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Zweiundfünfzigstes Kapitel

Die alten Leute empfingen Anton wieder ebenso herzlich als da er zum erstenmal zu ihnen zurückgekehrt war. Zugleich dankten sie voll Erkenntlichkeit für die Unterstützungen, die er während seiner Krankheit ihnen habe zufließen lassen. Es war nicht schwer, auch hierin Antoninas frommes, fürsorgendes Walten zu erkennen; nicht minder sichtbar zeigte sich dasselbe in seinem Kämmerlein, in Kleidung, Wäsche, Ordnung und Aufbewahrung sämtlicher Papiere.

»Ja, alles dies habe ich ihr zu verdanken«, sprach er, »ihrer schwesterlichen Liebe. Aber wird es dieser wohl auch möglich werden, mich aus dieser Stadt, aus diesem Lande zu bringen? Noch immer hängt ein Schwert über meinem Haupte; eine unvorsichtige, voreilige Bewegung, die mich, meinen Namenstausch, meinen gesetzwidrigen Aufenthalt verrät, ... und es fällt, fällt und schneidet mir jede Hoffnung ab, die Spuren weiter zu verfolgen, die Carinos Andeutung mir zeigte. Im engen Kerker, umgeben von niedrigen Verbrechern, wie der verworfenste Landstreicher behandelt, werde ich vergeblich nach Italiens Himmel mich sehnen, wohin bange Hoffnung jetzt meine Seele zieht. Abermals wird wüstes Fieber mich aufs Krankenlager werfen, – ach, und keine Antonina, keine Adele wird mit Engelsfittichen mir kühlenden Trost zuwehen. Wäre es nicht besser, von ihren milden Worten beruhigt, zum himmlischen Frieden hinübergegangen zu sein? Daß ich jetzo begraben läge, wo Carino liegt und mein armer Tischler!«

Anton blieb viel daheim, holte im Tagebuche emsig nach, was er versäumt durch Bärbels Umgang, durch seine Krankheit, füllte alle Lücken aus, schrieb die ersteren Blätter ins reine und lebte auf diese Weise sein junges Leben noch einmal durch. Nur im Schutze der Abenddämmerung wagte er sich hinaus an die Luft. In jedem Begegnenden, der ihn eines Blickes würdigte, wähnte er den Verfolger fürchten zu müssen, den Diener der Gewalt, der ihn zur Rechenschaft ziehe.

Es war wieder Herbst geworden, fast ein Jahr verstrichen, seitdem er in Paris eingewandert. Für ihn welch ein Jahr?

Von Adele keine Kunde. Kein Zeichen, daß er noch hoffen dürfe! Tag auf Tag verging; seine Besorgnisse nahmen stündlich zu.

Von einem der flüchtigen Abendspaziergänge heimkehrend, findet er seine teilnehmenden Wirtsleute ängstlich, einsilbig, unruhig. Er sieht ihnen an, daß sie ihm eine Mitteilung machen könnten, daß sie es nicht wagen. Hastig dringt er in sie und vernimmt nach langem Zögern: ein Mann von unheilverkündendem Aussehen ist dagewesen, hat streng forschend nach einem jungen Menschen sich erkundigt, der von den barmherzigen Schwestern hier eingemietet sei, und er will noch diesen Abend wiederkehren.

»So ist es denn um mich geschehen«, ruft Anton. »Lebt wohl, ihr guten Freunde, Gott sei mit euch und lohne eure Liebe für mich; und wenn Schwester Antonina nach mir zu fragen käme, bestellt ihr meine Grüße, meldet ihr: Anton schmachte im Gefängnis!«

»Im Gefängnis!« wiederholten beide Alten, zwischen Widerwillen und Mitleid geteilt, »Sie im Gefängnis?«

Zugleich öffnete sich die Tür; jenes hämische Gesicht erscheint vor ihnen, das Anton erblickt zu haben sich erinnert, als er, um seinen rasenden Hunger zu stillen, einer Trödlerin das schwarze seidene Halstuch zum Verkauf darbot.

»Sie werden mir augenblicklich zum Herrn Kommissar folgen«, sagte der Mann.

Anton schüttelte seinen Wirten die Hände, empfiehlt ihnen noch einmal den Abschiedsgruß für die fromme Schwester und geht – fest entschlossen, vor Gericht die volle, reine Wahrheit zu sagen – den schwersten Gang seines Lebens.

*

Der Kommissar, ein ergrauter Mann, empfing ihn ernst, maß ihn mit prüfendem Blick und fragte sodann: »Wissen Sie, warum Sie bei mir sind?«

»Ich kann es mir denken«, erwiderte Anton.

»Nun, so sagen Sie es mir aus Ihrem eigenen Munde, ich will wissen, wie Sie selbst Ihre Lage beurteilen.«

Anton wurde durch diese Aufforderung trotz seines redlichsten Willens, wahr zu sein, doch in tödliche Verlegenheit gesetzt, ob er die Gründe angeben solle und dürfe, die ihn zunächst nach Paris zogen. Mußte er dann nicht eingestehen, daß er sich Adeles wegen mit einem falschen Paß hierher gewagt? Und stand nicht zu besorgen, daß er durch alle hierher gehörigen Bekenntnisse Schwester Antonina und deren heiligen Ruf verletze? Nach langem Besinnen hub er an: »Sie haben mich festnehmen lassen, weil Sie wissen, daß ich es bin, der, eines Flüchtlings Reisepaß benützend, mich in dieses Land, in diese Stadt eingeschlichen; weil Sie wissen, daß ich hier einen Winter lang in schlechter, wenn auch prunkvoller Umgebung verkehrt; daß ich jetzt, durch mildtätige Seelen vom Tode errettet, ohne Mittel, ohne Aussicht, planlos ins Blaue hineinvegetiere; weil Sie einen Vagabunden meiner Gattung nicht dulden wollen; weil Sie für nötig finden, mich ins Gefängnis zu werfen.«

»Was der junge Mann für stolze Pläne hegt! – Wir scheinen noch nicht gänzlich hergestellt von schwarzen Fieberträumen! Nein, mein Kind, so schlimm steht es nicht. Wohl ist mir bekannt, – und ich wäre eine schlechter Beamter auf meinem Platze, wenn ich davon keine Kenntnis hätte, – daß Sie nicht derselbe Antoine sind, auf dessen längst abgelaufenen Ausweis Sie durch die Barrieren drangen. Ebensowenig wie Sie ein gewisser Baron mit unmöglichem Namen sind, der allerdings auf einem schwarzen Register steht, und der zur guten Stunde sich entbaronisierte, um wieder ein schlichter Antoine zu werden. Auch haben wir unsere Augen – denn ich zähle vielerlei Augen im Dienste – auf Ihnen, seitdem Sie bei dem alten kinderlosen Paare einzogen. Das sind die beiden ehrlichsten armen Menschenhäute in ganz Paris, die keine verdächtigen Subjekte beherbergen würden. Ich weiß, woran wir sind mit ›Anton Hahn aus Liebenau‹. He? Dennoch wäre es Ihnen am Ende schlecht bekommen, mit Teufels Gewalt ein Antoine bleiben zu wollen, wenn nicht höheren Ortes Einsprache für Sie erhoben worden wäre. Ihrem Verstande will ich überlassen, darüber nachzusinnen, wie, durch wen, auf welche Weise dieselbe lautgeworden sein mag! Uns genügt, daß wir sie vernommen. Was ich Ihnen jetzt amtlich zu berichten habe, ist folgendes: Wir können Herrn Anton Hahn, der übrigens von einem Franzosen prononciert nicht anders klingt als Antoine, in Paris nicht gebrauchen. Wir stellen ihn seiner Embassade zur Verfügung. Diese ist bereits von allem in Kenntnis gesetzt, was ihr zu wissen dienlich, und handelt mit meinem Chef in Übereinstimmung. Zum Sekretär Ihres Gesandten haben Sie sich morgen früh zu begeben, ihm dies versiegelte Schreiben zu überreichen, und von ihm werden Sie das Weitere vernehmen.«

»Aber wenn er mich nach meiner Heimat zurückweist?«

»Nun, was verlangen Sie mehr? On peut-on être mieux, qu'au sein de la famille

»Ach, Herr Kommissar, ich habe keine Familie und keine Heimat.«

»Armer Junge! Nur Mut: gehen Sie dreist, wohin die Adresse dieses Briefes Sie weist. Er kommt von mächtiger Hand. Mehr darf ich nicht sagen. Vielleicht schafft er Ihnen Erlaubnis, den Weg einzuschlagen, auf dem Sie eine Heimat suchen können.«

»Sie sind unterrichtet, mein gütiger Herr? Sie sind –«

»Ich bin ... von der Polizei. Damit basta. Und dies Schreiben ist, ... o junger Freund, Sie taten sehr wohl, die Protektion frommer Schwestern bei frommen Personen zu gewinnen. Ohne diese möchte ich für nichts stehen. Jetzt Finger auf den Mund, – und glückliche Reise!«

*

Anton konnte nicht sogleich in sein Kämmerchen heimkehren. Er fühlte das Bedürfnis, erst noch in freier Luft zu atmen und zu dem blauen Raume emporzuschauen, wohin wir arme Sterbliche unser feuchtes Auge richten, wenn wir in Schmerz oder in Freude des Ewigen bedürfen.

Das kostbare Schreiben ruhte auf seiner Brust: sein Herz schlug mächtig dagegen.

»Ich werde reisen dürfen! Ich werde Italien sehen! Ich werde jene Frau finden, die mir Kunde geben kann von meiner Mutter Tod, von meines Vaters Leben, – vielleicht von seiner Reue, seiner Liebe ... und abermals Adele!«

Die alten Wirtsleute erwarteten ihn beim matten Lämpchen in Seelenangst mit rührender Teilnahme. Weinend umhalste er beide: »Ich bin gerettet! Ich bin frei! Alles ist gut!«

Und sie falteten ihre welken Hände und dankten dem lieben Gott.

*

Beim Gesandtschaftssekretär sollte Anton, wie er sich am anderen Morgen zu ihm begab, nicht vorgelassen werden. Der Diener betrachtete verächtlich die abgenützte Kleidung des zu Meldenden und sagte: »Sie müssen während ›unserer‹ Amtsstunden wiederkommen; auf seinem Zimmer empfängt der gnädige Herr keine Geschäftsbesuche.« (»Vorzüglich keine Landsleute, die aussehen, als ob sie betteln wollten«, hätte er hinzusetzen mögen.)

Anton zeigte sein Schreiben vor und entschuldigte das frühe Eindringen durch die ihm Zuteil gewordene Weisung des Polizeibeamten.

Der Diener riß ihm den Brief aus der Hand, trug ihn mürrisch hinein, – Anton blieb im Vorzimmer, und während der einen Minute, wo er allein blieb, zogen finstere Wolken über die Sonne seiner Hoffnung. »Wenn«, seufzte er, »der Beamte mich getäuscht hätte? Wenn ...«

»Bitte nur einzutreten!« Und der Diener öffnete die Pforten der Gnade mit höflicher Verbeugung.

Ein junger, feiner Herr im Morgenkleide trat Anton freundlich entgegen, das bewußte Schreiben hielt er geöffnet in der einen, in der anderen Hand verschiedene andere Papiere, auf die er, während er sprach, abwechselnd blickte.

»Sie sind Anton Hahn aus dem Dorfe Liebenau bei * im ***? Sie haben Ihre Reisedokumente verloren? Sie wollen einen neuen Paß haben? Aber Sie müssen, bevor Sie in unser Vaterland zurückkehren, zur notwendigen Herstellung Ihrer Gesundheit, wie dieses ärztliche Attest besagt, durchaus einige Zeit in milderem Klima verleben. Es ist Ihnen der Aufenthalt in Nizza oder Pisa verordnet. Seine Exzellenz hat mich beauftragt, Ihre Angelegenheit nach Ihren Wünschen und Bedürfnissen zu ordnen. Ihr Paß ist ausgestellt; er lautet über Turin nach Pisa nach Hause. Exzellenz meinte, es würde Ihnen lieb sein, an keinen Zeitraum gebunden zu werden. Deshalb habe ich hier gesagt, gültig auf die Dauer der Reise; so haben Sie unterwegs keine Quälereien zu fürchten. Nun tragen Sie Sorge für die nötigen Visen und reisen Sie glücklich.«

Anton hütete sich wohl, den einzelnen Unrichtigkeiten in des Herrn Sekretärs Vortrage zu widersprechen oder über andere, ihn in Erstaunen setzende Punkte desselben dies Erstaunen an den Tag zu legen. Er nahm das ihm vom Himmel fallende Glück mit möglichster Fassung auf, verbeugte sich in bester Form, wie es Lauras Zögling gebührte, richtete ein behutsam auf Schrauben gestelltes Wort der Erkenntlichkeit an die zuvorkommende Legation und schwebte sodann, beinahe ohne die Stufen der Treppe zu berühren, wie ein in Wonne verklärter Geist ohne Leib davon.

In seiner Behausung erwarteten ihn zwei fromme Schwestern. Eine davon war Antonina.

Anton wollte sich ihr zu Füßen werfen. Sie wußte dies zu verhindern.

»Ich habe wenig Zeit«, flüsterte sie ihm zu (damit die Anwesenden nicht deutlich verstehen sollten), »wir müssen eilen. Ihre Angelegenheiten werden hoffentlich geordnet sein?«

»Und alles, alles danke ich Ihnen!« rief Anton.

»Dem Himmel, mein Lieber; sagen Sie, dem Himmel, der oft in einem Übermaß von Erbarmen unsere Vergehungen und Schwächen als Mittel anwendet, uns Gutes erreichen zu lassen, damit wir doppelt beschämt sein mögen. Ich will Ihnen nicht verschweigen, Antoine, Ihre Sache stand schlecht, Ihre Freiheit war gefährdet, mancherlei Anklagen erhoben sich gegen Sie, den schutzlosen Fremdling. Da muß nun ein armes Mädchen, das jetzt der Welt und ihren trügerischen Freuden entsagt hat, zu jener Zeit, wo es noch der Welt angehört hat, in vertrautem Umgange gelebt haben mit einem sehr hohen, großen, mächtigen Herrn. Und dieser Herr muß des Mädchens Angedenken bewahrt haben, fester und inniger, wie solche Herren sonst das Bild eines leichtsinnigen, oft verachteten Geschöpfes zu bewahren pflegen. Zu seinem Ohre muß die Büßerin glücklich den Weg finden; ihre Bitten werden erhört, und der Freund ist gerettet. So wollte es der Himmel, dessen Werkzeug ich ward. Ihnen ist nicht bestimmt, in Mangel und Elend unterzugehen. Ihnen ist, so sagt mir die Stimme Gottes, die meine Seele erfüllt, ein glückliches, langes Leben beschieden; darum sollen Sie die Schule der Prüfungen durchirren, sollen erfahren und empfinden, was Leiden sind, was Tränen und Kummer gelten, damit Sie einst in Ihrem Wirkungskreise für die Leiden und Tränen anderer ein mitfühlendes Herz bewahren. Und nun ziehen Sie jetzt, mein guter Freund, in ein neues Land, suchen Sie die verheißene Heimat. Zwar ahnt mir, daß Sie noch fern vom Ziele sind, daß noch traurige Tage Ihrer harren, ... aber auch diese werden überlebt werden, und aus Kämpfen wird der Friede hervorgehen. – Wir beide finden uns auf Erden nicht mehr. Dies ist das letzte Lebwohl. Mich ruft die Pflicht. Gottes Huld für mich ist unendlich, weil er mir vergönnt hat, Ihnen beizustehen. Ich will dankbar sein für diese Huld; ich will von heute an in jedem Leidenden Antoine sehen, will einen jeden lieben wie – meinen Bruder.«

Sie reichte ihm die Hand, ließ eine kleine Summe Goldes in die seinige gleiten, wobei sie sagte: »Ein bescheidenes Reisegeld, von frommen Damen für meinen Kranken erbeten, denn ich bin arm. –«

Dann machte sie das Zeichen des Kreuzes, nickte den beiden Alten zu, reichte der sie begleitenden Schwester den Arm – und ging.


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