Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunundsechzigstes Kapitel

Anton stand vor den eisernen Gittern des Schlosses Erlenstein. Gewiß waren es die Urenkel jener großen Hunde, von denen seiner Mutter Handschrift berichtet, die ihn heute schmeichelnd begrüßten, wie deren menschenfreundliche Vorfahren dereinst die arme Antoniette begrüßt hatten.

Auch das Geschlecht der Besitzer hat seitdem gewechselt, und wenn es nicht Urenkel sind, denen er entgegentreten soll, ist es doch der Sohn jener strengen, edlen Gräfin, dem er nun als Sohn Vaterliebe abgewinnen will.

Den Wanderburschen hat er im Gasthause gelassen. Im schwarzen Kleide, wie man zum Feste geht, mit der Haltung eines feingebildeten Mannes nähert er sich den Stufen, vor denen damals seine Mutter um Einlaß bat.

Er fragt zunächst nach der Gräfin, für die das Schreiben der Verstorbenen bestimmt ist. Ein Kammerdiener – nicht mehr der graue, treue Diener und Vertraute der Familie, denn er ist längst geschieden, seiner alten Herrschaft zu folgen – gibt ihm kund, daß die Gräfin abwesend sei, auf einem Ausflug nach ihrem lieben Sophienthal begriffen. Der Graf sei zu Hause, und er könne gemeldet werden, obwohl seine gräfliche Gnaden leidend wären.

Anton schwankte. Seine zuckenden Fingerspitzen halten das Schreiben, das er schon wie eine vorzuzeigende Beglaubigung in Bereitschaft hat; der Kammerdiener sieht es, erbietet sich, es dem Grafen einzuhändigen. Anton zögert; er dürfe es nur in die Hände der Gräfin legen, sagt er. Dem Diener kommt sein Benehmen befremdlich vor; ehe noch ein bestimmter Entschluß ausgesprochen wurde; erfährt Anton, daß er angemeldet sei, und daß der Graf ihn erwarte.

In einem großen Eckzimmer des oberen Stockwerkes, mit offener Aussicht auf einen frisch grünenden Park, den Krankenstuhl ans Fenster geschoben, von Hunden umlagert, sitzt, liegt vielmehr Graf Guido von Erlenstein, ein Mann von etlichen und vierzig Jahren, und begrüßt den von streitenden Empfindungen fast betäubten Anton mehr erstaunt als unfreundlich, obgleich die Züge des männlich schönen, durch einen überlangen Reiterbart abgeteilten Angesichts deutlich zeigen, daß gerade in dieser Stunde die Fußgicht einen heftigen Anfall auf des Leidenden gute Laune unternimmt. Was dem Kammerdiener gleich bei Antons Erscheinen auffiel, verfehlt jetzt auch nicht, sichtbare Wirkung auf den Gebieter zu machen: es ist die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn. Der letztere, dessen unsteter Blick in einen großen Wandspiegel fällt und sich darin neben dem Grafen erblickt, fährt erschrocken zurück, ohne passende Worte für eine Anrede zu finden. Sie schauen sich beide schweigend an, bis der Kammerdiener sich zurückgezogen und die Tür hinter sich geschlossen hat.

»Sie haben, wie ich höre, einen Brief für meine Gemahlin? Von wem kommt er? Und was will er?«

»Es ist ein Brief, den meine Mutter kurz vor ihrem Tode schrieb, den ich persönlich überreichen soll nach ihrem letzten Willen.«

»Hieß Ihre Mutter Antoinette? Antoinette Hahn?«

»Ja. Herr Graf!«

»So bist du mein Sohn!«

Bei diesen nicht ohne Rührung ausgerufenen Worten hielt der Graf dem jungen Manne die Hand entgegen, wie wenn er sie ihm reichen wollte. Anton trat einen Schritt vor, ergriff die Hand und führte sie ehrerbietig an seine Lippen.

Graf Guido betrachtete ihn lange, als ob er ihn im Geiste mit einem Abwesenden vergleichen wollte, dann schüttelte er wehmütig den Kopf, stieß einen tiefen Seufzer aus und versank in trauriges Nachsinnen, woraus er sich mit unverkennbarer Mühe aufraffte.

»Ich habe kein Geheimnis vor meiner Frau, Anton; Gräfin Julie weiß alles, was ich von dir und deiner Mutter ihr zu sagen wußte. Du begehst also keine Verletzung gegen den Wunsch der Verstorbenen, wenn du mir das Schreiben mitteilst, das sie dir hinterließ. Ich will es lesen, ehe wir weiter miteinander verhandeln.«

Anton überreichte den Brief seinem Vater. Als dieser die Aufschrift erblickte, schien er sich der Handschrift zu erinnern, die ihm dereinst so teuer gewesen. Er sagte leise: »Armes Mädchen!« Dann las er:

»Gräfin Julia! Wenn Ihre Freundin, die Frau des Pastors in Sophienthal, noch am Leben ist, wie ich hoffe, mag sie Ihnen bestätigen, daß nicht lange Zeit vor Ihrer Vermählung ein verlorenes Mädchen im Pastorhause übernachtete und von dort aus ein Briefchen an den Grafen Guido, Ihren damaligen Bräutigam, richtete. Dieses Mädchen, das Ihnen als eine arme Verwandte der Pastorin vorgestellt ward, bin ich. Nach Sophienthal war ich gekommen, um Sie zu sehen; um zu erfahren, ob die beglückte Nebenbuhlerin, der ich hatte weichen müssen, meinen Haß verdiene, ob meine Liebe! Ich hörte Sie, Gräfin, ich sah Sie, – und ich entsagte. Voll von Ihrem Bilde, desgleichen ich zu jener Zeit noch nicht gesehen hatte, desgleichen mir auch im Laufe meines elenden Lebens nicht weiter begegnet ist, schrieb ich Ihrem künftigen Gatten und gab ihm seine Schwüre zurück, seine Freiheit, mit dem einzigen Vorbehalt, daß er sich bestrebe, Ihrer würdig zu werden.

Ich zweifle nicht, daß er diese meine Bedingung redlich erfüllt hat; an Ihrer Seite konnte er ja nicht anders. Und da eine glückliche Ehe volles Vertrauen bedingt, so wird Ihnen Guido unfehlbar von den Verirrungen seiner Jugend, wird Ihnen auch von mir erzählt haben. Deshalb darf ich nicht fürchten, Zwietracht zu erregen, wenn ich jetzt von meinem Sterbebette zu Ihnen rede, wenn ich Ihnen meinen Sohn – den Sohn Ihres Gatten – empfehle! Ich habe in unweiblichem Hochmut, in eitlem Zorn Eltern und Kind verlassen, habe das Dasein einer lieblosen Mutter, einer undankbaren Tochter unter goldenen Flittern und glänzendem Elend im Widerstreit mit meines Herzens besserer Stimme geführt, bis zuletzt Krankheit und Lebensüberdruß an der Hand des Mangels mich dem offenen Grabe überlieferten. An seinem Rande stehend, wurde mir noch ein Zeichen ewiger Gnade und Barmherzigkeit zuteil: Gott sandte mir meinen Lohn, daß er die letzten Tage der Sterbenden durch seine Nähe, durch sein Mitleid verklärte. Gott sandte ihn mir, ich sende ihn der Gräfin Julia! Er hat in unsteten Wanderungen, in Torheiten und Irrtümern ein reines Herz bewahrt. Er ist würdig, durch Gräfin Julia seinem Vater ans Herz gelegt zu werden. Gott hat es also gefügt. Sie verkennen diese Fügung nicht, dessen bin ich gewiß, und so sterbe ich ruhig und gern. Der Segen einer armen Sünderin dringe aus dürftiger Totenstube in Ihres Schlosses Hallen.

Antoinette

Guido hatte diesen Brief laut vorgelesen, mit fester Stimme, gleichsam um sich den Inhalt und die Bedeutung desselben recht ins Gemüt zu führen. Er sagte dann zu Anton:

»Es war nicht unsere Schuld, daß von unserer Seite nichts für dich geschehen konnte; weder meine Schuld, noch meiner seligen Mutter, am allerwenigsten meiner guten Frau, die, nachdem sie durch mich von deiner Existenz erfuhr, tief bekümmert war, nicht für dich sorgen zu dürfen. Deine Mutter hatte es also gewollt: die furchtbarste Drohung ward durch sie an jeden Versuch geknüpft, den wir gewagt hätten, dir hilfreich zu sein. Auch wähnte ich dich mit ihr in weiter Ferne. Jetzt bist du hier, und ich freue mich dessen. Daß Julia dir Mutter werde, bedarf es doch dringender Mahnung dieses Briefes nicht. Du selbst sollst bestimmen, was wir für dich tun, in welche Formen wir unsere Pflichten für dich kleiden dürfen. Fürs erste bleibe einige Tage hier, daß ich dich, daß ich deine Vergangenheit kennen lerne. Unterdessen kehrt die Gräfin aus Sophienthal heim, und dann ...«

Diese Rede ward unterbrochen durch das Geräusch eines am Schlosse vorfahrenden Wagens, dem der Graf aufmerksames Gehör zuwendete, wobei der Ausdruck ängstlicher Besorgnis seine bisher freundlichen Mienen verdüsterte. Er hieß Anton nach dem Vorzimmer gehen und einen Diener herbeirufen. Als dieser kam, fragte er hastig: »Wer war's?« Und als der Diener entgegnete: »Der junge Graf!« warf sich Guido halb zornig, halb niedergeschlagen in seinen Lehnstuhl zurück, laut ausrufend: »Den führt ein böser Geist um diese Stunde nach Hause!«

Anton begriff, daß er in einem Sohne seines Vaters, den eine solche Äußerung empfing, keinen Bruder zu erwarten habe, und fragte bescheiden, ob er sich entfernen solle.

Graf Guido winkte ihm, zu bleiben.

»Geschehen muß es doch, erfahren muß er es doch, daß du lebst und Ansprüche hast, zu leben. Besser heute, als später! Vielleicht kommen wir mit einem Sturme durch! Anton, du wirst in diesem Hause etwas erblicken, was selten ist: einen Sohn, den seine eigene Mutter (gegen alle Welt nur Huld und Güte) geringschätzt, meidet, haßt, soweit sie hassen kann! Einen Sohn, den sein Vater abgöttisch liebte, verzog, sich über den Kopf wachsen ließ, und den er nun fürchtet, wie man nur einen grausamen Tyrannen fürchten kann, weil die Affenliebe für ihn noch nicht besiegt ist; einen Sohn endlich, der, die Selbstsucht in Person, für keinen Menschen ein Herz hat, für seine Eltern am wenigsten; der in Müßiggang und Wildheit die Zeit verschwendet und sich hier nur blicken läßt, wenn er Geld braucht. Ich hatte nur noch eine Hoffnung für ihn: er sollte die Tochter aus einer Familie heiraten, mit der ich verwandt bin; einer Familie, wo strenge Sitte und frommer Ernst vorherrschen. Dort sollte er die weitläufigen, etwas delegierten Besitztümer übernehmen, mit meinem Gelde nachhelfen, durch Tätigkeit und Fleiß unter seiner Schwiegereltern Obhut auf eine andere Bahn geleitet werden; wir hofften, das würde ihn ermannen und zu sich selbst bringen; ihn schien es anzulächeln, daß er dadurch sein eigener Herr, Herr eines Hauses und einiger großer Landgüter werden könne. Doch alles zeigte sich als kurzer Traum, aus dem seine plötzliche Rückkehr, verbunden mit der bestimmten Erklärung, die Braut gefalle ihm nicht, uns erweckte. Seitdem treibt er es ärger als je.«

Anton hatte schon im Sinne, nach dem Taufnamen des ungeratenen Söhnchens zu fragen, weil er sich Gewißheit verschaffen wollte, ob eine düstere Ahnung, die ihm bei dieser Schilderung durchs Gedächtnis zog, wahr werden könne. Doch wurde ihm diese unangenehme Mühe erspart, denn Graf Louis trat hastig ein.

»Was will dieser Mensch?« rief er, mit der Reitgerte auf Anton deutend, ehe er noch einen Gruß für den Vater gefunden. Der Vater entgegnete mit fast erkünstelter Heftigkeit: »Dieser Mensch ist dein Bruder!«

»War Graf Erlenstein schon einmal verheiratet, ehe er meiner Mutter die Hand reichte? Wie?«

Graf Guido verstummte vor Gram und Zorn.

»Einen Bastard soll ich doch nicht etwa Bruder nennen? Ich begreife nicht, mein Vater, wie Sie mir eine Zumutung dieser Art machen mögen! Noch weniger aber kann ich begreifen, wie Sie einem Burschen seiner Art hier Eintritt gestatten. Ein Herumtreiber und Gaukler, ein Knecht und Menageriewärter, ein Vagabund, der schlechter Streiche halber vor der Polizei aus einer Stadt in die andere fliehen muß, der sich in vornehme Häuser stiehlt als Musikant, als Tanzmeister, und dann entweicht, wenn er sich erkannt sieht! Schicken Sie ihn fort, mein Vater, sonst lasse ich ihn binden und unsere Amtsdiener bringen ihn nach der Kreisstadt.«

Graf Guido warf seine Augen von Louis auf Anton, von Anton auf Louis, als wenn er beide fragen wollte, ob und woher sie sich kennten. Louis schäumte vor Wut. Anton fand Kraft, sich zu beherrschen, zu schweigen; doch war er noch nicht so weit Herr über sich, ruhig zu sagen, was sagen zu wollen er sich bereits entschlossen fühlte.

Der Vater hatte unterdessen Antoinettes Brief zusammengefaltet und denselben, um ihn den Blicken seines »rechtmäßigen« Sohnes und Erben zu entziehen, unter anderen Papieren verborgen.

Noch einmal hob Louis an: »Wird der Landstreicher nun bald seiner Wege gehen?«

Noch einmal wendete Guido einen bittenden Blick auf Anton, der so viel sagen sollte als: »Rechtfertige dich!«

Dieser nahm das Wort:

»Herr Graf, ich habe nur die Befehle meiner sterbenden Mutter ausgeführt, da ich hier mit innerlichem Widerstreben eindrang. Sie haben mich liebevoll aufgenommen, ich danke Ihnen für die väterlich edlen Absichten, die Sie mir kundgetan; ich nehme scheidend Achtung und kindliche Verehrung für Sie in meinem Herzen mit mir fort, aber ich muß scheiden. Ich kann und darf mich zwischen Sie und Ihren Sohn nicht drängen. Die Teilnahme, die Sie mir, nah oder fern, gönnen wollten, müßte ewigen Zwiespalt herbeiführen. Von Versöhnung zwischen ihm und mir kann niemals die Rede sein. Er haßt mich auf Leben und Tod; er weiß, warum er es tut; er hat recht, mich zu hassen. Ich gebe es ihm von ganzer Seele zurück. Doch ist er Ihr Sohn, er ist der Sohn der Gräfin Julia, und ich weiche ihm. Leben Sie wohl, mein – mein Herr Graf!«

»Anton, bleibe, bleibe bei mir! Er liebt uns nicht. Du hättest mich geliebt, und ich dich. Reinige dich von den Anklagen, die er gegen dich vorgebracht, und bleibe bei uns!«

»Ich kann ihn nicht Lügen strafen. Es ist wahr, daß ich eines Vagabunden Leben führte; es ist wahr, daß ich mir als Knecht und Gaukler mein Dasein fristete. Wenn ich dennoch mehr wert bin als er, wenn ich meine Ehre dennoch besser bewahrte als er, so sind meine Ehre und mein Wert zu hoch über ihm, um mich auf einen Wortstreit mit ihm einzulassen. Einen anderen jedoch darf ich in diesen Räumen mit ihm nicht beginnen, denn er ist der Sohn des Hauses. Ist es ihm an jedem anderen Orte gefällig ... er weiß, wie ich meine Sachen ausfechte, auch ohne Waffen. Gewissen Helden gegenüber genügt der Stock. Noch einmal, Herr Graf, leben Sie wohl und seien Sie gewiß, daß ich Ihnen in Liebe und dankbarer Anhänglichkeit ergeben bleibe.« –

Anton hörte noch im Vorzimmer den Grafen mit schmerzhafter Anstrengung »Anton, Anton!« rufen. Aber er kehrte nicht mehr zu seinem Vater zurück und verließ das Schloß.


 << zurück weiter >>