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Einundsechzigstes Kapitel

Anton erreichte nach mehrtägigem Wandern eine Stadt von größerer Ausdehnung. Vor dem Tore angelangt, fragte er, ob es nicht einen Weg gäbe, der ihn hinter selbiger herumführte. Denn er fühlte nicht die geringste Lust, sich in seinem Reiseanzuge zwischen alle die geputzten Leute zu drängen, die den schönen, winterhellen Neujahrstag des Jahres 181* auf der Straße feierten, indem sie sich und ihre neuen Kleider spazieren führten. Der Torwächter versicherte ihm, der Weg um die Stadtmauer herum sei vom gestrigen Schneesturm dermaßen verweht, daß er versinken müsse bis über die Hüften, wenn er sich beikommen lasse, ihn einzuschlagen.

Es blieb keine Wahl; er mußte in die kleine Residenz eintreten. Mit dem Bewußtsein, noch einige Goldstücke in der Tasche zu führen, tröstete er sich über den Gegensatz, den seine Kleidung zu den weihnachtsbeschenkten Einwohnern, zu deren pelzverbrämten Mänteln und Röcken bildete. Er fragte nach dem besten Gasthause. Man bezeichnete ihm mehrere. Den »Elefanten« erwählte der ehemalige Tierführer. »Ein Bär«, sprach er, »wäre mir noch lieber gewesen, sollte es auch ein blauer sein; dagegen wohne ich von nun an nicht mehr in einem Hirsch, und wenn's ein goldener wäre.«

Der Elefant sah unseren Freund anfänglich ein bißchen über die Achsel an; das schlechteste Stübchen, so unter seines Rüssels Zepter lag, öffnete sich für Anton. Ihm, der seit sechs Tagen durch Schnee und Feld, von Dorf zu Dorf sich herumgeschlagen, dünkte dieses armselige Gemach mit seinem eisernen Öfchen ein Prunkzimmer, sehr geeignet, einige Tage der Ruhe, der Überlegung zu widmen und von dort Entschlüsse für ferneren Lebenswandel mitzunehmen. »Wie uneigentlich«, sagte er, nachdem er trockenes Holz in den glühenden Ofen nachgelegt und sich behaglich auf das dreibeinige Kanapee gestreckt, »wie uneigentlich redet man doch von dem Lebenswandel der meisten Menschen, die da unwandelbar an ihrer Scholle kleben, in ihren Läden feilschen, in ihrem Amte regieren, neben ihrer Eltern Grabe modern. Wandeln sie durchs Leben? O nein, das Leben wandelt durch sie, und sie spüren es manchmal kaum. Ich dagegen, seitdem ich Liebenau verlassen, darf mich wirklich rühmen, einen Lebenswandel geführt zu haben, und obenein nach gewöhnlichen Begriffen einen schlechten. Aber wenn ich mich ehrlich frage, ob ich schlecht geworden bin, darf ich ebenso ehrlich antworten: noch nicht. Doch will ich auch nicht ableugnen, daß es die höchste Zeit wäre, dem Dinge ein Ende zu machen; sonst steh' ich für nichts. Mir ist ums Herz, als wäre nun der Wendepunkt erreicht: nur noch ein Jahr bis zur Volljährigkeit!? Dann soll der ganze Mann dastehen! Ach, und ich komme mir so oft noch wie ein Junge vor! Und wenn ich an Adelheid denke, wie ein recht dummer Junge!«

»Wau wau!« machte jetzt im anstoßenden Nebenzimmer eine derbe Hundestimme, wie wenn sie den dummen Jungen bestätigen wollte. Dann folgten weibliche Schmeicheltöne, die wieder mit allerlei Drohworten abwechselten; hernach ließ eine heisere Männerstimme sich vernehmen, die abscheuliche Schmähungen gegen Gott und Menschen ausstieß: dazwischen erklang die Weiberstimme, zornig, im höchsten Affekt und rief: »Pack' ihn, greif' ihn, mein Tierchen; so schön! an der Brust! Besser! Schüttle ihn! wirf ihn zu Boden, den niederträchtigen Mörder, zerreiße ihm den Rock!« – Hier sprang Anton vom dreibeinigen Kanapee auf, nahm seinen Reisestock zur Hand und wollte schon durch kräftigen Fußtritt jene Tür sprengen, welche ihn vom Schauplatz eines blutigen Verbrechens trennte, als ein freundliches: »Bravo, mein Hündchen!« ertönte, sodann harmonisches Geklapper von Tellern und Löffeln erklang, und – wie es schien – Hund, Dame, Mörder sich fröhlich und guter Dinge zum Speisen begaben.

»Heute hat er's vortrefflich gemacht; heute soll er ein großes Stück Fleisch haben«; diese versöhnenden Worte entquollen – zwischen jedem ein Löffel voll Suppe als Gedankenstrich – dem heiseren Munde des Mörders.

In Anton ging das Bewußtsein auf, abermals mit »Seinesgleichen« in Berührung zu geraten. Er wendete sich fragend an die Dienstboten des Hauses und erfuhr, daß sein Nachbar niemand anders sei als der auf Kunstreisen begriffene, berühmte Hund des Aubri de Montdidier, der die renommiertesten, auf Gastreisen umherreisenden Schauspieler in vielen Dingen übertreffe, vorzüglich aber in dem Triumphe, den seine Kunst über die verwöhnte, veränderungssüchtige Masse des schaulustigen Publikums davongetragen. Dieses, bei anderen Schauspielern auf häufigen Wechsel, neue Stücke, verschiedenartige Charaktere erpicht, habe für die Leistungen jenes Schafpudels eine so kindliche Pietät, daß es nicht müde werde, ihn stets nur in einer und derselben Rolle zu bewundern; daß es ihm zu Gefallen sogar den menschlichen Appendix von heiserem Mörder und edler Mutter sich gefallen lasse, weil es in letzterem die zweibeinigen Pflegeeltern des vierbeinigen Meisters verehre.

Kann es etwas Unbegreiflicheres auf Erden geben als dies sogenannte Publikum?

»Und dann«, – so fügte der gesprächige Hausknecht des Gasthofes »zum Elefanten« hinzu, – »dann müssen Sie auch bedenken, was für Krabalen der Hund auszustehen gehabt, bis er auf unserem Hoftheater spielen durfte! Das war schrecklich! Der Direktor hat sich mit Händen und Füßen dagegen gestemmt. Durchaus wollte er's dem armen Vieh nicht vergönnen. Aber die Schauspieler, die mit dem Hunde reisen, haben sich hinter die Madame J. gesteckt, die ist gut mit unserem Gnädigsten, und die hat es glücklich durchgesetzt. Nu hat der Hundefeind die Direktion niedergelegt! Als ob das ein Unglück wäre! Es wird ohne ihn auch gehen, und wir haben doch den Hund gehabt so gut wie jede andere Residenz, und wir brauchen uns nicht mehr zu schämen, daß wir zurückgeblieben sind!«

»Ist der abgegangene Direktor auch ein Schauspieler?« fragte Anton ziemlich gleichgültig.

»Gott behüte«, erwiderte der Hausknecht, »der ist ein Dichter, der – –« Und jetzt hörte unser Freund einen Namen, an dessen Klang sich für ihn der zwiefache Zauber jugendlicher Liebesträume und erster poetischer Eindrücke knüpfte; einen Namen, in dessen Gefolge eine Zahl von Liedern wach wurde, die nur im Gedächtnis schlummernd eines Wortes bedurften, um frisch aufzuleben; einen Namen, den Anton tausend und abertausendmal gedacht, ausgesprochen, seitdem er ihn kannte, ohne daran zu denken, daß er einem Lebenden gehöre, daß derjenige, der ihn trug, überhaupt jemals gleich anderen Menschen auf Erden gelebt habe! Wenn Anton auf dem Titelblatt eines gedruckten Buches diesen Namen gelesen, war ihm stets unmöglich gewesen, denselben in seiner Phantasie mit irgend einer Persönlichkeit in Verbindung zu bringen; dieser Geist, gerade weil derselbe das rein Menschliche in allen Tiefen und Höhen durchdrungen, schien ihm so wenig an eine körperliche Form gebunden, daß Antons Einbildungskraft sich kein Individuum dabei vorstellte. Ihm war es die Dichtkunst selbst, die zu ihm redete durch den lebensreichsten, deutschen Dichter. Und jetzt sollte er vernehmen, daß in dieser kleinen Stadt, wohin sein Wanderspiel ihn geworfen, dieser noch als ein Mensch unter gewöhnlichen Menschen lebende Poet die armseligen Plackereien und Qualen anderer Geschöpfe mit erdulde; daß er es nicht verschmähte habe, dem leichtsinnigen Treiben der Bretterwelt Führer zu sein! daß ein Hund ihn verdrängt habe; – Anton hätte den Hausknecht umarmen mögen!

»Steht es also um die Götter dieser Erde«, rief er aus, »sind auch sie dem Elend unterworfen, Staubgeborene zu heißen? Nun, dann wäre es ja Zeit, zu lächeln bei eigenem Jammer und von allem, was sich mit uns begibt, nur die lustige Seite herauszukehren. Das will ich von nun an, – aber sehen will ich ihn, bevor ich meinen Stab weitersetze!«

Und er sah ihn; sah ihn des anderen Morgens am Fenster stehen, es öffnen, einen Atemzug aus reiner Winterluft schöpfen, sein Auge zum hellen, kalten Neujahrshimmel hinaufheben! – und nachdem Anton dies gesehen, fragte er sich: was hätte ich noch im »Elefanten« zu schaffen?

Er verließ die Stadt.

Da er die nicht entfernte Grenze seines Vaterlandes überschritt und sich den üblichen und beliebten Zeremonien des Visitierens unterwerfen mußte, machte er durch sein Erscheinen den Grenzwächtern mancherlei zu denken. Sie konnten sich's nicht erklären, wie ein junger Bursche, den man seinem Äußeren nach für einen wohlkonditionierten Handwerksgesellen halten mußte, zu einem Pariser Legationspaß von so unumschränkter Dauer gekommen sei. Ein Kontrolleur richtete an ihn die halb neugierige, halb amtliche Frage, was er in benachbarter Residenz begonnen, was er dort gesucht habe. Und wie Anton erwiderte, er sei nur deshalb dort gewesen, um den Verfasser von »Wilhelm Meisters Lehrjahren« persönlich kennen zu lernen, weil er bei diesem ein neues Buch unter dem Titel: »Anton Hahns Wanderjahre« habe bestellen wollen, so sah man ihn zweifelnd an, ob er für einen Wahnsinnigen oder für den natürlichen Sohn des Herrn Astor in Amerika gelten solle, welcher letztere sich vorgesetzt habe, von den 145 Millionen Dollars seines Vaters ein von der Bank gefallenes Milliönchen auf dieser Fußreise in Taler zu übersetzen! Um sicher zu gehen, behandelte man ihn mit Auszeichnung; doch als weder Taler noch Dollars zum Vorschein kamen, schlug sich die Mehrzahl der Beobachter auf die Seite des Wahnsinns und gab das Kind der Liebe und der amerikanischen Millionen auf.

Um so viel leichter wanderte unser Held von dannen.

Er gelangte, einen Rückschritt machend, nach E., woselbst er unter jeder Bedingung ein Unterkommen suchen wollte. Nötigenfalls war er entschlossen, in ein dort liegendes Regiment als gemeiner Soldat einzutreten. Wohlbekannt mit den Aussichten, die einem solchen im Frieden blühen konnten, zog er die langweilige Einförmigkeit des Garnisondienstes endlich doch der Heimkehr nach Liebenau bei weitem vor. Er sah sich bereits, ein Liebling seines Hauptmanns, zum Unteroffizier befördert, und gefiel sich gar nicht übel, wenn er zur Parole ging und aus allen Fenstern die schönen Töchter des Landes nach ihm blickten. Mitten in diese bescheidenen Träume hinein sprengte freilich das längst verblichene, nun wieder auflebende Bild des Kunstreiters Antoine und rief ihm zu: »Unter die »Fußlatscher« »Fußlatscher« nennt man hier und da spottweise und im Gegensatz zur Kavallerie die Infanteristen. wirst du doch nicht gehen, Bruderherz? Wofür gäbe es Husaren, Dragoner und Kürassierreiter?«

Aber ihm war weder beschieden, des Reiters Säbel, des Ulanen Lanze, des Grenadiers Muskete, noch des Jägers Büchse zu ergreifen; den Violinbogen wollte sein Schicksal ihm noch einmal in die Hand legen.

Gleich nach seiner Ankunft machte er die Bekanntschaft eines alten Tanzlehrers, des Herrn Lemonier-Mîrabel de la Garde, de la Tour d'Auvergne. Als dieser sich ihm, umhüllt vom Rauchqualm des engen Gastzimmers, vorgestellt und genannt, selig, einer französisch redenden Zunge zu begegnen, erbat Anton sich die Vergünstigung, besagten Namen um vier Fünftel abzukürzen und ihn schlechtweg »Mirabel« nennen zu dürfen, was huldreichst bewilligt wurde.

Herr Mirabel hat seine Schüler und Schülerinnen stets im Dunkel darüber gelassen, ob er ein Auswanderer, den die Revolution vertrieben, oder ob er ein Deserteur jener Armee sei, welche die Revolution verfocht. Denn seine eigenen Erzählungen schwankten zwischen beiden Möglichkeiten hin und her. Ebenso unklar blieb die junge hüpfende Welt über das Lebensalter ihres Vortänzers, der von sechzig Jahren, – und diese mag er wirklich gezählt haben – wenn er bei guter Laune war, bis auf achtzig, neunzig, ja hundert stieg. Da gab er dann auch wohl nicht unbedenklich zu verstehen, es sei nicht wahr, daß dieser »erste Grenadier Frankreichs«, der tapfere Latour d'Auvergne, im Kampfe geblieben; es gäbe noch Leute, die das Gegenteil beweisen könnten, wenn sie – und er nicht Gründe hätten, darüber zu schweigen. Er war sonst ein lustiger, gutmütiger Mensch, der sein Menuett mit seiner Haltung strich, wobei er zierlich genug mit einer kleinen Geige aufspielte. Für große Städte war er längst aus der Mode; deshalb zog er seit Jahren im Lande umher, den Winter in Mittelstädten, den Sommer auf Dörfern zubringend, woselbst er die Töchter schwach besoldeter Beamten in der verführerischen Kunst unterwies, wohlhabenden Bürgersöhnen durch ihren Tanz in die Augen zu stechen. Als Anton ihn kennen lernte, befand er sich in peinlicher Verlegenheit wegen seines Orchesters, dem er bisher selbst und allein vorgestanden, was aber jetzt unmöglich wurde, weil die Gicht sich der alten Finger zu bemächtigen drohte.

»Fände ich nur einen Menschen von Bildung und anständigem Benehmen, der mich zu meinen Lektionen begleitete; denn mit einem Musikanten von gewöhnlichem Schlage ist mir nicht gedient. Französisch muß er sprechen, ein Ausländer muß er scheinen, sonst ist's um mich geschehen. In den Häusern, wo ich unterrichte, können sie nichts Deutsches brauchen, eben weil sie echte Deutsche sind.«

Anton ließ sich's nicht zweimal sagen. Er bot sich zum Geiger dar und versprach gebrochenes Deutsch. »Habe ich Kamele in Gang gebracht«, sagte er zu sich selbst, »warum sollte ich Herrn Mirabels Schülerinnen nicht tanzen machen?«

Der Akkord war bald geschlossen. Mirabel gab deutlich zu verstehen, daß er auf die Anmut seines jungen Musikers sichere Hoffnung eines reichen Zuwachses an tanzlustigen Damen gründe. Sie wurden einig über ein Dritteil des Lektionsgeldes, welches dem Orchester zufallen solle.

Die neue Position wäre von allen bisher behaupteten unbedenklich unseres Helden bedenklichste geworden, hätte nicht das Erlebnis mit Kästners Adelheid seine Eitelkeit so tief gedemütigt, ja, ihn fast mädchenscheu gemacht, so daß aus seinen Augen, wenn Mirabel mit Dutzenden von halb und ganz erwachsenen Mädchen sich um ihn und seine Violine umherschwenkte, kaum ein Blick der Erwiderung den unzähligen Blicken zuteil ward, die sich fragend nach dem interessanten Geiger wendeten. »Mögen sie doch hüpfen, lächeln, kichern, erröten – mich soll keine mehr für einen Narren halten!« sagte er.

Freilich wohl plagte ihn nicht selten die Langeweile, wenn er Tag für Tag dieselben Tänze streichen mußte. Er kannte Mirabels deutsches Wörterbuch schon in- und auswendig. »Mehr grâce, mes dames! ick bitten Ihn' pour l'amour de Dieu, Sie ßlag' um sick mit Ihr Arm' wie Windmühl! Kopf ßuruck, Brust aus, Magen einwendick, linke Hinterfuße nit nackßleppe; Sie geb' nit Acktung, Sie chagirnir' alte hundertjärick Mirabel, daß muß sterb' in Blüt von sein' Jahr!«

Das war der Text, den Anton melodramatisch zu begleiten hatte.

Unter den verschiedenen Gruppen hübscher und häßlicher, graziöser wie plumper Jungfräulein, die sich in verschiedenen Häusern zu verschiedenen Stunden und Tagen vereinigten, befand sich eine in dem Hause einer Majorswitwe, die sich vor allen übrigen auszeichnete, weil dort wohlerzogene, bescheidene, niedliche Kinder mit ihren Müttern, von diesen überwacht erschienen. Sie bildeten eine Quadrille von vier Paaren. Doch waren nur eben Mütter bei dem Unterricht zugegen. Das achte Mädchen, das schönste, reifste, bescheidenste von allen, hatte keine Mutter mehr, sie kam unbegleitet und allein. Sie wurde Hedwig genannt. Wer und was ihr Vater sei, blieb Anton unbekannt. Zu fragen, überhaupt von ihr zu sprechen, blieb ihm untersagt. Mit wem hätte er von diesem Mädchen sprechen sollen? Mit dem alten, prahlenden, lügenden Schwätzer, dem er diente? O nein, das wäre eine Entweihung gewesen. Er begnügte sich, sie schweben zu sehen, – denn sie schwebte, wo die anderen sprangen oder gingen. Er begnügte sich, bisweilen eine Silbe von ihren Lippen zu vernehmen, wenn sie wortkarg und sanft den lustigen, gesprächigen Mitschülerinnen eine Antwort erteilte. Er fühlte, was er noch keinem weiblichen Wesen gegenüber gefühlt: ein beglückendes Bewußtsein ihrer Nähe, ohne die geringste Beimischung irdischer, eitler oder kecker Wünsche. Die Entfernung von seiner im Schmutze des Lebens befleckten Persönlichkeit bis zu ihr, die ihm ein Vorbild kindlicher Unschuld und Reinheit erschien, dünkte ihm so weit, daß ein Gedanke an Annäherung nicht in ihm aufsteigen konnte. Wenn sie ihn ansah, was allerdings bisweilen geschehen mochte, schlug er beschämt die Augen zu Boden, – aber auch dann empfand er den beseligenden Zauber der ihrigen bis tief in die innerste Seele. Dann zitterten die Töne seines Instruments wunderbar, und er legte in die leichten, tausendmal gespielten Tanzweisen einen Ausdruck, wie noch kein Musikant getan, der je vor ihm aufgespielt hat.

Wenn man sich mit allen Kräften, Erwartungen, mit aller Sehnsucht auf eine bestimmte Stunde richtet, die wöchentlich nur einmal schlägt; wenn man in diese sechzig Minuten eine ganze Welt von Bewunderung, Verehrung, Begeisterung, Entzücken – und Entsagung zu drängen weiß; wenn man die übrigen Tage der Woche nur als Ergebnis leerer Stunden und Minuten betrachtet, die lediglich zu verrinnen haben, damit jene eine Stunde bald wieder erscheine – dann sollte jeder glauben, der etwas Ähnliches noch nicht durchgemacht, müsse dem ungeduldig Harrenden die Zeit fürchterlich lang werden! Merkwürdig, dem ist nicht so. Niemals verfliegen die Tage rascher als in solchem Zustande. Es ist, wie wenn auch die Zeit, vom Fieber der Patienten angesteckt, ihren Pulsschlag mit dem seinen verdoppele, um nur bald wieder zu der Stunde der Weihe zu gelangen.

Was Wunder, wenn drei Monde so geschwind für Anton wechselten, daß er, als sie dahin waren, nur zwölf Stunden durchlebt zu haben wähnte! Denn zwölf Stunden hatte Herr Mirabel den jungen Mädchen im Hause der Majorswitwe erteilt; zwölfmal hatte Anton seinen Bogen daselbst gefühlt; zwölfmal hat er Hedwig gesehen. Und nun schlägt die letzte dieser seligen Stunden, und drei Monate scheinen ein einziger Tag gewesen zu sein!

Sagt mir, was ihr wollt und könnt, ihr Vertreter des wirklichen genießenden Lebens, die höchste Wonne unseres Daseins liegt doch in dem, was wir lieben, weil es schön ist, weil wir es lieben müssen, ohne Hoffnung, ohne Wunsch des Besitzes. Sehnsucht ohne Absicht – das ist Liebe. Alles andere ist – etwas anderes.

Als die letzte Lektion beendet war, überreichten die jungen Damen ihrem alten, wunderlichen Lehrer ein außerordentliches Geschenk, das mit dem stipulierten, höchst mäßigen Stundengelde nichts gemein haben und dem dürftigen Manne eine unverhoffte Freude machen sollte. Nachdem sie sich dieser angenehmen Pflicht mit den regelrechten Knicksen, wie Mirabel ihnen dieselben scheltend beigebracht, zierlich entledigt, steckten sie alle acht die Köpfe zusammen, debattierten, näherten sich dann den sieben Müttern, flüsterten abermals, wobei man immer nur die Worte: »Nein, ich nicht; durchaus nicht!« vernahm, bis sich diese einzelnen Verneinungen plötzlich zu einer allgemeinen Bejahung gestalteten, welche laut und deutlich ertönte: »Ja, ja, Hedwig!«

Anton hatte schon die Tür in der Hand, sich zu empfehlen. Da holten ihn die Mädchen zurück. Sieben Hände faßten seine Arme, seinen Rock mit jugendlicher Lustigkeit, und sie geleiteten ihn, wie in einem erzwungenen Triumphe, zum Halbkreise der sieben Mütter, vor denen Hedwig, ein in Papier gehülltes Paketchen in zitternden Händen haltend, sehr verlegen und ängstlich stand.

»Wir wollen Ihnen danken – für Ihre Mühe, ... und wir wünschen, daß diese Uhr Ihnen unterhaltendere Stunden zeigen möge als unsere Tanzstunden Ihnen gegeben.«

Mit dieser furchtbar gestotterten Anrede übergab sie ihm das Päckchen und zog sich eiligst zurück.

Anton vermochte gar nichts zu erwidern, verbeugte sich stumm, verließ das Haus, welches jemals wieder zu betreten er keine Aussicht hatte, rannte nach seinem Stübchen, schob die Uhr gleichgültig fort und prüfte nur die in ein zweites Papier gehüllte seidene Schnur, die, kunstreich geschlungen, ohne Zweifel von den zarten Fingern einer dieser Schülerinnen herrührte.

»Wenn ich wüßte, ob Hedwig – –?«

Er ergriff noch einmal das Blatt. An der äußersten Ecke desselben, kaum lesbar, in kleinsten Schriftzügen, stand ein H ...

Anton küßte das Blatt, legte es in seine Brieftasche, hing die Schnur um den Hals, steckte die Uhr, daran befestigt, in die Westentasche, ging einigemal heftig auf und ab und sagte dann: »Jetzt ist es Zeit aufzubrechen und die Stadt zu verlassen.«


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