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Zwanzigstes Kapitel

Kein Wetter ist so schlecht für den, welcher darin ist, als es dem anderen erscheint, der es aus dem Stubenfenster betrachtet. Das empfand Anton, nachdem er die Kälte der feuchten Nacht durch raschen Marsch besiegt und mit dem unfreundlichen Morgen zugleich den oberen Teil des Eichberges erreicht hatte. Zwar entdeckte er heute die Landstraße nicht, die er gestern im Sonnenschein so deutlich gesehen, aber wo sie lag, hatte er sich wohl gemerkt, sie zu erreichen schien ihm ein kleines. Seine Widersacher, die großen Nebel- und andere Krähen, empfingen ihn noch feindseliger als gestern. Beim heutigen Nebelwetter fühlten sie sich ganz als die Herren vom Berge, sie waren so recht in ihrem Elemente.

»Dumme Tiere«, rief ihnen Anton entgegen, »ihr bleibt hier wohnen in den verwitterten hohlen Bäumen, ich ziehe in die Welt!«

»Haha!« erklang es von einem Aste über seinem Kopfe.

»Wer lacht mich aus?« fragte der Reisende mehr entrüstet als erstaunt.

»Haha!« erklang es wiederum, und gleich darauf: »Lora, o Lora! Haha, Lora!«

»Donnerwetter, was ist das?« sagte Anton. Und emporgewandt, brüllte er, so stark er konnte, in die umnebelten Äste hinauf: »Wer sitzt da oben und ruft nach einer Lore? Was sind das für dumme Späße, wenn junge Männer in die weite Welt gehen wollen, um ein neues Leben zu beginnen? Ich frage den Kuckuck nach deiner Lore, oder wie die Person heißt! Nur herunter, du Esel, wenn du Courage hast!«

Es gab niemand Antwort. Aber Anton bemerkte, daß nicht er allein, daß auch sämtliche auf dem Eichberg ansässige Krähen von den Bäumen ringsumher besondere Aufmerksamkeit dem Orte zuwendeten, aus welchem die Stimme in der Wüste sich hören ließ. Ein Mensch konnte sich doch hinter den dürren Ästen nicht verborgen halten. Saß vielleicht einer im hohlen Stamme? Nicht denkbar. »Was Teufel, die Krähen pflegen doch nicht aus eigenem Antriebe zu reden! Aber wahrhaftig, das ist ein lebendiges, graues Klümpchen, dort im Winkel zwischen Stamm und Ast! Eine Krähe ist das nicht – es ist kleiner –, vielmehr scheint es sich vor den Krähen ängstlich zu ducken. O! Jetzt erkenne ich's deutlich, es ist ein ausländischer Vogel. Die Krähen haben ihn schon in der Arbeit gehabt, er ist schrecklich zerzaust. Das ist gewiß ein grauer Papagei. Und wie ist er auf den Eichberg geraten?«

– »O Lora! Lora! Haha! Koko!« –

»Koko hat er gesagt. Wahrscheinlich heißt er Koko, und seine Herrschaft heißt Lore. Ja, lieber Koko, ich bin selbst unterwegs, dort hinüber zu selbstfremd, ich kann dir keinen zweckmäßigen Rat erteilen ... Wie er mir zunickt, als ob er mich verstände! Er klettert herab. Weiß Gott, er sucht mich auf. Komm', komm', du armer Kerl!«

Die Krähen erhoben im Chor ein wildes Zetergeschrei. Anton drohte ihnen mit seinem Reisestab, und diesen hielt er nachher dem vor Kälte bebenden Koko hin. Koko eilte ihm entgegen, und kaum hatte sein Schnabel diese Rettungsbrücke erreicht, als der kluge Vogel auch schon auf ihr entlang über Antons Arm auf dessen Schulter gekrochen war. Zitternd schmiegte sich das zahme Tier an seines Retters Wange, und wie wenn er ihm die wichtigsten Geheimnisse, von denen übelgesinnte Krähen auch nicht einen Buchstaben erhaschen dürften, zu entdecken hätte, flüsterte er ihm unzähligemal ins Ohr: »Lora! Lora!«

»Na, das sehe ich nun wohl ein«, sagte Anton, »den kann ich hier nicht zurücklassen, den muß ich schon als Reisefracht mit mir schleppen, bis wir wenigstens zu Menschen kommen. Hier zerpflücken ihn die Krähen, es wäre schade um ihn. Solch ein Tier kostet gewiß viel Geld! Und wer weiß, wenn ich die nächste Stadt erreiche, findet sich ein guter Käufer. Vielleicht trägt mir der Vogel Goldstücke ein? Ei, sieh' da, ein gutes Zeichen für den Anfang meines neuen Lebens. Komm', Koko, jetzt suchen wir die Landstraße!«

Koko, gleich einem, der Wort für Wort versteht und begreift, krallte sich tüchtig in Antons Rockärmel ein, hielt sich, wo es bergab rascher ging, nötigenfalls mit dem Schnabel am Kragen fest und war so vertraut und zutunlich, daß jeder, der die zwei mitsammen sah, darauf schwören mußte, sie wären alte Bekannte, die zu beiderseitiger Erholung eine kleine Lustreise unternähmen.

Noch einen Sprung über diesen Graben – Hopp! – und wir sind auf der großen Landstraße!

Der Nebel hatte schon längst aufgehört, ein gebildeter, anständiger Nebel zu sein; er war übergegangen in das, was man hie und da »Bauernnebel« nennt, das heißt: er löste sich in geraden, gutgewachsenen Regen auf, der wie Bindfaden herabströmte. Anton und Koko wurden sehr naß. Die Landstraße blieb auch nicht trocken. Sie zeigte sich als alte, vielerprobte, reicherfahrene, tiefausgefahrene Landstraße früherer Zeiten: nachgiebig, weich, anhänglich, stets darauf bedacht, daß jeder, so auf ihr in fremde Lande pilgerte, ein gutes Stück Vaterland zum Andenken an die Heimat mit den Stiefeln davontrage. Anton keuchte schon an der zwiefachen Last, die von unten an ihm zog und von oben auf ihn drückte.

»Wo führt wohl so recht eigentlich diese Straße hin, guter Freund?« fragte er einen ihm begegnenden Fuhrmann, der, in etliche dicke Pferdedecken eingeschlagen, wie sein eigenes Denkmal auf einem Pechfasse klebte.

»Ins Polen hinein!« war die mürrisch gegebene Antwort.

Anton schwieg erstaunt. Koko äußerte sein Befremden dadurch, daß er wiederholentlich von Lora sprach und sodann dem Pech- und Teerkaufmann ein bitteres »Haha!« nachsandte.

»Ins Polen hinein? Sieh', sieh', liegt Polen so nahe bei Liebenau? Das hätte ich wirklich nicht gedacht. Nun, wer weiß, in Polen kann es sehr schön sein für junge Anfänger. Die selige Großmutter meinte zwar immer, in Polen wäre nicht viel zu holen – aber sie hatte, wie alle Frauen, vorgefaßte Ansichten und Meinungen von der großen Welt. Wie gesagt, Polen kann sehr schön sein, wenn nur diese Straße ein kleines bissel besser wäre!«

So schwatzte Anton mit sich selbst, bis Müdigkeit, Hunger und Regen ihn endlich ermahnten, in einem Straßenwirtshause einzusprechen. »Dieser arme durchgefrorene Vogel«, sagte er mitleidig, »wird auch was Warmes zu sich nehmen wollen. Hier darf ich's schon wagen, hier kennt mich niemand mehr.«

»Ist hier – Gott grüße euch alle beisammen! – ist hier schon Polenland?« Mit diesem Gruße trat er ein, während sich ein junges Schwein eilig zwischen seinen Beinen durch ins Freie schob und ihn beinahe umgeschoben hätte.

»Beileibe«, wurde ihm erwidert, »noch zwei Meilen bis an die Grenze, seien Sie auch schön willkommen bei uns! Mögen Sie Bier oder Schnaps?«

Anton, höchst verlegen über die ihm zur Wahl gestellte Frage, bat sich einen Kaffee aus.

Die Stammgäste der Schenke lächelten mitleidsvoll. Sie stampften heftig mit ihren leeren Gläsern auf den Tisch, damit man sie aufs neue fülle und ihnen Gelegenheit gäbe, darzutun, wie sie ganz andere Männer wären.

Anton achtete wenig darauf. Die Bank hinter dem Ofen schien ihm ein reizender Trockenplatz. Er dampfte wie ein kaum erstickter Waldbrand. Koko drückte sich warm behaglich an seinen Hals, mit unermüdlicher Gesprächigkeit ihn von Lora unterhaltend. Als die Wirtin den bestellten Kaffee brachte, einige umfangreiche Semmeln zur Beigabe mit, erwachte in unserm Reisenden auf einmal die Gier des Heißhungers. Kaum, daß er sich Zeit ließ, den dünnen Labetrunk zu kühlen. In die braunen Fluten getaucht, verschlang er Semmel auf Semmel, und da kehrten ihm, von innen wie von außen erwärmt, alsbald Mut und Hoffnung zurück. Ich glaube, damals ist es gewesen, wo er seine ersten philosophischen Betrachtungen über die Gebrechlichkeit des irdischen Wesens und über die Abhängigkeit der armen Seele vom menschlichen Leibe anstellte.

Koko, den er grausam vergessen, gab so deutlich zu verstehen, ihm sei auch Erquickung vonnöten, und sprach seine Bedürfnisse pantomimisch so verständlich aus, daß sein Retter, obwohl hocherstaunt über die fast menschenähnliche Ausbildung des gefiederten Schützlings, ihn teilnehmen ließ am schwelgerischen Mahle. Semmel, in süßen Milchkaffee getaucht, war dem Vogel offenbar bekannte Kost, sie schien ihm geläufig und versetzte ihn in die heiterste Laune, die er auch ohne Aufschub durch laute Ergießungen des herzlichsten Gelächters, durch einige gellende Pfiffe und durch unendliche Anrufungen für Lora kundmachte.

Die Stammgäste, die bisher den auf dem grauen Reisebündel grau in grau verschwindenden grauen Ausländer gar nicht bemerkt, wendeten jetzt ihre Ohren seinen Exklamationen zu, worauf sich unter ihnen ein vertrauliches Gespräch entspann, doch laut genug geführt, damit der Inhalt desselben den Platz am Ofen erreiche.

»Auf jeden Fall gehört er dazu!«

»Freilich. Das graue Vieh, das da schwadroniert wie ein getaufter Mensch, wird ihnen weggeflogen sein, und da hat der Bursche zurückbleiben müssen, um es wieder einzufangen.«

»Natürlich, sie hatten ja einen ganzen Haufen von solchem Ungeziefer bei sich.«

»Hört, Landsmann«, – rief einer zu ihm herüber, »Ihr seid wohl aus der Menagerie, die gestern hier durchzog?«

»Menagerie? Was ist das?« fragte Anton.

»Was soll's sein? Wilde Bestien halt!«

»Sehe ich denn aus wie eine wilde Bestie?«

»Das gerade nicht, aber wie einer, der sie herumführt. Sitzt ihm ja doch ein Vieh auf der Achsel.«

»Das ist keine wilde Bestie, ihr guten Leute; das ist ein zahmer, schöner Papagei.«

»Wir sehen schon, daß es kein Trampeltier ist. Deswegen gehört er halt doch auch zu den ausländischen Viechern. Und weil er ihm so freundschaftlich auf der Haut hängt wie eine abgerichtete Laus, und weil ihr so gute Kaffeebrüder miteinander seid, ihr beide, nahm ich an, Er wäre einer von den Vagabunden, die bei den Beestern als Domestiken angestellt sind. Denn die Unfläte von Pardel und Tigertier und Hyjenige haben ordentliche Bedienung wie andere hohe Herrschaften. Gestern sind sie hier vorbei in vielen großen Wagen, als ob die Luder nicht zu Fuße gehen könnten wie unsereins, haben hier Halt gemacht, Vieh und Menschen getränkt. Die schöne Frau, der Viechmutter ihre Tochter, hatte justament so'n grauen Popo, oder wie sich der ostindische Rabe aus Afrika schreibt, aus einem Käfige gelangt und wollte ihn am Kopfe kratzen, aber der asiatische Pfefferfresser schnappte nach ihr, daß sie gleich wieder losriß. Da dachten wir halt, Er wäre ... nichts für ungut!«

Anton fand diesen Bericht höchst interessant. Die schöne Tochter, von der man ihm erzählte, in Verbindung zu setzen mit dem auf ihm sitzenden Koko, gewährte ihm ein gewisses Wohlbehagen. »Sollte diese Schöne«, dachte er, »die ...«

»Lora!« unterbrach ihn der Vogel.

»Ich muß ihn seiner Besitzerin selbst einhändigen!« So lautete der Entschluß des galanten Korbflechters. Er hatte denselben eigentlich in Form eines Gedankens nur sich selbst mitteilen wollen; wider Absicht und Willen war eine laute Äußerung daraus geworden, die keinem der Anwesenden in der Gaststube entging.

Gleich hier, bei seinem ersten Eintritt in die Fremde, sollte sich bestätigen, was ich unserem Helden schon vorher abmerkte, als er noch in Liebenau weilte: seine Persönlichkeit werde ihm der Menschen günstiges Vorurteil gewinnen, wer ihn sehe, werde Wohlwollen für ihn empfinden. Kaum war sein Vorsatz ausgesprochen, als auch schon ein dicker Mann, der drüben beim Fenster saß, ihm zurief: »Hört, junger Bursche, ich fahre nach R. Für einen, der nicht ganz so dick ist, wie ich, gibt es noch Platz auf meinem kleinen Korbwagen, und Euren Grauen wird mein brauner Wallach zur Not noch fortziehen können. Wenn Ihr müde und des Laufens satt seid, will ich Euch mitnehmen, daß Ihr im Dreck nicht so schwer zu tragen braucht, 's geht aber gleich fort.« Anton nahm die Einladung dankbar gerührt an. Bald war seine Rechnung berichtigt, welche die Wirtin, hätte sie nicht ihres grämlichen Hausherrn Luchsauge gefürchtet, dem schmucken Gaste gern erlassen haben würde, denn er gefiel ihr sonderbar, so daß sie an sich halten mußte, um es nicht gar zu zeigen. Wie jedoch Anton, seine Zeche willig bezahlend, scherzhaft fragte: »Und was macht es denn für den da?« indem er auf den gefiederten Reisekameraden hinwies – da konnte die leicht entzündbare Wirtin nicht umhin, ihm wenigstens mit der Hand durch die Locken zu streichen, als Beweis ihrer lebhaften, kaum zu besiegenden Neigung.

Nicht ohne die Korbgeflechte des Wagens einer oberflächlichen Kennerprüfung zu unterwerfen, die mit einem »liederliche Arbeit!« endete, bestieg Anton jenes leichte Gefährt, über das eine grobe Leinwand, auf schwankende Reifen gezogen, den Regen nur mäßig durchsieben ließ. Der Wallach ging im sogenannten Hundetrab. Der dicke Mann schlief ein. Koko zitterte wieder fröstelnd, weshalb ihn Anton mitleidsvoll und jetzt schon mit vorsorgender Rücksicht für die schöne Herrin in sein blaues Taschentuch hüllte, eine Wohltat, welche der kluge Vogel durch unterschiedliche Schnabelküsse vergalt, ohne dabei zu zwicken.

Erst als Anton sein Kleidermagazin hinter sich auf und ab tanzen hörte, spürten die müden Schultern, wie schwer es auf ihnen gelastet. Jetzt fühlte sich der Reisende so leicht und froh, daß er keinen anderen Wunsch hegte, als den, es möge immer so fortgehen, wie bisher, dann wollte er's schon aushalten!

Glückliches Kind!

Vielleicht auch waren jene Stunden, wo er, mit kaltem Novemberregen tüchtig angefeuchtet, auf hartem Sitz, im stoßenden Wagen, vom faulsten Pferde gezogen, die elendeste Straße entlang fuhr, seiner ganzen künftigen Pilgerfahrt zufriedenste?

Vor dem Tore in R. angelangt, blieb der geprüfte und erprobte Wallach stehen. Der dicke Mann, vom Stillstand der Reisemühle erwachend, gab sich als Fleischhauer kund, der aus ländlichen Vorstädten Kälber abzuholen ausgezogen war. Anton bedankte sich vielmals, ergriff seine Last – der eindringende Regen hatte sie nicht leichter gemacht, und rettete noch zu rechter Zeit seine zarten Finger aus dem warmen Händedruck des Fleischers, der sie ihm aus Wohlwollen schier zermalmt hätte.

»Wo gelange ich wohl zur Menagerie?« fragte er mitten auf dem Marktplatz sehr demütig den großen, schwarzbärtigen Mann in roter Jacke und schmutzigen Lederhosen, der vor einem zeltartigen, von Wasser triefenden Vorhange, dicht neben einem kolossalen Ölgemälde stand.

Der Schwarzbart wies stumm, doch bedeutend über die Schulter auf das Tableau.

Anton schauderte zurück. Unter sanften Palmen, an denen Kokosnüsse in Masse hingen, gleich Stachelbeeren am Strauch, verspeiste soeben der grimmigste Tiger mit Seelenruhe einen vielversprechenden jugendlichen Neger, dessen Oberleib aus dem weit aufgesperrten Rachen noch hervorsah, wie ein schwarzer Rettich.

»Geht's hier so zu?« dachte der friedfertige Liebenauer und wollte kehrt machen; aber unterdes hatte Schwarzbart, den triefenden Vorhang zurückschlagend, ihn, den Zögernden, in den inneren Raum gedrängt. Mit bunten Tüchern und Kattunen aller Farben und Muster umhangen, zeigte sich hier eine Art Vorhalle, in deren Mitte an kleinem Tischchen, worauf die glänzend schwarze, durch helle Metallbeschläge verzierte Kassette stand, eine Frau von etwa fünfzig Jahren, reich und bequem bekleidet, nicht ohne Würde saß; in ihrem Schoße ein Affe von der kleinsten Gattung der Seidenaffen. An der anderen Seite des Tischchens, nachlässig gegen einen mit Eisenstäben vergitterten, leeren Kasten gelehnt, stand eine schöne Dame, noch jung, blühend – doch so tief ins Lesen eines Buches verloren, daß sie den Eintretenden nicht bemerkte. Die ältere, die ihn forschend ansah, sagte nur, wie wenn sie eine tausendmal wiederholte Formel ausspräche: »Erster Platz acht Groschen, zweiter vier, dritter zwei.«

Anton schaute hinter sich. Der Vorhang, der ihn von der Außenwelt abschnitt, war bereits wieder zugefallen. Er stand im mystischen, durch eine trübe Lampe spärlich erleuchteten Halbdunkel. Ein scharfer, widerlicher Geruch drang ihm von innen entgegen, und er fühlte sich dadurch förmlich beängstigt, so daß er vergaß, was er eigentlich hier gewollt.

Madame Simonelli, denn so hieß die ältere Frau, wiederholte maschinenmäßig ihr: »Erster Platz acht Groschen«, indem sie noch einmal Anton zweifelhaft betrachtete; das Reisebündel schien sie stutzig zu machen, deshalb übersprang sie den zweiten Platz mit seinen unvermeidlichen vier Groschen und rückte ohne weiteres mit einem Antrage auf den Zwei-Groschenplatz hervor.

Da erst besann sich Anton auf sich selbst.

Nach seiner Börse suchend, äußerte er: »Ich kam wohl, die Wahrheit zu gestehen, nicht hierher, um etwas zu bezahlen; wollte mich vielmehr nur erkundigen, ob in der Menagerie eine Dame wohnt, welche Lore heißt?«

Die Leserin fuhr auf, richtete ihre funkelnden Augen über das Buch hinweg nach Anton und fragte beleidigt: »Woher Sie weiß mein' Name?«

»Der da ruft ihn unaufhörlich«, war die Antwort. Dabei lüftete er einen Zipfel des bekannten blauen Tuches und gestattete Koko eine kleine Aussicht in die Umgebung. Die alten wohlbekannten Draperien heimelten den von Krähen, Wind und Wetter mitgenommenen Dulder traulich an, er schlug sein lautestes Wonnegelächter auf, und ehe Anton die Wirkung desselben auf beide Damen noch beobachten konnte, hatte die jüngere ihren Liebling schon ergriffen, um ihm an ihrem Busen eine allerdings beneidenswertere Zufluchtsstätte anzuweisen, als Anton ihm irgend darzubieten vermochte.

Er mußte erzählen, wo, wann, wie er Koko gerettet. Und ich vermute, es ist ein Glück für sämtliche Krähen im Lande, daß Kokos Gönnerin nicht eine große, mächtige Monarchin gewesen, wie sie Antons Erzählung vernahm. Denn zweifelsohne wäre dann von ihr ein Mandat ausgegangen, alle zur Sippschaft Corvus cornix und Corvus corone gehörigen Individuen mit Krieg zu überziehen, mit Stumpf, Stiel und Federkiel auszurotten; und gegenwärtig noch lebende Krähen würden wahrscheinlicherweise nicht dazu gelangt sein, diese »süße Gewohnheit des Daseins« zu genießen. Ebenso feurig aber als ihr gerechter Zorn gegen die ungastlichen Bewohner des Eichbergs entbrannte auch ihre Dankbarkeit für den Jüngling, der am Wehrlosen zum rettenden Ritter geworden. Sie wußte nicht, wie sie das kundgeben sollte. Ein Geldgeschenk anzubieten, wagte sie nicht. In Antons Benehmen lag bei aller Seltsamkeit seines Eintritts und trotz des Bündels auf seinen Schultern die Unmöglichkeit, daß eine feine und zartfühlende Frau ihn so hätte abfinden wollen. Sie wechselte einige Worte mit Madame Simonelli, worauf diese, in der deutschen Sprache genugsam geübt, zu ihm sagte: »Meine Tochter, Madame Amelot, fragt mich, was sie tun darf, um Ihnen zu zeigen, mein Herr, wie reconnaissante sie ist von Ihrer großen Gefälligkeit.«

»O mein Himmel«, erwiderte Anton, »um einer so anmutvollen Dame zu dienen, würde ich es mit allen Krähen, Dohlen und Raben aufnehmen, zehn Meilen weit um Liebenau. Es ist mir schon genug, den ehrlichen Koko wieder bei ihr zu wissen, denn ich auf meinen Reisen würde doch nur schlecht für ihn haben sorgen können.«

»Sie machen große Reise, mein Herr?« fragte Madame Simonelli, »und wohin, s'il vous plait

»Ach – weit! Ja, sehr weit!«

Als Anton diese ein wenig ins allgemeine schweifende Erklärung gab, soll sein Gesicht eben nicht den Ausdruck besonderen Scharfsinnes zur Schau getragen haben. Er pflegt in vertraulichen Stunden zu bekennen, daß er sich niemals in seinem ganzen Leben so dumm vorgekommen sei. Um nur etwas zu beginnen, was ihm über diese peinliche Lage forthelfen möge, fing er abermals an, nach seiner Börse zu suchen, wobei er die Versicherung erteilte, er wünsche ein Billett für den ersten Platz zu lösen. Er suchte, er suchte – umsonst, die Börse war verloren!

Sein Silbergeld, die Goldpfennige aus den vereinten Sparbüchsen, die Zaubermünzen, deren Wert ihm der neuen Welt Pforten zu öffnen, seine gefahrvollen Wege zu ebnen bestimmt gewesen – ... verschwunden!

Höchstwahrscheinlich blieb das Ledersäckchen, welches seine Schätze barg, in jenem Wirtshause liegen, wo ihn, als er eben für sich und Koko den Kaffee bezahlte, der dicke Fleischer durch das gefällige Anerbieten, ihn mitzunehmen, überraschte.

Antons Schreck war so sichtbar, der Ausdruck seines Unglücks so wahr und natürlich, daß es den Damen nicht entgehen konnte. Keine von beiden dachte auch nur im entferntesten an eine lügenhafte Erfindung.

Auf dringendes Befragen stammelte er bloß: »Mein Geld – mein Reisegeld: nun ist's aus mit mir!«

Es entstand eine lange Pause, die zuerst durch Madame Simonelli unterbrochen wurde, welche ihm in den artigsten Formen anbot, er solle nur sein Gepäck ablegen, hineintreten und die Tiere betrachten, das werde ihn zerstreuen. Unterdessen wolle sie und Laura beraten. Denn, fügte sie mit wahrhaft graziöser Wendung hinzu, wahrscheinlich habe er seine Börse verloren, als er den Baum erklettert, um Koko vor den Krähen zu retten, und deshalb sei es ihre Sache, ihn zu entschädigen.

Anton ließ mit sich geschehen, was man von ihm verlangte. Er hatte keinen Willen mehr. Ohne zu wissen, wie er dahin kam, stand er mitten unter den wilden Bestien, die er mit dumpfem Erstaunen anglotzte, wobei er nichts anderes dachte, als daß sie ihm eigentlich den besten Dienst leisten könnten, wenn sie so gütig sein wollten, ihn aufzuspeisen mit Haut und Haar, wie der Tiger draußen auf dem Bilde mit dem jungen Neger tat.

Er blieb nicht lange allein bei den Tieren. Der Schwarzbart, unzweifelhaft im Auftrage seiner Gebieterin, gesellte sich zu ihm. Dieser Mann, von Geburt Italiener, hatte sich im Dienste der Madame Simonelli, die samt ihrer Tochter für gewöhnlich französisch redete, und in steter Berührung mit Deutschen, deren Länder sie fleißig durchkreuzten, eine nur ihm zugehörige Ausdrucksweise gebildet, in welche er nach Gutdünken aus jenen drei Sprachen aufgenommen, was ihm von jeglicher am besten gefiel, woraus denn eines jener unbeschreiblichen Gemische entstand, wie es die von Menschenhand geführte Feder in Schriftzügen wiederzugeben nun und nimmer imstande sein wird. Ohne Beihilfe pantomimischer Ausschmückungen, in denen jeder Italiener ein Meister ist, würde er sich während der ersten Konversation unserem Freunde deutlich zu machen vergeblich bemüht haben. Wie er aber Wort und Aktion vereinigte, gelang es ihm verständlich zu werden. Er ließ Anton manchen Blick in die inneren Verhältnisse des Hauses Simonelli tun. Madame war eine reiche Frau und besaß außer den lebenden, brüllenden, verschlingenden, fahrenden Gütern auch solide Fonds in sicheren Papieren. Laura Amelot, ihr einziges Kind, an einen Seiltänzer oder Springer Amelot verheiratet, lebte seit länger als einem Jahre von diesem getrennt, weil er sie nicht gut behandelt und sogar in einem Anfalle von Eifersucht einst mit der Balancierstange nach ihr geschlagen. Sie war der Mutter Abgott und hatte, nachdem Herr Amelot ihr die Liebe zu einem Manne verleidet, sich den unschuldigen Koko zum Liebhaber erwählt. Mama Simonelli schien gar nicht ungehalten über die Trennung der luftspringerischen Ehe, denn erstens war es ihr an und für sich lieb, ihre Tochter wieder bei sich zu haben, zweitens lockte deren Gegenwart an der Kasse in größeren Städten gar viele Herren zu wiederholtem Besuche der Menagerie heran. Für gewöhnlich lebten sie, Menschen und Tiere, glücklich und zufrieden miteinander, den Gestank abgerechnet, an den sich aber die Nase bald gewöhnt. Nur heute gerade gab es eine Störung des häuslichen Friedens. Antoine, einer von den Kollegen des erzählenden Schwarzbartes, hatte infolge heftiger Scheltworte, die er sich zugezogen durch unordentliche Führung, aus welcher denn auch Vernachlässigungen im Dienste entstehen mußten, und von denen die durch ihn verschuldete Entweichung des geliebten Koko nicht die geringste gewesen, Knall und Fall das Haus verlassen. Er war, gleich nachdem Kokos Verlust ruchbar geworden, über Nacht davongelaufen, wie Schwarzbart nach vorhergegangenen, im Rausche ausgeplauderten Äußerungen sicher glaubte, der nicht fernen russischen Grenze zu, um in jenem Reiche Soldat zu werden. Wenn nun schon zwei tüchtige Wärter – denn es gab neben Schwarzbart noch einen Rotbart – notdürftig hinreichten für die Pflege der Tiere, so fehlte doch Antoine als geschickter, wohlsprechender, etwaige Honoratioren anständig haranguierender Erklärer, Umherführer, Explikator, sämtliche Affen zu belustigender Kurzweil aufregender Unterhalter. Schwarz- und Rotbart verstanden ihre Arbeit: »Et voilà tout! Ma, signore, für die Geschichte von die Natur gab es nur einen Antoine; er konnte reden wie eine Professore!«

Bei »Naturgeschichte« gedachte Anton der mancherlei von seltsamen Tieren handelnden Bücher, die Tieletunke und der Pastor ihm zu lesen gegeben. Das müßte auch keine Hexerei sein, dachte er, von diesen verschiedentlichen vier- und zweibeinigen Geschöpfen verschiedentliches zu erzählen. Und indem er mehrere in ihren Kasten und Verschlägen neugierig musterte, fiel ihm eines auf, dessengleichen er auch im Abbild noch nicht gesehen, ein bärenartiges und doch auch wieder vom Bären abweichendes Ungetüm.

»Der ist wohl sehr grimmig, der da?« fragte er seinen neuen schwarzbärtigen Gönner.

Statt eine mündliche Antwort zu geben, ging dieser dem Käfig zu, steckte seine Hand zwischen den Stangen durch, packte das Beest an der Schnauze, schüttelte es tüchtig und sagte, während er Anton aufforderte, ein gleiches zu tun: »Wie ein Kind!«

Anton setzte fürs erste in die Kindlichkeit geringes Vertrauen und hielt sich in achtungsvoller Ferne. Er näherte sich indessen einigen anderen Behältern, sah dahin, dorthin und allmählich schwanden die schwarzen Schatten aus seiner Seele. Das bunte Leben zerstreute ihn wirklich, wie Madame Simonelli vorher versprochen. Es brüllte, grunzte, quiekte, zischte, schwatzte vor, neben, über ihm. Hellgeschmückte Vögel riefen ihm sanft ihr »Ara« zu; gelb- und rotbehauptete Kakadus verschwiegen ihren Namen nicht; einige frei umherlaufende seltene Ziegen stellten ihm ihre Kinder vor; ein Strauß und ein Kasuar, ebenfalls zu diätetischer Promenade freigelassen, schritten bedächtig an ihm vorüber, als wollten sie ihn auffordern, einen von ihnen beiden zu besteigen und einen Ritt durch die Wüste zu versuchen; ein Lama drückte die Herzlichkeit seines Empfanges durch häufiges Anspucken aus; und unzählige Affen, vom größten wie kleinsten Kaliber, waren augenscheinlich bemüht, unserem Reisenden die Honneurs des Hauses zu machen und ihm seine Grillen zu vertreiben. Sie zeigten sich ihm in allen erdenklichen Stellungen und Posituren, von den verschiedensten Seiten, gingen bald teilnehmend in seine ernsteren Lebensansichten ein, wobei sie tief nachdenkliche, ja kummervolle Mienen zum besten gaben, spotteten ihm aber gleich darauf jeden Ernst durch lustige, frivole Gebärden hinweg, gleichsam als wollten sie ihn zum Leichtsinn auffordern und ihm in ihrer Sprache sagen: »Entäußere dich deiner Sorgen, amüsiere dich, nimm die Sachen leicht; es ist auf Erden nicht der Mühe wert, sich zu ärgern oder zu grämen.«

Anton mußte nicht sein, der er war, nicht der geistig begabte, von Geburt bevorzugte Mensch, wenn diese fratzenhaften Zerrbilder menschlicher Erscheinung ihn gleichgültig lassen sollten. Er empfand sehr tief jenen ahnungsschweren Schauder, der uns jedesmal durchdringt, wo es sich um geheimnisvolle Beziehungen, Ähnlichkeiten, Verwandtschaften des Menschlichen mit dem Tierischen handelt. Doch steckte sein Naturphilosoph noch zu fest im unentwickelten Keime, um auf die Dauer über die halb kindische Lachlust triumphieren zu können. Waren es doch die ersten Affen, die er sah! Er begrüßte sie als Brüder und vergaß in ihrem Umgang die verlorene Börse. Er ließ sich in Spiele mit ihnen ein, wobei er zuletzt selbst ein Affe wurde, der nachzuahmen versuchte, wie sie ihm nachahmten.

Der Schwarzbart ging ab und zu. Von der Affengruppe zu den Damen, von den Damen zu Anton und den Affen. Er war einem außerordentlichen Botschafter nicht unähnlich, hielt auch mitten im Raume diplomatische Konferenzen mit seinem Kollegen, dem Rotbart. Anton, zu sehr in das Affentum vertieft, um zu bemerken, was von den Bewegungen der Menschen ihm galt, wurde endlich durch das Erscheinen der Damen gestört. Madame Simonelli nahm das Wort. Madame Amelot, auf ihrem Nacken den wiedergefundenen Koko, ihr französisches Lesebuch vor den Augen, schien stumme Zeugin bleiben zu wollen. Man stellte ihm den Antrag, wenn er vielleicht für seine Zukunft keine bestimmten Absichten hege, in den Dienst des Hauses zu treten. Seine Gagen sollten denen des böslich Entwichenen gleichkommen, und an den Trinkgeldern, von Schaulustigen in die Büchse geworfen, würde ihm sein Dritteil nicht entgehen. »Wir brauchen einen zierlichen jungen Mann von Lebensart, und der sich gut auszudrücken weiß. Denn wir wollen uns auch darin vor anderen auszeichnen. Eine Schwierigkeit nur könnte hinderlich sein, wenn vielleicht, durch was immer für einen ›Akziden‹, die ›Papiere‹ des Reisenden nicht in der Regel wären!«

»Welche Papiere?« fragte Anton, in seiner gänzlichen Unwissenheit über ein Papier, welches man Reisepaß nennt.

Als ihm die Sache deutlich gemacht wurde, stand er wie vom Blitz geschlagen. Regelloser konnten keines Landstreichers Papiere erfunden werden, denn er besaß auch nicht ein schmales Streifchen, welches nur dem Abschnitzel eines Ausweises ähnlich gesehen hätte.

Nach seinem Namen befragt und seinem Stande, verhehlte er nicht, daß er Körbe geflochten habe und sich Anton nenne. Übrigens sei er ein Waisenkind.

»Anton? Anton?« wiederholte Madame Simonelli mit jenem Nachdruck, der bezeichnet, daß man Licht erblickt. »Das ist auf deutsch so viel wie Antoine? Pierre, sieh' doch nach im großen Portefeuille, wo die Affichen liegen. Es müssen sich dort eure Pässe vorfinden. Antoine ist ohne Paß davongelaufen; er weiß, daß man auf dem Wege zur Galeere dergleichen nicht braucht.«

Antoines Paß wurde gebracht. Die Personalbeschreibung traf nicht sehr genau zu, aber Figur, Alter, Farbe der Haare kamen doch leidlich überein.

Anton stand lange unschlüssig.

Madame Amelot warf ihm übers französische Lesebuch einen Blick zu, der fragen zu wollen schien: »Wie wird's denn? Ich dächte doch?« und so weiter.

Der Blick wirkte.

Anton ließ sich ins Französische übersetzen, nahm die Stelle an und hörte von nun an auf: »Antoine!«


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