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Dreiundfünfzigstes Kapitel

Über Châlons und Lyon ging Anton bis Chambery zusammen mit einigen Savonarden, die in ihre Hütten heimkehren wollten, nachdem sie, durch die Welt vagabundierend, ein kleines Besitztum errungen.

Seine Kasse war zu schwach bestellt, um anders als auf diese Art zu reisen.

Der Herbst war schön. Das Felleisen, worin er seine Habseligkeiten beherbergte, hing wohl schwer, doch bequem zu tragen auf seinem starken Rücken, und er mußte lächeln, wenn er es mit jenem ungeschickten Bündel verglich, das ihn vor vier Jahren bei seiner Flucht aus dem Häuschen der Großmutter schier zu Boden gezogen. Von den Folgen der Krankheit empfand er nichts mehr. Die Jugendkraft, die ihn neu belebt und belebend durchströmte, spottete jeder Anstrengung, jeder Ermattung. Seine Tagebuchblätter, sauber abgeschrieben und wohlgeordnet, gaben nur noch ein mäßiges Heft, das wenig Raum einnahm. Auch die Violine, seine alte, treue Begleiterin und Trösterin seit P., wo er sie kaufte, wo sie ihm einsame Winterabende verkürzte, machte diesmal die Fußwanderung in leichtem Gewande von Wachsleinen mit. Von den Büchern freilich hatte er sich lossagen müssen; deutsche, französische, englische, an die sich vielerlei Erinnerungen gekettet. Doch tröstete ihn die Hoffnung auf italienischen Ersatz, dem er ja recht eigentlich entgegenging. »Hernach verstehe ich schon vier Sprachen«, sagte er, sich selbst beruhigend über den Verlust jener papiernen Freunde, die ihm durch manche schwere oder leere Stunde geholfen.

Wenn man keine Bücher hat, muß man häufig mit Menschen vorlieb nehmen; nur tritt der Unterschied ein, daß man bei Büchern prüfend sondern, die guten auswählen, die schlechten ungelesen lassen darf, während man, was Menschen betrifft, besonders auf Reisen und zu Fuße, wie unser Anton, nicht allzu reichliche Auswahl findet.

Im allgemeinen mag, was sehr oft von Büchern gilt, auch häufig von Menschen gelten, daß die älteren vorzuziehen sind.

Anton hielt sich auf dieser Reise an einen Savoyarden, der gut sein Vater sein konnte, Thomas mit Namen. Von diesem ließ er sich erzählen, wie es ihm auf seiner nicht allzu bequemen Pilgerfahrt ergangen. Thomas war, ein winziges, elternloses Knäblein, ausgewandert, ohne Schutz, ohne Geld, ohne Kraft, ohne Erfahrung; Thomas hatte sich durch Betteln, Dienen, Arbeiten, Sparen bis zum Besitz einer Drehorgel emporgeschwungen; Thomas hatte später mit dieser Orgel ein von ihm ersonnenes, durch eigene Finger ausgeschnittenes, lustig eingerichtetes Schattenspiel vereinigt; Thomas hatte im Laufe von zwanzig Jahren ein hübsches, kleines Vermögen gesammelt; Thomas hatte sein Theater samt Orgelspiel an zwei jugendliche Nachfolger verkauft, die der neuen Firma »Thomas und Kompagnie« keine Schande bringen sollten, wie er hoffte; – Thomas kehrt nun in das Gebirgsdorf zurück, wo er geboren, um in demselben irgend ein freundliches Haus zu kaufen, aus dessen Tür ihm vor fünfunddreißig Jahren, milde Hände vielleicht ein Stückchen schwarzes Brot zugeworfen; Thomas ist entschlossen, die Tochter eines wohlhabenden Nachbarn heimzuführen, wobei er die Versicherung erteilt, die Schönste im Kirchspiel sei eben gut genug für ihn.

Anton lauschte den Erzählungen des einfachen, aufrichtigen Mannes wie einem Evangelium. Er wußte nicht, was er mehr bewundern sollte an Thomas: ob die glücklichen Erfolge seiner Bemühungen, ob die Seelenruhe, die in diesen Erfolgen nicht nur nichts Erstaunliches erblickte, sondern dieselben sogar für ganz natürlich und billig hinnahm. Solches Selbstvertrauen, gestützt auf praktische Gewandtheit, auf Kenntnis der Umgebungen, erschien dem Liebenauer Kinde beneidenswert. Er fing an zu ahnen, daß es Menschen gebe, die mit scharfen Blicken Weg und Steg zu ihrem Ziele verfolgen, ohne sich irre machen zu lassen durch alles, was blüht und fliegt, schwebt und flattert; während wieder andere Menschen ihr schwärmerisches Auge nicht abwenden können von Blumen, Vögeln, Wolken und Sternen, dabei jedoch über jeden Stein stolpern, so auf der Straße liegt.

Daß Thomas zu der ersteren Gattung gehöre, unterlag für ihn keinem Zweifel. Daß er selbst ein weniges mit der zweiten verwandt sei, fühlte er anzunehmen sich geneigt. Doch ebenso geneigt fühlte er sich, zu erlernen, was sich eben lernen lasse. Er schied nicht von Freund Thomas, ohne sich mancherlei erprobte Lebensregeln ins Gedächtnis geprägt zu haben.

*

In Turin war natürlich seine erste Sorge, eingedenk zu sein, daß diese Stadt auf Carinos im Todesfieber geschriebenem, halb verwischtem Abschiedsblatte leserlich zu finden gewesen. Auch wurde ihm sehr leicht, Nachricht einzuziehen von dem Gegenstande seiner Forschung. Signora Carina, noch vor einem Jahre bevorzugter Liebling hiesiger Opernkenner und Freunde, hatte bei ihrem letzten Auftritt kein Glück gehabt; zum Teil, wie einige sagten, durch Nachwirkung des Pariser Fiasko. Man vermutete sie in Pisa. Auch dies traf mit Carinos Angabe zusammen, und Anton beschloß, ihr am nächsten Tage dorthin nachzuziehen.

Den leeren Nachmittag benützte er, sich Turin zu betrachten; da fand er, über Straßen und Plätze streifend, unerwartet einen Bekannten aus der Lehrjungenzeit seines Vagabundentums: den rotbraunen Jean von Mama Simonelli.

Dieser hatte sich von der Gebieterin getrennt, weil sie beim Einkauf der neuen Menagerie uneinig geworden. Er teilte seinem ehemaligen Kameraden die Geschichte dieser Trennung folgendermaßen mit:

»Ist diese Frau verblendet! Ist sie trotzig! Wütet sie gegen ihren eigenen Vorteil! Sie mögen entscheiden, Antoine. Wir finden in London ein Tier, das eine ganze Menagerie aufwiegt, ein Tier, das seit Jahrhunderten, mit kurzen Worten zu sagen, seit der Sintflut, auf dem Kontinent nicht für Eintrittsgeld gezeigt wurde; ein Tier, auf dem Noahs jüngster Sohn durch die Fluten geschwommen, ohne sich die Stiefel naß zu machen; ein Tier gegen welches zwölf Elefanten ebensoviel junge Hunde wären; ein Tier, das zu warten und zu pflegen, mit dem im vertraulichen Umgang zu. stehen ich mich so stolz fühle, als ob eine ägyptische Pyramide meine eigene leibliche Mutter sei! Der Besitzer dieses höheren Wesens auf vier Beinen ist mit Blindheit geschlagen, erklärt sich bereit, für elende tausend Pfund Sterling es herzugeben. Befänd ich mich in der Lage der Madame Simonelli, die damals als kinderlose Hausfrau in den Gassen Londons umherirrte, eine neue Familie suchend, zum Ersatz für jene, die das Feuer ihr geraubt, so würde ich dieses Tieres Besitz, erstrebt haben, es hätte mein werden müssen, und hätte ich die tausend Pfund à zwanzig Prozent von der Krone Englands ausleihen sollen oder beim alten Rothschild einbrechen, oder den Lordmayor in einer Schildkrötensuppe ersäufen. Sie jedoch, Madame Simonelli, für die tausend Pfund Sterling so viel sind, wie für mich zehn Pfund Virginiakanaster, – was tut sie? Sie verschmäht meinen Rat, verlacht mein Flehen, nennt mich einen sentimentalen Fanfaron, einen Jean cul! »Du bist ein Phantast«, ruft sie mich an; »wie könnte ich mein und meiner Tochter Vermögen an das Leben eines einzigen Individuums wagen? Wenn es stürbe, wäre ich eine Bettlerin!« – So spricht eine Simonelli. Als ob die Ehre nicht auch etwas wäre! Genug, sie kauft Löwen, Tiger, Hyänen, Affen und so weiter, den alten abgestandenen Küchenzettel. Ein anderer – o, es tut mir weh um meine alte Simonelli – schließt diesen großen Handel. Was blieb mir übrig? Ich konnte nicht bei ihr bleiben; ich trennte mich mit schwerem Herzen, das will ich nicht leugnen; aber ich trennte mich und folgte dem Rhinozeros.«

Anton fügte sich sehr gern der Einladung des begeisterten Mannes und ließ sich durch ihn bei dem gewaltigen, ein ganzes Vermögen aufwiegenden Tiere einführen. »Selten mag es sein«, sprach er, »obwohl der Preis auch ein seltener ist; doch schön kann ich es nicht finden, lieber Jean, beim besten Willen nicht.«

»Nicht schön?« schrie Jean, indem er verzweiflungsvoll seinen roten Bart raufte, »Sie auch, Antoine, finden es nicht schön, der Sie unter Tieren sich herangebildet, entwickelt haben, der Sie wissen könnten, was schön ist? Nun, alle Heiligen erbarmen sich meiner! Wenn das nicht schön ist, was gibt es dann Schöneres in der Schöpfung? Ich finde es schöner als des Nachtwächters älteste Tochter in K. Mehr vermag ich nicht zu sagen.«

»Ich kannte jenen Gegenstand deiner Liebe nicht«, versetzte Anton. »Dein Vergleich aber, in meiner beschränkten Ansicht von schön und nicht schön, gereicht der Dame deines Herzens nicht zu besonderem Vorteil. Was mich betrifft, verzeih' mir Gott die Sünde, ich kann das Rhinozeros nicht anblicken, ohne an Onkel Nasus zu denken.«

»An Ihren Onkel? Gut, Herr Antoine. Mag dieser Onkel leben oder tot sein; wenn er unserem Rhinozeros ähnlich sah, war er ein würdiger Mann!«

*

Anton hatte keine Ursache, dem Rotbart zu verschweigen, daß sein Weg ihn nach Pisa führe; auch hielt falsche Scham ihn nicht ab, einzugestehen, wie der Staub der Landstraße, die Last eines Felleisens und die Müdigkeit verwöhnter Füße auf die Länge wenig zum Vergnügen des Reisenden beitrügen; wie er sehr zufrieden sein wollte, wenn seine Finanzen ihm gestatteten, auf einige Tage mit dem Rhinozeros zu tauschen, das in eigenem Wagen, von zwölf Rossen gezogen, als großer Herr reiste. »Ich wollte«, versicherte er, »mit einem Sechsteil dieser Ehren mich begnügen und mit zwei Postpferden vorlieb nehmen.«

»Bis Nizza«, meinte Jean, »wird ein Freund von mir Sie gern mitnehmen; es ist ein Venezianer, ein gewisser Zara, der mit einem Seekalb Geschäfte macht; soviel ich weiß, bricht er in dieser Nacht von hier auf. Er hat sein eigenes Fuhrwerk und Sie werden bequem sitzen. Wenn's Ihnen recht ist, führe ich Sie gleich zu ihm, wir haben jetzt keine Zuschauer hier, und für einen Augenblick kann ich schon abkommen.«

Der gutmütige Jean geleitete seiner ehemaligen Herrschaft ehemaligen Liebling zu Herrn Zaras zeltartigem Etablissement, stellte ihn als »ihresgleichen« vor und erbat sich freundlich zusagende Erfüllung des Gesuches.

Das Seekalb, die eigentliche Hauptperson, Ernährer des Herrn Zara und dessen dienendem Gehilfen, der eigentliche pater familias, lag auf dem Rande seines Wasserbehälters, Brust und Kopf herausgelehnt wie ein Kapuziner Phoca monacus., gähnte aus Leibeskräften, nieste verschiedene Male, ohne nachher ein Schnupftuch zu benützen; reichte auf Befehl des Gebieters dem Liebenauer eine Vorderpfote; sagte »Papa!« – (wodurch es aber nicht sowohl, daß Anton sein Erzeuger sei, als vielmehr, daß es in seiner Sprachausbildung, zarten Menschenkindern vergleichbar, eben noch nicht weiter gediehen war, andeuten wollte) – zog sich dann ins Wasser zurück; wälzte sich in selbigem wie ein vollgesogener Blutegel umher, stieß ein heiseres Geschrei aus, wodurch es deutlich zu verstehen gab, daß ein Gericht Fische große Gnade vor seinen schönen Augen finden werde. Herr Zara, insoweit bibelfest, wie es die Lehre vom »Schweiße des Angesichts, worin wir unser Brot essen sollen« betraf, erfüllte diesen Wunsch nicht unbedingt, sondern versicherte, die Fische könnten erst serviert werden, nachdem »Monsieur le moine« sich als Tonkünstler gezeigt. Das Seekalb spie nicht Feuer und Flamme, wohl aber Gewässer, machte endlich gute Miene und böses Spiel, indem es mit seinen Pfoten der ihm vorgehaltenen Guitarre einige Klagetöne entriß, und bat sich unmittelbar nach dieser musikalischen Belustigung seine Fische aus, die ihm zugeworfen wurden, – (wie anderen Künstlern die Lorbeerkronen) – und die es mit großer Geschicklichkeit in der Luft auffing.

Jean näherte sich Anton und sagte ihm leise: »Zara ist ein braver Bursche, und ich bin ihm sehr gut; aber gestehen Sie selbst, Herr Antoine, ob ein solcher Verkehr mit einem quasi-Fische nicht die Menschheit entwürdigt? Ich bemitleide meinen Freund. Freilich wohl, nicht alle Menschen können bei einem Rhinozeros angestellt sein, denn es gibt zu viele Menschen, die Lebensunterhalt suchen, und im Verhältnis viel zu wenig Rhinozerosse; auch müssen Unterschiede auf Erden stattfinden; ich begreife das ... Doch dieser Unterschied ist zu groß: er stört die Freundschaft. Ein Fisch! – Es ist entsetzlich. Addio, Zara«, rief er mitleidsvoll; »und, gute Reise, Herr Antoine.« Dann schritt Jean seines Weges, so stolz, als – – als ob er selbst ein Rhinozeros wäre.

*

Die Mönchsrobbe, in Schilfdecken gehüllt, lag in seinem Reisekubikulum; der Knecht, eine Art Kaliban, neben ihm, Zara und Anton saßen auf dem Verdeck des seltsam konstruierten Wagens. So rollten sie, von gewechselten Pferden befördert, rasch dahin. Mit jedem Poststeine, den sie zurückließen, mehrte sich Antons Erwartung, was er durch Signora Carina vernehmen solle. Sie war es, wie er vermutete, sie auf Erden allein, die ihm das Ende seiner Mutter, den Namen seines Vaters, ja, was ihm noch wichtiger wurde, die ihm Wege und Mittel zur Ausgleichung, zur Versöhnung mit diesem bezeichnen konnte. Nur in dieser Hoffnung gewann die Kenntnis von seines Vaters Aufenthalt Wert für ihn; nur durch die Entdeckung, daß väterliche Gesinnung den Mann beseele, der ihm bisher ein Fremder geblieben!

»Einen Vater, der sich schämt mich anzuerkennen, mag ich ebensowenig kennen lernen, als ich jemals die selige Großmutter nur mit einer Silbe gefragt habe, wie er heißt, und wo er wohnt! – So wäre gar meine arme Mutter nicht, wie wir wähnten, bei der großen Überschwemmung in N. umgekommen? Sie wäre vielleicht in fremde Länder entflohen? Vielleicht nach Italien, wo Carinos Gefährtin mit ihr bekannt gewesen? Und rührte von dieser letzteren etwa die Zuschrift her, die meiner Großmutter Ende herbeiführte? ...«

Bei solchen Fragen, die Anton, während Zara ununterbrochen schlief, an sich selbst richtete, ohne Aussicht auf Beantwortung, außer durch den Mund der Ersehnten, mußte wohl seine Ungeduld eine schwer zu beherrschende sein.

In Nizza trennte er sich dankbarlichst von dem Besitzer des gebildeten Seekalbs, nahm ein Stübchen für sich allein, wusch, erquickte, stärkte sich bestens und trat ohne Aufschub, Ranzen, samt Geige auf dem Rücken, den Wanderstab in der Hand, die Fußreise wieder an. Er hatte kaum sein Wirtshaus verlassen, als ein langsam fahrender Vetturino ihn anrief, befragte, wohin er gehe, und ihm, nachdem Anton Pisa genannt, den Vorschlag machte, seinen Kutschersitz mit ihm zu teilen gegen mäßige Bezahlung. Denn auch er fuhr gen Pisa, war von einem kranken Herrn, der für sich und einen Kammerdiener das Innere der Kutsche gemietet, angenommen, behielt aber die Vergünstigung, für das Kabriolett einen Passagier zu erwerben. Anton, der bereits mehrere Bestandteile der italienischen Sprache aufgelesen und sich zu eigen gemacht, verstand sich mit Pedrillo so ziemlich; sie wurden bald handelseinig. Dem Felleisen wie der Geige wies man sichere Plätze zu, und unser Freund, sein gutes Glück preisend, bestieg den Bock.

Während der Vetturino zum erstenmal anhielt, stieg des Reisenden Kammerdiener aus dem Wagen, näherte sich Anton und redete diesen französisch an: »Mein Herr hat mir befohlen, Sie zu fragen, ob Sie vielleicht vorziehen, bei ihm im Wagen Platz zu nehmen? Er wünscht sehr, sich mit Ihnen zu unterhalten. Er kennt Sie, und Sie kennen ihn. Ich soll mit Ihnen den Sitz beim Kutscher tauschen. Mein Herr würde selbst abgestiegen sein, Ihnen diesen Vorschlag zu machen, doch ist er zu leidend und schwach.«

Anton hatte keine Ursache, einer so artigen Bitte nicht nachzugeben. Er tat ohne Aufschub, was von ihm gewünscht wurde. Wie er in den Wagen stieg, fand er sich neben einem Manne von sehr krankem und verstörtem Aussehen, der bei dem milden, fast heißen Herbstwetter in einen dicken Mantel vermummt, von Kissen und Polstern jeder Art umgeben und gestützt saß. Beim ersten Anblick erkannte der Einsteigende die entstellten Züge nicht wieder, was er durch seine zweifelhafte Begrüßung zu verstehen gab. Doch der Kranke kam seinem Gedächtnis zu Hilfe, indem er ihn ansprach.

Sogleich rief Anton: »Herr van der Helfft? Sie?« ...

Und Theodor entgegnete: »Sie staunen, daß ich Sie zu mir bitten ließ. Nach allem, was zwischen uns sich zugetragen, und den Gebräuchen zufolge, wie sie unter gebildeten Menschen auf Erden herrschen, dürfen wir uns nur mit Pistolen in der Faust wieder begegnen oder müßten uns vermeiden. Ich weiß das. Doch weiß ich auch, daß diese Gebräuche nur für lebende, lebendige Menschen gelten; der Tote ist nicht mehr verpflichtet, sich ihnen zu fügen. Und ich bin ein toter Mensch. Daß ich noch rede, ändert nichts an der Sache. Ich bin ein Leichnam. Als ich Sie, neben dieser Kutsche wandernd, Ihres Weges ziehen sah und Sie augenblicklich erkannte, regte sich der verzeihliche Wunsch in mir, mit Ihnen zu besprechen, was uns beide so nahe berührt. Erst auf meine Veranlassung wurden Sie durch Pedrillo aufgefordert, die kleine Reise mit uns zu machen. Jetzt hoffe ich, Sie werden meine Bitte erfüllen. Sterbenden pflegt man, womöglich, nichts abzuschlagen. Lassen Sie mich erfahren, was Sie und Ihr Verhältnis zu ... zu der Toten angeht. Ohne Rücksicht, ohne Zurückhaltung, ohne Schonung! Sagen Sie mir die volle Wahrheit. Schlimmer kann sie ja doch nicht sein als der Ausgang, den sie herbeigeführt hat. Doch auch das Schlimmste ist mir willkommen, weil ich klarsehen will. Sie erweisen mir, wenn Sie dies tun, einen großen Dienst; und wäre, wie ich vermuten darf, Ihr Gewissen nicht völlig rein gegen mich, so dürfte Ihnen selbst erwünscht sein, sich durch dieses mir gewidmete Opfer zu erleichtern.«

Anton war tief ergriffen. Nur allzu lebhaft empfand er das Gewicht des ihm gemachten Vorwurfs; um desto lebhafter, je mäßiger die Anklage gestellt wurde. Er beichtete. Vom ersten Abend an, wo er Bärbel im großen französischen Theater gesehen, bis zum letzten, wo er den in Lüften verhallenden Ruf seines Namens, auf der Flucht vor ihr und ihrer wild glühenden Leidenschaft, durch die Nacht zittern gehört.

»Also auch Sie«, hob nach langem Schweigen der Kranke an, »also auch Sie waren bezaubert, verzaubert vielmehr durch die unerforschliche Macht dieses teuflischen Engels? Bei Ihnen auch erlosch dieses Zaubers furchtbare Gewalt, als der schönste Körper zerschmettert, verstümmelt, grauenhaft entstellt, die falsche Seele ausgehaucht? Nun, sagte ich nicht, Ihre Bekenntnisse würden mir Trost verleihen? Das ist schon geschehen. Was Sie mir jetzt entdeckt: die Abhängigkeit, in welcher auch Sie wider eigenen Willen verharren mußten, die fortdauernde Anspannung aller Sinne und sinnlichen Erregungen, worin dies schlaue Geschöpf auch Sie zu erhalten verstanden, der Abscheu, den Sie vor ihr hegten, immer wieder besiegt durch die kindische Furcht, ihr zu mißfallen und ihren Groll zu erwecken; mehr noch als dies alles: jene Erschöpfung aller geistigen und leiblichen Kräfte, nachdem Sie sich frei und den Zauber verbannt fühlten; der Wahnsinn, der Sie zu beherrschen drohte; die Todeskrankheit, der Sie fast unterlagen; ... ich finde mich in diesen Zuständen wieder, mich und mein Geschick. Nur mit dem einen Unterschiede, daß Sie am Rande des Grabes, durch Jugend und Genesung gerettet, umkehren durften, sich dem Leben wieder zuzuwenden; und daß ich hinabsteigen werde in die kalte, finstere, einsame Grube; jung, mit dem Wunsche zu leben!«

»So weit ist es noch nicht«, stammelte Anton.

»Freilich nicht! Leider nicht! Es kann noch ziemlich lange dauern, bis dies Automatendasein, das ich führe, verlischt. Und ist das nicht um so trauriger? Die Ärzte wissen nicht mehr, was sie mit mir beginnen sollen! Die Pariser schickten mich nach Nizza. In Nizza, um mich nur los zu werden, priesen sie mir Pisa. Ich weiß im voraus, auch in Pisa kann sich's mit mir nicht ändern. Ich werde auch dort nicht aushalten. Da habe ich meine Leute entlassen, die sämtlich treulose Betrüger und Verbündete jener erbärmlichen Spielgesellen waren, mit denen meine eigene Verblendung mich verbündet hatte. Ich habe meine Wagen verschleudert, meine Pariser Einrichtung hingeworfen, jeden Luxus von mir entfernt, – nicht um zu sparen, denn für wen sollt' ich das? Nur weil mich anekelt, worin ich aufwuchs. Es regte sich in meinem Innern giftiger Neid gegen die Armen, die, auf sich allein angewiesen, sich durch die Welt schlagen; die Überdruß, Langeweile nicht kennen, die noch empfänglich sind für Luft und Freude. Denen wollte ich es gleich tun, – ah, ich vergaß, daß man dazu Kraft und Gesundheit braucht; daß der Kranke, Elende, wenn er arm ist, zwiefach leidet; daß Reichtum doch manche Linderung gewährt; aber ich rede immer von meinem Reichtum, als wüßte ich so sicher, daß ich ihn noch besitze! Das werde ich erst erfahren, wenn ich heimkehre. Meine Unordnungen, Bärbels wahnwitzige Verschwendungswut, die Nichtswürdigkeit der sogenannten Freunde haben meine Verhältnisse dermaßen verwirrt, daß ich mich selbst nicht mehr auskenne. Schleicht der Tod, den ich in diesen Gliedern spüre, so langsam fort wie bisher, zögert er noch sehr lange, bis er mir ans Herz tritt, – dann kann's vielleicht geschehen, daß ich als Bettler sterbe, wie jener Vagabund in meinem Liebenauer Walde, für dessen Begräbnis Sie damals sorgten und meine Gabe zurückwiesen. O, ich weiß noch was Sie mir ins Ohr raunten: Heben Sie Ihr Gold für die braune Bärbel auf!«

»Theodor«, sagte Anton, »möchte die Träne in meinem Auge Ihnen Bürgschaft geben für mein Herz. Wollen Sie mir verzeihen, was ich an Ihnen freveln half? Können Sie's?«

»Gern«, erwiderte Theodor, der ihm die magere, zitternde Hand hinstreckte. »Gern und von ganzer Seele. Ich wäre zu tadeln, wenn ich noch ferner gegen Sie grollte. Nein, ich habe kein Recht dazu. Ich von allen Menschen am wenigsten, weil ich die Übermacht am besten kenne, deren Verführung Sie unterlagen. Wenn Sie an mir gefrevelt haben, so begingen Sie den Frevel ja nur an einem Ihnen gleichgültigen Menschen, der kalt, hochmütig, lieblos auf Sie herabsah. Ich selbst bin weit sträflicher, denn ich habe unendlich größeren Frevel an mir begangen, habe mich selbst zerstört und blieb dabei der Betrogene, Verhöhnte, während Sie geliebt wurden. Sie sind also eher zu entschuldigen, als ich. Lassen Sie uns Freunde sein. Wir müssen es werden; wir sind es eigentlich schon. Eben weil wir so wütende Feinde waren, weil unsere Feindschaft entsprang aus einer Leidenschaft für ein Wesen dämonischer Gattung; weil wir an einem Tage das schmähliche Joch losgeworden sind, in einer und derselben Stunde. – Bleiben Sie bei mir. Sie stehen allein in der Welt, im Leben. Ich gehe dem Tode entgegen und bin auch allein. Harren Sie bei mir aus, bis ich sterbe. Sie sollen mein Erbe sein! Und rette ich aus der großen Hinterlassenschaft, die ein zärtlicher, – ach, allzu zärtlicher! – Vater mir hinterließ, nichts als Ihr Heimatsdorf, unser Liebenau, so ist das für Sie, der gar nichts besitzt, sehr viel. Das soll Ihr Eigentum werden, wenn Sie mich bis zu meinem Tode nicht mehr verlassen wollen. Gott hat uns hier zusammengeführt, daß meine Leiden durch Ihre liebe Gegenwart gemildert würden. Verhärten Sie Ihr Gefühl nicht gegen diesen Fingerzeig von oben; beglücken Sie mich durch Ihre Zusage; willigen Sie ein, mein Erbe zu werden! Wir halten uns nicht in Pisa auf: wir reisen ohne Aufschub heim; wir eilen, so viel meine Schwäche gestattet, nach Liebenau. Mich dünkt, im Schatten unserer Wälder müßte sich's sanft und ruhig sterben lassen! – Anton, willst du bei mir bleiben als Freund und Bruder?«

»Mich ruft eine heilige Pflicht nach Pisa«, antwortete Anton, sehr ernst gestimmt durch die wunderbare Wendung, die dies Gespräch unerwartet genommen. »Ich soll dort, wie ich hoffe, Nachrichten empfangen über mich, meine Herkunft, meine Vergangenheit und Zukunft. Können Sie sich entschließen, so lange zu verweilen, bis alle Schritte getan sind, die ich dort zu tun mir vorgesetzt, dann bin ich bereit, Sie fürder zu begleiten; bin bereit bei Ihnen auszuharren und durch brüderliche Pflege an Ihnen gutzumachen und zu sühnen was – nicht Verzauberung, Theodor, belügen wir uns nicht, nein, was Leichtsinn, heißes Blut, ungestüme Jugend gesündigt. Von dem großmütigen aber unausführbaren Gedanken, mich zu Ihrem Erben einzusetzen, werden Sie in ruhiger Stimmung zurückkommen. Sie haben, das weiß ich durch Bärbel, in Holland Verwandte von mütterlicher Seite, die sich mehrmals bittend an Sie gewandt haben.«

»Die ich nicht kenne! Die sich nur um meinen Vater bekümmerten, wenn sie Geld verlangten; die reichlich mit vollen Händen längst abgefunden sind. Sehr entfernte Verwandte, die gesetzlich gar keinen Anspruch machen können, sobald mein Testament einen Universalerben einsetzt. Und dieser Erbe ist Anton. Anton wird Herr von Liebenau, so wahr und gewiß ich auf Gottes Gnade hoffe im Leben wie im Tode.«


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