Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreiundsechzigstes Kapitel

Mit der festen Absicht, sich um eine Erlaubnis für Tanzunterricht bei der Behörde zu melden, traf Anton in der Stadt ein, aus der vor einem halben Jahre Hedwigs Bild und Andenken ihn begleitet. Zuerst aber fand er es angemessen, jener Majorswitwe, in deren Hause er so schöne Stunden – in Anschauen und fromme Bewunderung versenkt – durchlebt, seinen Besuch zu machen, ihr seinen Plan mitzuteilen und um ihren guten Rat zu bitten. Daß die Hoffnung, über Hedwig etwas zu erfahren, im Grunde des Herzens schlummernd, ihn hauptsächlich zu diesem Besuche antrieb, entdeckte er selbst erst, als von ihr die Rede war. Doch welch ein Gefühl durchdrang ihn, da er vernehmen mußte, der alte Hauptmann, ihr Vater, infolge schwerer Wunden zum ferneren Dienste völlig untauglich, sei verabschiedet worden, habe E. verlassen und habe sich in eine andere kleine Stadt – man wußte nicht, welche – begeben, um sich einzuschränken und sparsamer hauszuhalten, – Hedwig war fort. Er sollte sie nicht mehr sehen. Seine Pläne lösten sich in Rauch auf. Er entdeckte nun gar nicht erst seiner Gönnerin, daß er im Sinne gehabt, den Winter über als Tanzlehrer in E. zu leben; er empfahl sich ihr und schied für immer, meinte auch E. am selbigen Tage zu verlassen. Doch mit nichten.

Er ging, nur an Hedwigs Abreise denkend, niedergeschlagen und entmutigt durch die Gassen – da fiel sein Blick auf den an der Ecke eines Hauses klebenden Anschlagzettel, der die Darstellung einer »Genoveva, Pfalzgräfin in Trier« verkündigte. Dieser Anblick brachte das Gefühl in ihm hervor, wie wenn man beim Aufräumen in irgend einem alten Kasten irgend ein altes Spielzeug aus der Kinderzeit findet und dadurch an unzählige Begebenheiten erinnert wird, die, längst vergessen und begraben, mit wehmütigem Lächeln wieder aufstehen, uns geisterhaft zu begrüßen. Bei näherer Betrachtung sah er, daß die Vorstellung der Genoveva gestern stattgefunden. Auch war es ein Puppentheater. An der nächsten Straßenecke fand er den heutigen Zettel. Dieser verkündigte das Schauspiel: »Der verlorene Sohn.« Obschon er sich von einem Puppenspiele nicht viel versprach, beschloß er dennoch, den verlorenen Sohn zu hören. Waltete doch ein Geschick über ihm, worin auch so etwas vom verlorenen Sohne sich entdecken ließ, wenngleich sehr verschieden von dem biblischen Vagabunden. »Bei meiner Heimkehr«, sprach er betrübt, »würde niemand ein fettes Kalb schlachten; niemand in Liebenau, sogar Tieletunke nicht.«

*

Je geringer die Ansprüche gewesen, die Anton in das Marionettentheater des Herrn Dreher mitgebracht, desto größer war sein Erstaunen, dieselben in jeder Art übertroffen zu sehen; nicht zu reden von dem überraschenden Mechanismus der meisterlich geführten Figuren, von der zierlichen Ausstattung der kleinen Bühne, wirkte hauptsächlich die Dichtung selbst so gewaltig auf unseren Freund, daß sein poetisches Gemüt völlig davon bezaubert wurde.

In reizend naiver Einfalt hat das alte Volksschauspiel jenen ewigen Stoff aufgefaßt und behandelt. Was ein Dichter von modernem Zuschnitt wie allegorische Andeutung genommen haben würde, das tritt hier mit kindlicher Treuherzigkeit als wirklich und wahr vor die Sinne. Wenn der verlorene Sohn infolge seiner wilden Ausschweifungen so tief gesunken ist, daß er als Schweinehirt in wüster Gegend Mangel leiden muß, da verwandelt sich das Brot, womit er seinen Hunger stillen möchte, unter den zitternden Händen in harten Stein; da grinsen ihm statt jener Äpfel, die er vom Baume zu pflücken trachtet, kleine Totenköpfe entgegen; da rinnt aus dem Felsenquell, der ihn laben soll, sobald er sich dürstend naht, flüssiges Feuer hervor; alles dies, weil der Fluch gekränkter Eltern ihm folgt. Und wie er nun matt und kraftlos zur Erde taumelt, um in einen Schlaf, der Ohnmacht scheint, zu verfallen, da naht ihm ein Ungetüm, das aus dem Boden steigt, hält ihm die Reihe seiner Vergehungen vor und raunt ihm krächzend ins Ohr: »Ich bin die Verzweiflung!« Dann windet sich der Elende, erwacht aus Traumes Qualen, fleht den Himmel reuig um Gnade an, – und alsobald schwindet die schwarze Verzweiflung, die Erde schlingt sie ein, und von Rosengewölk getragen schwebt ein freundlicher Engel herab, der lispelt liebevoll: »Ich bin die Hoffnung!« Und kaum hat der verlorene Sohn diese tröstende Stimme vernommen, fühlt er Kraft, sich zu erheben, den Heimweg anzutreten und zu den Füßen der Eltern Vergebung zu suchen.

Wie in allen Puppenspielen ist der ernsthaft gemeinten Hauptfigur auch in diesem Stücke Kasperle als Begleiter beigegeben; der Chorus der Romantik, der mit derben, treffenden ironischen Witzworten gleichsam die Moral der Fabel expliziert. Er ist der treue Diener; macht alle dummen Streiche des Herrn mit, obgleich er ihn und sich verspottend warnt; besucht mit ihm willige Dirnen; bleibt nicht zurück, wo der Spieltisch lockt; läßt sich beim Schenken den Becher füllen und klagt nur, daß es ein schlechtes Haus sei, weil man ihnen »besoffenen Wein« gereicht; hält sich aber, Dank sei es seiner humoristischen und dabei kerngesunden Hanswurstnatur, stets über Wasser und bewahrt auch im größten Unglück, wie er's mit dem scharf getadelten, dennoch geliebten Gebieter teilt, heitere Laune genug, aus allem Jammer das Lustige herauszufinden. Ja, Kasperle ist es zuletzt, der den heimkehrenden, in Lumpen gehüllten Bettler bei den Eltern anmeldet, diese schonend vorbereitet und ihnen sogar den tiefsten Grad vergangenen Elends schalkhaft beschreibt, indem er ihnen vertraut, ihr Herr Sohn sei auf der Insel Sumpfus König einer wilden Völkerschaft gewesen, die in niederen Hütten gewohnt habe und höchstwahrscheinlich aus Frankreich stamme, weil sämtliche Untertanen, wenn das Horn des Herrschers zur Weide rief, stets mit oui! oui! geantwortet.

War nun im Wiedergeben der tragischen Personen manches mangelhaft, weil es bei nur zwei hinter den Gardinen redenden Darstellern an Stimmenwechsel fehlte, so wurde doch der Kasperle mit einer Vollkommenheit gesprochen, und der unsichtbare Sprecher wußte zugleich der sichtbaren, beweglichen, possierlichen Puppe so entsprechende Leitung dabei angedeihen zu lassen, daß Anton einen glücklichen Abend zubrachte. Er vergaß Hedwig und seine fromme Sehnsucht nach ihr. Er versenkte sich mit Seele und Leib in die Aktion der Puppen; er glaubte an sie. Ja, selbst das falsche Pathos, das Herr Dreher seinem zärtlichen Vater, seinem ruchlosen Sohne angedeihen ließ, mußte der begeisterte Bewunderer dieser ihm neuen Kunstgattung preisen; er fand dies notwendig für ein Marionettenspiel. Dagegen durchrieselte ahnungsvoller Schauer sein Herz, wenn die Weiberstimme eintrat. Die Klage der Mutter um den verlorenen Sohn erschütterte ihn, wie nichts ihn erschüttert, seitdem er Ludwig Devrients Schewa vernommen; er zürnte mit seinen Nachbarn, die dumm lachten, wo ihm Tränen ins Auge traten. Bei den Worten: »Ich bin die Hoffnung!« überkam ihn eine Rührung, die er kaum bemeistern konnte, und die seine nächste Umgebung bei einem Marionettenspiel komisch fanden, die aber auf ihn selbst so nachdauernd wirkte, daß er sich nicht von E. trennen mochte, ohne wenigstens noch einer Vorstellung im Puppentheater beigewohnt zu haben. »Ich bin ein wunderlicher Mensch«, gestand er sich ehrlich ein; »Spontinis große Oper mit aller Macht und Pracht hat mich kalt gelassen, wiewohl ich auch ein Stückchen Musikus bin; – und diese Belustigung, Dienstmägden und kleinen Kindern zunächst gewidmet, regt mich auf, wie wenn es eine Tragödie wäre. Einen guten Teil zu solcher Exaltation trägt freilich auch die weibliche Stimme bei, die da mit hineinredet; sie klingt, als ob sie einer alternden Frau angehöre, und doch ist mir noch keines schönen Mädchens oder Weibes Stimme so innig zu Herzen gedrungen – Hedwigs immer ausgenommen, wie sich von selbst versteht. Ich muß diese Stimme wieder hören und muß die Frau kennen lernen, die mit wenig schlichten Tönen so viel Wirkung auf mich hervorbringt. Wahrscheinlich wird es Madame Dreher sein.«

Zu rechter Zeit besann er sich, daß Puppenspieler doch unbezweifelt zu den Vagabunden gehören, und daß es ihm frei stehe, sein Recht als solcher benützend, das Handwerk zu begrüßen. Herrn Dreher fand er nicht zu Hause; der Mann, dessen Dialekt schon den Altbayern verriet, – besonders wenn er seinen Kasperle sprach – zeigte sich auch insoweit der Heimat getreu, daß er fleißig »zu Biere« ging, obgleich er keinen Krug leerte, ohne jammervoll sehnsüchtige Klagelieder zu stöhnen; denn das »bayrische Bier« war damals noch nicht ins Ausland gedrungen; der »Fortschritt« war noch nicht so weit gediehen. Er klagte also, er sehnte sich, – aber er trank ... und blieb nicht beim Biere stehen.

Madame Dreher saß am Nähtisch, ein Purpurgewand mit goldenen Borten zu schmücken für ihren zwei Schuh langen Kriegsobersten, den weltberühmten Herrn Holofernes; es sollte die »Belagerung von Bethulia« aufgeführt werden. Wie Anton eintrat, sprang sie auf, als ob sie gewaltig vor ihm erschrocken sei; ihre bleichen Wangen wurden noch bleicher; ihre dunklen großen Augen erglühten in unheimlichem Feuer; sie betrachtete den Eintretenden mit peinlich scharfen Blicken, als wollte sie, nachdem sie nun erst überzeugt, daß er es wirklich sei, sich auch versichern, ob er nicht augenblicklich wieder verschwinden werde. Teils diese krankhafte Aufmerksamkeit auf jede seiner Bewegungen, teils eine unbestimmte Erinnerung, der kranken, elend aussehenden Frau schon einmal irgendwo begegnet zu sein, ohne doch im entferntesten zu ahnen, wie, wo und wann, dies machte Anton so verlegen, daß er dringend nach Herrn Dreher fragte, als wenn er diesem die wichtigsten Mitteilungen zu bringen hätte.

»Mein Mann kommt erst eine Stunde vor Beginn der Vorstellung heim; wenn Sie sich so lange gedulden können ...«

Und bei diesen Worten zitterte die Frau vor Erwartung, was er darauf erwidern werde.

»Sie scheinen sich sehr übel zu befinden«, sprach er; »vielleicht ist es Ihnen angenehmer, wenn ich mich jetzt entferne, um später nachzufragen. Ich habe durchaus kein Geschäft mit Ihrem Manne. Mich führt nichts hierher, als die Freude, die ich gestern beim Anhören des verlorenen Sohnes empfunden, und der Trieb, diese Freude dem Schöpfer derselben mitzuteilen.«

»Vielleicht würde mein Mann nicht verstehen, was Sie damit sagen wollen. Ja, er würde vielleicht argwöhnen, es verberge sich Spott hinter Ihrer Teilnahme. Für den Mechanismus seiner kleinen Figuren gelobt zu werden, ist er gewöhnt. Die Stücke, die wir aufführen, hält er selbst für albernes Zeug und würde sich, fürchte ich, wundern, wenn man käme, ihm das Gegenteil zu sagen.«

»Nicht möglich! Wie ist er dann imstande, so vortrefflich zu reden und namentlich dem Kasperle einen solchen Grad von Vollkommenheit einzuhauchen?«

»Mit dem Kasperle ist es ein anderes; der geht ihm von Herzen; das ist der eigentliche Ausdruck seiner eigentümlichen, vaterländischen Derbheit und Schelmerei. Wie Sie ihn den Kasperle sprechen hörten, höre ich ihn selbst stündlich mit mir sprechen. Dagegen sind ihm die ernsten Personen unserer Schaustücke zur Last; was er mit Helden, Königen, Vätern und Liebhabern eigentlich anfangen soll, weiß er niemals. Früher hat er einen Gefährten gehabt, einen verunglückten Schauspieler, der diese Partien übernommen und durchgeführt. Dieser Mann jedoch ist ihm entlaufen, hat ihn böswillig verlassen und seine erste Frau bei Nacht und Nebel mit sich genommen. An die Stelle der letzteren bin ich getreten; – der Platz des tragischen Schauspielers ist noch nicht ausgefüllt. Ich wünschte sehr, daß sich jemand dafür fände; wir wollten ihn gut bezahlen. Mein armer Mann muß sich sehr anstrengen; die Führung und Lenkung der Puppen ist keine Kleinigkeit; sie nimmt alle Körperkräfte in Anspruch, und daneben so viel zu reden, greift furchtbar an. Für einen Mann von beinahe siebzig Jahren ist das zu viel. Ich bin so leidend und schleiche so matt und hinfällig einher, daß ich wenig tun kann, um seine Mühen zu erleichtern. Gerade heute bin ich besorgt, wie es gehen wird; ich befand mich schon den Tag über schlechter, als bisher, und dann ist noch – – noch ein unerwartetes Ereignis dazu gekommen, das mich sehr ergriffen hat. Nun soll ich, weil in dem heutigen Stücke verschiedene Figuren zugleich erscheinen, meinem Manne die Leitung der Judith abnehmen, was ich gar nicht verstehe, und was er leicht ohne Beihilfe abmachen könnte, wenn nicht seine Aufmerksamkeit zugleich auf die vielen Nebenpersonen, die er sprechen lassen muß, in Anspruch genommen wäre.«

Anton, der sich anfänglich vor den großen, starren, auf ihn gerichteten Augen ein wenig entsetzt, wurde nach und nach durch die heisere, umschleierte, vielleicht eben deshalb so tief in sein Herz dringende Stimme der kranken Frau für sie gewonnen. Jene Wehmut, die ihn gestern abend berührt, da sie im Namen der figurierenden Puppen geredet, stellte sich jetzt wieder bei ihm ein, wo sie in ihrem eigenen Namen zu ihm sprach. Er bot sich freundlich dar zu der gewünschten Aushilfe und erklärte sich bereit, einige Rollen zu übernehmen, möchten es nun belagerte Israeliten, möchten es Kriegshelden sein aus der Truppe des Holofernes, so man seinem geringen Darstellungstalente anvertrauen wolle.

Die Frau lächelte ihn durch Tränen an.

»Deuten Sie auf einen Scherz, den Sie sich heute mit sich – und mit uns machen wollen, oder verbirgt sich hinter Ihrem Anerbieten eine Absicht für die Zukunft? Sie müssen diese letztere Frage nicht übel nehmen; weiß ich doch sogar nicht, wen ich die Ehre habe, bei mir zu sehen, und inwiefern Ihre Verhältnisse diese meine unbescheidene Auslegung Ihres vielleicht unüberlegten Anerbietens gestatten. Wäre es möglich, daß Sie –«

Hier stockte ihre Stimme, von Tränen bedrängt. Zugleich strahlte ihr abgemagertes, in Gram und Leid verfallenes Gesicht in freudiger Verklärung, so daß Anton aufs neue in Schrecken geriet und, die voreilige Äußerung fast bereuend, schon wieder an schnellen Rückzug dachte.

Da trat im rechten Augenblick Herr Dreher ein.

Gegenseitig fanden Erörterungen statt; das Gespräch wurde fortgesetzt, nur auf andere Weise, indem es aus dem Gebiete des Überschwenglichen auf irdischen Grund und Boden gelangte. Anton machte kein Geheimnis daraus, daß er ohne Ziel und Zweck sei; daß er die Tanzmeisterei, die ihn anwidere, aufgegeben habe, nachdem die einzige Veranlassung, die er dafür gehabt, nicht mehr vorhanden. Er gestand ehrlich, daß er bei seinem Besuche noch nicht an die Möglichkeit gedacht, hier als dritter Mann eintreten zu können, daß aber jetzt, wo er einen Blick hinter den Vorhang getan, alte, verklungene Träume von poetischer Theaterlust in ihm erwachten; daß er es um so leichter fände, sie – wenn auch nur versuchsweise – zu erfüllen, weil er als Puppenspieler nicht mit seiner eigenen Person bezahlen, weil er nicht befürchten dürfe, sich ungeschickt oder unbegabt, wie einen schlechten Darsteller, preiszugeben.

»Lassen Sie mich«, rief er aus, »gleich heute mein Probestück ablegen; vertrauen Sie mir einige Röllchen an. Wo ist das Buch, aus welchem Sie spielen? Ich will's eiligst überlesen, und dann mögen Sie entscheiden, ob Sie mich brauchen können.«

»Ein Buch?« antwortete Herr Dreher; »ein Buch, mein Lieber, gibt es nicht; weder die Belagerung von Bethulia, noch irgend ein anderes Stück ist aufgeschrieben. Wir Puppenspieler sind eine alte Zunft, ein Überbleibsel aus ›die finstere Zeiten‹! Bei uns erbt sich's von Vater auf Sohn, einer lernt vom anderen auswendig, und hernach trägt man die ganze Geschichte im Kopf mit sich herum. Jeder von uns hat müssen einen Schwur ablegen, daß er niemals eine Zeile niederschreiben will, damit's nicht in unrechte Hände kommt, die uns das Brot wegnehmen. Jetzund leben unserer vielleicht noch vier, oder drei, von der Nürnberger Schule. Wenn wir ausgestorben sind, sterben unsere Komödien mit uns aus. Denn das Gelübde müssen wir halten. Bei mir findet sich nach meinem Tode auch nicht eine Silbe vor, nicht gedruckt, nicht geschrieben. In Berlin freilich haben sie einen Kollegen von mir garstig betrogen. Da sind die Gelehrten hinterdrein gewesen und haben sich den Doktor Faust so oft vorspielen lassen, daß sie endlich das ganze Stück mit Bleifedern während der Aufführung auf Papier gebracht, und einer – Horn, glaube ich, war sein Name – hat's gar drucken lassen. Das nenne ich gestohlen. Übrigens hat auch ein gewisser Goethe einen Faust gemacht, aber das ist gar dummes Zeug; reim' dich oder ich fress' dich; lauter unverständlicher Bombast; und nicht einmal der Kasperle kommt in selbigem Goethe vor. Der ist aber da am allernötigsten; denn wenn ich keinen Kasperle nicht habe, wer soll mir dann die Teufel necken, ihnen Sessel und Tisch ins Gesicht schleudern, sie auf die Schwänze treten, wenn er's nicht tut? Das sind meine allerschönsten Szenen. Aber was ich sagen wollte wegen Ihnen, Herr Hahn, sehen Sie, das müssen wir uns reiflich überlegen. Hinter meine Gardinen, in mein kleines Laboratorium, darf kein Fremder einen Blick tun, das ist wider unsere Zunftgesetze. Wollen Sie einen Eid ablegen, sich in alle Regeln zu fügen, – na, wir werden sehen. Einen Sohn habe ich nicht ... wie gesagt, wir werden sehen. Morgen reden wir mehr davon; heute schauen Sie wieder zu ... und du, Nettel, mach' dich zurecht und gehe an die Kasse, es ist Zeit, daß wir uns richten!«

Die »Belagerung von Bethulia« machte bei weitem keinen so großen Eindruck auf Anton, als der verlorene Sohn gestern getan, denn das elegisch-sentimentale Element fehlte gänzlich. Das Ding schien ironisch gemeint von Anfang bis zu Ende. Doch floß es von prächtigen Späßen über, und wenn Kasperle das Nachtlager des »Herrn Ochsofernes«, nachdem Judith diesem das Haupt abgesäbelt, vom Blute triefend erblickt und die Ansicht hegt: »der Alte habe zu viel rote Wein g'soff'n!« so mußte Anton, er mochte wollen oder nicht, in das jauchzende Gelächter der Vergnüglinge vom dritten Platze einstimmen. Judith bewegte durch ihre Töne wohl auch wieder sein Herz, doch wollte, seitdem er die vom Tode schon gezeichnete Trauergestalt der Sprecherin gesehen, deren heroischer Kraftaufwand ihm weniger zusagen. Mit einem Wort: er drang heute tiefer in die Mängel des Ganzen ein, vielleicht auch, weil man ihn aufmerksam auf dieselben gemacht, und dachte sich, während er sah, hörte, beobachtete, mehrmals an den Platz hinter den Dekorationen, fest überzeugt, es werde ihm gelingen, viele dieser Mängel zu beseitigen, wenn er mitwirken dürfe. Aus dieser Zuversicht entwickelte sich allmählich der Wunsch, in Drehers Zunft aufgenommen zu werden. Mit diesem Wunsche ging er schlafen, wie mit einem Spielwerk, das dem Kinde mit ins Bett gegeben wird, und über Nacht war dem großen Kinde der Wunsch an und in das Herz gewachsen. Als Anton erwachte, mußte er sich verwundern über seinen inneren Zustand; er vermochte nicht, sich Rechenschaft darüber zu geben; aber ebensowenig vermochte er ihn zu ändern. Ihn zog das Puppenspiel mit seinen poetisch rätselhaften wie kindlich albernen Mysterien mächtig an; ihm war zu Sinne, als winke ihm, dem Heimatlosen, im Halbdunkel jener buntbemalten Leinwandstreifen eine Heimat; als wären die kleinen, an Drähten schwebenden Zerrgebilde lebendige Geschöpfe, die ihm entgegenliefen: »Komm', Bruder, spiele mit uns, wir sind deine Geschwister; leihe uns Wort und Hand, wir führen dich zur Mutter nach Hause!«

Unerforschlicher Zauber der Phantasie, wenn kaum verstandene, dunkle Ahnungen aus dem Herzen aufsteigen, den zweifelnden Verstand irremachen, daß er sich endlich gefangen gibt und glauben lernt an – er weiß selbst nicht, was! So glaubte Anton, es würde eine angestrengte Beschäftigung als Puppenspieler die Leere ausfüllen können, die ihn quälte. In seiner Vorliebe für diese seine Idee überschätzte er auch den literarischen und ästhetischen Wert jener alten Dichtungen, die ihm wie Gesänge des Homer dünkten, weil sie nur durch lebendige Tradition von Mund zu Munde forterbten. In dem fleißigen Erlernen dieser Dramen, in der Förderung mechanischer Geschicklichkeit, die er zu seines neuen Meisters Unterstützung erwerben wollte, in dem Umgange mit der kranken, ihm so rührend zu Gemüt redenden Frau, die auch für ihn ungewöhnliche Teilnahme an den Tag legte; endlich aber in trotziger Verbissenheit gegen Weltlauf und Erdengeschick, zurückgezogen hinter den Tummelplatz der Puppen, geschützt und verdeckt gegen den Anblick Neugieriger, spottend, scheltend, den Menschen derbe Wahrheiten zu sagen in anderer Namen – in all diesen Aussichten und Erwartungen erblickte der Wanderer sein Heil, träumte sich so tief in das bevorstehende Glück, daß er fest entschlossen war, Drehers Gegeneinwendungen zu besiegen, möchten sie noch so gründlich sein.

Er fand eine treue, wirksame Bundesgenossin an der Frau. Für sie schien Antons Eintritt in das Geschäft, mithin auch in die Zunft, ein unerläßliches Bedürfnis, wenn sie weiter leben, wenn man von ihr verlangen wolle, daß sie fernerhin dafür arbeiten solle.

Sie erklärte geradezu, daß sie von der unbedingten Aufnahme des jungen Mannes, von seinem Zusammenleben und Sein mit ihnen ihre eigene weitere Teilnahme abhängig mache, wobei denn, obgleich nur andeutungsweise, zur Sprache gelangte, daß Frau Dreher keineswegs die Gattin des Herrn Dreher sei. Letzterer wußte zu wohl, was er und seine Puppen an der armen, sanften Dulderin besaßen. Sie bekleidete seine Könige und Bettler mit Geschmack und Fleiß; sie hielt die Lampen in Ordnung; sie sorgte fürs Hauswesen und sie sprach sämtliche Frauen- und Mädchenrollen mit jenem rührenden, zitternden, verschleierten Tone, der jedes Hörers Herz bewegte.

Ihr, die keine Freude mehr hatte noch suchte, die keine Forderung machte, Herrn Dreher sonst in allem gewähren ließ, – ihr konnte die einzige, erste an ihn gerichtete Bitte nicht verweigert werden. Anton wurde, nachdem er den üblichen Eid abgelegt und unverbrüchliches Schweigen beschworen, in die altlöbliche Zunft deutscher Puppenspieler als Lehrjunge aufgenommen.

Sieben Wochen darauf vollendete er, indem er seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag beging, sein vierundzwanzigstes Lebensjahr. Ein volljähriger Lehrling!

An diesem Tage, als am heiligen Abende, spielte das Puppentheater nicht.

Herr Dreher hatte sich nicht abhalten lassen, auch das Christfest im Bierhause zu feiern. Anton saß bei »der kranken Frau« – (nicht anders redet er von ihr in seinen Tagebüchern) – und sie ging mit ihm einige Rollen aus dem Gedächtnis durch, die er in dem Schauspiel »Don Juan, der steinerne Gast« übernehmen sollte, das auf den ersten Feiertag angesetzt war. Das Gedächtnis des Lernenden gab jenem der Lehrenden wenig nach. Sie hatte in der kurzen Frist von etwa zehn Monaten, die sie mit Dreher verlebte, sein ganzes Repertoire vollständig erlernt. Anton behielt jede Tirade, wenn er sie zweimal aus ihrem Munde vernommen, wörtlich in der Erinnerung, so daß ihm keine Silbe fehlte. Die Vorbereitungen für Don Juan bedurften also wenig Zeit. Dann bei Einbruch der Dunkelstunde begannen die vertraulichen Mitteilungen, die Antons Vergangenheit betrafen, zu welchen die kranke Frau seit seinem Eintritt ins Puppenspiel den jungen Mann auf unwiderstehliche Weise veranlaßt hatte. Sie wurde nicht müde, ihn um die kleinsten, scheinbar nichtigsten Ereignisse seines Lebens zu befragen, ihn auszuforschen bis auf den Grund seiner Seele. Und sie tat dies mit so teilnehmender Lebhaftigkeit, mit so bescheidener Freundschaft, mit so liebevoller Würde, daß jede Falte in unseres Freundes Herzen sich vor dieser innigen Milde öffnete, daß er die geheimsten Regungen und Gedanken offenbarte. Wenn auf seine Mutter die Rede kam, – und nur dann – machte der Zuhörerin Benehmen einen unangenehmen Eindruck auf den Erzähler. Denn während die kranke Frau Mitleid, Nachsicht, billige Verzeihung und christliche Teilnahme allen Persönlichkeiten angedeihen ließ, die Antons Lebensweg durchkreuzt hatten, gegen seine arme Mutter kannte sie kein Erbarmen; für ihr unmütterliches Betragen kannte sie weder Schonung noch Rechtfertigung. Sie sagte das Härteste von ihr, mit desto schärferer Zunge, je lebhafter Anton die Verteidigung der Verstorbenen übernahm, so daß es ihm bisweilen vorkam, als vermehre sie die Anklagen nur, um den Verteidiger immer wärmer zu machen. Wenn er aber dann sich selbst tadelte und die Anklagen gegen sich richtete, daß er denn doch nicht energisch genug verfahren sei, um den Aufenthalt der Carina zu erkunden und jene Spuren zu verfolgen, auf denen er etwas Näheres von seiner Mutter und ihrem Ende vielleicht erfahren haben würde; – dann bedeutete man ihn allen Ernstes, dieser Vorwürfe und Selbstquälereien sich zu entschlagen, da es keinem Zweifel unterliege, daß die übel zusammengeworfene Sängergesellschaft, mit der die Carina ihr letztes Heil versuchte, gleich nach ihrer Ankunft in Deutschland aufgelöst und versprengt worden, die Carina jedoch elend zugrunde gegangen sei. Dies, versicherte die kranke Frau, wisse sie mit unumstößlicher Gewißheit durch glaubwürdige Zeugen; er möge ihrem an heiliger Eidesstatt gegebenen Worte vertrauen, jede Bemühung, die Gesuchte anderswo aufzufinden, müsse fruchtlos bleiben.

An dem Abende, den wir zunächst schildern, war Anton, von seiner Zuhörerin geleitet, wieder in die ersten Tage seines Lebens, bis zu seiner Geburt zurückgegangen. Was er aus den Mitteilungen der Mutter Goksch erfahren, das erzählte er nun, ohne daran zu denken, daß heute wiederum heiliger Abend sei. Die Dunkelstunde trat ein. Die Fenster in der schmalen Gasse glänzten im Widerschein unzähliger Lichter auf grünen Bäumen und Pyramiden. Anton kam in seiner Erzählung auf die Stelle, wo die gute Frau Hahn den Angstschrei ihrer Tochter hatte herabdröhnen hören, wo sie den ehrlichen Kantor bei seinem Weihnachtsaufbau im unteren Zimmer allein gelassen, wo sie sich in Todesangst zu ihrer Tochter hinaufbegeben, – und wo sie ihn gefunden, den kleinen, kleinen Anton: das Kind der Liebe, des Grames, der Verzweiflung!

»Heute vor vierundzwanzig Jahren!« sagte die kranke Frau.

Ein eisiger Frost ging bei diesen Worten durch Antons Glieder.

»Es ist kalt im Zimmer, soll ich Holz nachlegen?« fragte er.

»Nein, Anton«, erwiderte sie. »Ich friere, weil mein Leben langsam erlischt, der warme Ofen kann mir nicht helfen. Lassen Sie mich frieren und sterben. Aber gehen Sie, suchen Sie Ihr Kämmerlein. Ich habe Ihnen Abendbrot und Wein hinübergestellt und eine kleine Gabe von uns zum Christfest. Sie haben mir den ganzen Tag geschenkt; verderben Sie sich nicht auch den heutigen Abend mit mir. Schreiben Sie drüben, lesen Sie, unterhalten Sie sich, wie es Ihrem Geiste angemessen ist, den ich würdige und erkenne, – wenngleich meine Bitten teil daran gehabt, Sie in diese geringe Umgebung zu verlocken. Glauben Sie mir's, lieber Anton, ich hätte das nicht getan, wenn ich nicht wüßte, daß es nicht lange dauern würde. Mein Tod ist nahe, der alte Dreher kann ohne mich nicht mehr weiter. Es geht zu Ende mit diesem Leben – und mit diesem Puppenspiel, die sich beide sehr ähneln. Daß ich Sie an mich zu fesseln suchte, geschah nicht allein aus Eigennutz, der von Ihrem Umgange Trost, letzte Lebensfreude hoffte und empfing. Es geschah nicht allein für mich – es geschah auch für Sie, für Ihre Zukunft, für Ihr Glück, für Ihrer Seele Frieden! Das klingt Ihnen jetzt noch wie Faseleien einer Fieberkranken? – mag sein! Wenn mein Auge geschlossen, wenn dieser Mund stumm ist, wird Ihnen deutlich werden, was heute Wahnsinn scheint. O, mein guter Anton, Sie schreiben nicht allein Memoiren; die kranke Frau schreibt auch welche, ja, lachen Sie nur. Diese Kritzelei wird Ihr Erbteil von mir sein. Und Sie werden, wenn Sie darin blättern, mehr wie einmal ausrufen: Nun ist mir's doch lieb, daß ich der Ärmsten den Abend ihres düsteren Lebens freundlich erleuchtet habe. – Gute Nacht, lieber Anton.«


 << zurück weiter >>