend; oder war es endlich zur Mittagszeit der majestätische, dunkle Klang von der Kathedrale her, welcher hoch über das Gewühl der Stadt hinaus in den goldenen Sonnenschein seine Schönheit hauchte   immer waren es willkommene, segensvolle Töne, jeder Gemütslage sich anpassend, jedes Gefühl weihend.

Diese ganze Poesie fehlt Rußland durchaus, denn da werden die Glocken nicht geschwungen, sondern geschlagen.

In den ersten Tagen achtet wohl der Fremde wenig auf das eigentümliche surrende und brummende Geräusch, das ihm des Morgens und des Abends von allen Seiten der Stadt in die Ohren dringt; er nimmt diese Töne ruhig an, weil es ihm nicht einfällt, daß sie unser Glockenläuten ersetzen sollen; aber nach den ersten Wochen fühlt er schon eine Lücke, und bald wird ihm klar, wo dieselbe liegt.

Der einzelne Klang, welcher durch den Anschlag des Schwengels an die fest eingerammelte Glocke erzielt wird, ist zwar an und für sich nicht unangenehm, und es scheint zunächst der Fehler bloß in dem kürzer dauernden Nachhall zu liegen; aber der kurze Nachhall bringt eben einen zweiten, unleidlichen Übelstand mit sich: den Mangel an Verbindung; jeder Ton steht einzeln da, von seinem Nachbar getrennt, und wirkt nur für sich. Wie das nun anzuhören ist, davon kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man sich auf dem Klavier eine einzige Note eine halbe Stunde lang vorspielen läßt oder wenn eine verrückt gewordene Turmuhr in einem fort zwölf Uhr schlägt; es ist um die Geduld zu verlieren. Gewöhnt man sich denn nicht auch daran? Ganz am Anfang wohl, aber später nicht mehr.

Wäre das wenigstens nur alles, was wir in Rußland von den Glocken auszustehen hätten! Aber wir müssen von dieser Seite noch Schlimmeres ertragen lernen: nämlich mitten unter dem Gesurr und Gemurr ertönt plötzlich ein heftiges Klingeln von einem Dutzend kleiner Glöckchen, welches von furiosen Grobschlägen unterbrochen wird; wir empfangen den Eindruck, als wenn die Kirchenglocken von der Tollwut ergriffen wären.

Dieses Spiel ist ganz unausstehlich barbarisch; dagegen bringt das einfache Glockensurren noch Wonne. Um aber die ganze Widerwärtigkeit dieses Schnellklopfens zu begreifen, darf man nicht bloß an Beleidigung des Ohrs denken; nein, es ist der ganze geistige Mensch, der dadurch empört wird, worüber wir uns wieder an dem Beispiel, welches jedermann vor Augen steht, am Klavier, belehren können. Der Leser wird keine Mühe haben, sich einen talent- und geschmacklosen Knaben vorzustellen, der, anstatt seine Fingerübungen mechanisch herunterzuspielen, allerlei dumme Einfälle zum besten gibt; wer zöge nicht zwei Stunden cccc dddd eeee einer minutenlangen Qual dieser Sorte vor? Was uns hiebei am meisten reizt, das ist der Unsinn und die Roheit, welche sich in solchen Phantasien aussprechen.

Das russische Glockenspiel hat übrigens noch eine weitere Variation, die aber so bizarr und zugleich kindisch ausgedacht ist, daß wir uns nicht mehr ärgern können; wir müssen lachen.

Erst wird die tiefste Glocke einmal angeschlagen: «baum». Darauf fünf Minuten Pause. Hienach eine etwas höhere: «bom». Wieder fünf Minuten Pause. Darauf wieder eine höhere: «bum». Nach fünf Minuten: «bam». Dann: «bäm». Endlich: «bem». Schließlich: «büm» und ganz zuletzt: «bim». Dann fängt die Musik wieder von vorne an.

Dies Konzert kann zwei Stunden dauern, und da es gewöhnlich am frühen Morgen dem Publikum vorgespielt wird, so klingt es einem in den Schlaf hinein und erweckt die absonderlichsten Träume, durch welche natürlich die Töne noch multipliziert werden. Aber, wie gesagt, diese Variation wirkt nur komisch, und da die einzelnen Noten nicht übel klingen und sich erst nach langen Pausen folgen, können wirs uns gefallen lassen; alle fünf Minuten ein Schlag, das geht an.

 

Das russische Glockenklopfen hat übrigens immer eine bestimmte Bedeutung und steht in genauem Verhältnis zum Gottesdienst; es ist alles weislich ausgedacht.

Beim Beginn des Gottesdienstes läutet eine einzelne große Glocke, welches Läuten ‹frohe Botschaft› genannt wird. Während der Horae verstummt das Geläute; nach Beendigung der Horae wird mit den vereinigten Glocken so viel Spektakel als möglich ausgeführt, und zwar in dreimaligem Dakapo, weshalb man diesen Lärm ‹Dreiklang› heißt. Der ‹Dreiklang› ist dem russischen Volk das Symbol froher Festlichkeit geworden; so begleiten in der Nationaloper «Das Leben für den Zaren» unzählige Glocken im ‹Dreiklang› den Triumphmarsch des Orchesters, was ein russisches Publikum andächtig stimmt, uns aber die Ohren betäubt. Dieser ‹Dreiklang› ist es, den ich oben mit der Tollwut verglichen habe. Bei der Konsekration der Hostie wird wieder eine einzelne Glocke geschlagen, am Schluß, während des Gebetes für den Kaiser, wiederholt sich der abscheuliche ‹Dreiklang›.

Die Glockenskala, welche in langen Intervallen von ‹baum› zu ‹bim› durchgeschlagen wird, heißt ‹Überklang› und deutet eine ganz ungewöhnliche und ernste Feierlichkeit an. Ich habe den Überklang diesen Sommer bei dem Begräbnis der Kaiserin gehört; auch bei der Newataufe kommt er vor.

Wer den ganzen Reichtum des russischen Glockengeklappers genießen will, der muß sich zu Ostern nach Moskau begeben; ich meinerseits habe an den Petersburger Ostern genug. Da brüllen während einer Woche fast ununterbrochen Tag und Nacht die Glocken der ganzen Stadt; damit ja keine Pausen entständen, ist jedem Russen gegen eine kleine Abgabe erlaubt, in den Glockenturm hinaufzukriechen und daselbst Spektakel zu machen. Das hatte eben noch gefehlt.

 

Possierlich ists, den Glöckner in seiner verruchten Tätigkeit zu belauschen:

Er hält, auf einer Estrade stehend, zwischen den Fingern der Linken eine Menge kleiner Glockenstränge; einige größere hat er um den Arm gewickelt, die dicksten Seile regiert er mit der Rechten, und überdies setzt er die riesigen ‹Brüller› (Revun) mit den Füßen, gleich einem Orgeltreter, in Bewegung. Da nun die Glocken nicht über ihm, sondern vor ihm hangen, so zieht er nicht von oben nach unten, sondern reißt die Stricke waagerecht an sich, wodurch er das Ansehen eines Ertrinkenden gewinnt, der mit Armen und Beinen verzweifelt rudert. So kutschiert der heilige Mann im Schweiße seines Angesichts; aber er vollbringt ein frommes Werk, das weiß er; wir jedoch wünschen, daß ihn ein gewaltiger ‹Brüller› wie eine Krinoline zudecken möchte, damit wir vor seinem verderblichen Eifer Ruhe hätten.


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