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Meine Bekehrung zum Cinéma

1916

Ja, ich habe mich zum Cinéma bekehrt. Vor zwei Jahren noch war ich ein Verächter des Cinéma, wie jedermann, weil ich es eben nicht kannte, wie ebenfalls jedermann. Jetzt dagegen kommt es vor, daß ich das Cinéma fünfmal in einer Woche besuche. O, nicht unter allen Umständen, nicht wahllos. Niemand kann einen lebhafteren Abscheu als ich verspüren vor den blödsinnigen, mitunter unsagbar rohen Possen, vor den albernen Räubergeschichten, Intrigen- und Detektivsensationen mit ihren ewigen Dachklettereien und Automobiljagden. Wenn dergleichen grassiert, bleibe ich dem Cinéma fern, wochen- und monatelang. Die Kriegsbilder? Meistens Bluff. Aus triftigen Gründen bekommen wir ja bloß Idylle hinter der Front zu sehen. Also was denn? Was hat mich trotz alledem mit dem Cinéma versöhnt und befreundet, bis zur völligen Bekehrung?

Nun, tausenderlei Sehenswürdigkeiten, Merkwürdigkeiten und Schönheiten, von denen ich die wichtigsten (zum Beispiel die Vergeisterung des Weltbildes durch die Lautlosigkeit) hier gar nicht einmal berühren kann, weil sie besondere ästhetische Abhandlungen beanspruchen, die ich mir vorbehalte. Also hier nur das Einfachste, Naheliegende, und auch das nur, des Raummangels wegen, in kürzester Form. Vor allem etwas Technisches: die Photographien sind durchschnittlich über Erwarten vorzüglich, zuweilen sogar über alle Vorstellung. Zum Stofflichen übergehend: die Naturbilder, das strömende Wasser, die wehenden Wälder, die prächtigen Parklandschaften begrüßt gewiß jedermann mit Dank und Freuden. Ebenso die Vorführung fremder Völker und Gegenden oder, wenn das besser klingt, das Geographische und Ethnographische. Zur Natur gehört aber auch das Tier und zum Ethnographischen auch das Historische. Ich habe im Cinéma Tierbilder, leider nur zu selten, gesehen, die für sich allein schon mich mit dem Cinéma befreunden würden. Wie eine afrikanische Großkatze in den schleunigsten Schlangenwindungen über einen mit Nippsachen überfüllten Spiegelsims rennt, ohne auch nur das kleinste Ding zu berühren, geschweige denn umzuwerfen, wie eine Eule in blitzschnellem Flug durch das dichteste Gestrüpp, ohne anzustoßen, eine Ratte überfällt, wo bekommen wir denn sonst dergleichen zu sehen? Bitte mehr Tierbilder.

Das Historische: Denen, die es vielleicht nicht wissen, sei mitgeteilt, daß jene italienischen Firmen, die uns große Szenenfolgen aus dem römischen, dem griechischen, dem assyrischen und jüdischen Altertum liefern («Kabiria», «Quo vadis», «Kleopatra») offenbar von vortrefflichen Kennern der Geschichte beraten werden. Die Kostüme, die Möbel, die Gebäulichkeiten sind treu bis in einzelnste, wir könnens ja nach den Schriften der Alten kontrollieren. Und diese Leute wissen mehr als wir, wir können also lernen, mühelos, durch genußreichen Anschauungsunterricht. Können Sie sich die Toga der Senatoren, die Tracht der Liktoren deutlich vorstellen? Schwerlich. Da seht ihrs. Haben Sie einen Begriff von der Kleidung der römischen Matronen? Gewiß, aber einen falschen. Ihr meint, weiß? Kommt und verbessert euern Begriff. Und das Auftreten, die Umgangsformen der Alten. Wenn man einen Scipio im Cinéma gesehen hat, erfaßt man die unwiderstehliche Überlegenheit eines Römers über einen barbarischen König.

Aber der moderne Kulturmensch, ist denn der weniger interessant als der historische oder exotische? Das Cinéma ist ja international, seine Filme bieten daher auch in den einfältigsten Dramen ethnographische Möglichkeiten. Ein schwedischer Film: Beobachten Sie die unbefangene temperamentvolle Fröhlichkeit des Jungvolkes. So sauber, so frisch und gesund und zugleich sittsam, als nähmen sie jeden Morgen ein seelisches Blumenbad. Ein amerikanischer Film: Wie resolut, wie heftig die Männer sich rühren, wie herrisch, wie verwöhnt die Frauen (abgesehen von dem sichern und wilden Reiten auf den herrlichen Pferdchen, wenn die Handlung in Wildwest spielt). Ein italienischer Film: O die Anmut der Bewegungen, die Urbanität der Umgangsformen, das bezaubernde Lächeln mit den Augen bei der Begrüßung. Von französischen und deutschen Filmen laßt uns schweigen, seien wir neutral. Beiläufig eine hübsche Rätselaufgabe: versuchen Sie, in der ersten Minute der ersten Szene an der bloßen Haltung der auftretenden Personen herauszulesen, welcher Nationalität die Schauspieler angehören.

Übrigens nicht nur der Geist, auch Herz und Seele kann beim Cinéma gewinnen. Seine Dramen sind ja sämtlich Rührstücke und Tugendstücke, ob auch in sensationeller Sauce. Dergleichen ist ja freilich literarisch wertlos. Allein es gibt noch andere Werte als literarische: Lebenswerte, Beispielswerte. Sieg der Guten über die Bösen, edelmütige Verzeihung, feuchte Augen, von Dank strahlend. Bitte dringend um dergleichen im wirklichen Leben.

Schließlich: Was hält man denn von der Schauspielkunst, von ausgezeichneten Künstlern betätigt? Wie viele von uns bekommen denn eine Bertini, eine Robinne, eine Lydia Borelli, eine Asta Nielsen, eine Porten leibhaftig auf der Bühne zu sehen? Nun, im Cinéma kommen sie freundlich zu uns zu Gast und stellen sich sogar vor Beginn der Aufführung mit einem liebenswürdigen Lächeln uns vor. Da aber durch den Wegfall der Sprache die Mimik und die Gebärde im Cinéma die Hauptrolle spielen, so sind die Meister der Mimik und Gebärde, also die Italiener, hier das Höchste. Da erlebt man förmliche Offenbarungen, zum Beispiel das Spiel der Arme. Und wenn sich zur Meisterschaft noch die Schönheit gesellt, so erhalten wir im Gebiete des Höchsten das Allerhöchste, mit einem Wort Lydia Borelli. Nur ausnahmsweise leider taugt im Cinémadrama die Handlung etwas, man muß sich an die einzelnen Szenen halten. Trifft jedoch der Ausnahmsfall einmal zu, im Verein mit einem Schauspieler ersten Ranges, dann erleben wir einen unvergeßlichen Kunstgenuß, zum Beispiel in der «Kameliendame», von der Bertini gespielt. Kommt zu dem Ausnahmsfall noch die ausnehmende Schönheit der Schauspielerin, dann steigert sich der Kunstgenuß bis zum Glücksgefühl. Wer die Lydia Borelli in den «Kindern der Sünde» oder die Pina Menichelli im «Feuer der Liebe» gesehen hat, wird mir beistimmen und beifühlen.

Eines habe ich gegen das Cinéma: die Musik. Die hat mich schon oft in schleunige Flucht gejagt. Ich weiß nicht, warum alle Städte das Vorurteil haben, im Cinéma müsse eine aufdringliche, marktschreierische Schauermusik gelten. Zwar wo mechanische Musik tönt, sind wir gerettet, da ist man wenigstens vor Exzessen sicher. Hingegen die Rumpforchesterchen, die Geiger, die Klavierspieler! Mitleid und Sparsamkeit mögen sie meinetwegen dulden, einverstanden, ob auch seufzend. Aber wenn der Klavierspieler zu ‹phantasieren› anfängt, o Graus! Martern der Hölle. Erbarmen, meine Herren Direktoren, verbieten Sie Ihren Klavierspielern das ‹Phantasieren›, im Namen der Menschlichkeit.


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